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Donnerstag, 8. März 2018

Katastrophe Guérot

Nur wenige außerhalb Berliner und Brüsseler Diskussionszirkel dürften bisher von Ulrike Guérot gehört haben. Die Politikwissenschaftlerin leitet das European Democracy Lab (EDL), eine so genannte Denkfabrik mit Sitz am Festungsgraben 1 in Berlin. Mit dem EDL verfolgt Guérot ein Ziel, das sie auch in etlichen Karrierestationen zuvor formuliert hatte: die Abschaffung der europäischen Nationalstaaten und deren Ersetzung durch einen europäischen Gesamtstaat.
Im ersten Moment wirkt die Plattform überraschend, auf der Guérot vor kurzem ihre Forderung nach dem europäischen Einheitsstaat einer größeren Öffentlichkeit vorstellte: der Podcast der Deutschen Bank.
In der Reihe „Thought of the Week“ hielt sie dort einen Vortrag, in dem sie die von ihr geforderte Nationalstaatsüberwindung näher ausführt. Nun gibt es bekanntlich weder ein europäisches Staatsvolk noch ein europäisches Bürgergefühl. Das sieht die Thinktank-Leiterin als korrigierbaren Fehler. Spanier, Franzosen, Polen, Belgier, Deutsche und Italiener und all die anderen Nationalstaatsbewohner, so Guérot, sollten durch die Gründung einer europäischen Arbeitslosenversicherung zu einer supranationalen Gesellschaft umgeschmolzen werden. Genau so habe das schließlich auch in Deutschland funktioniert: dort hätte die deutsche Rentenversicherung aus Hessen, Pfälzern und Sachsen deutsche Staatsbürger gemacht. Wem das womöglich unterkomplex vorkommt, der sollte erst einmal den Originalwortlaut Guérots studieren:
„Der Nationalstaat muss in Europa abgeschafft werden, denn wir wollen eine europäische Demokratie. Wir müssen verstehen, dass die Nation kein Identitätsträger ist. Ich zum Beispiel komme aus dem Rheinland. Vor 150 Jahren waren wir noch Sachsen, Hessen, Pfälzer und so weiter. Wir wurden über die institutionalisierte Solidarität, die allgemeine deutsche Krankenversicherung, zu den Deutschen gemacht.
Diesen Prozess sollten wir für Europa nutzen und uns zu Europäern machen lassen, zum Beispiel indem wir eine europäische Arbeitslosenversicherung schaffen. Dann haben wir eine europäische Nationenbildung, die auf gleichem Recht beruht.
Das ist die Zukunft Europas.“
Schon auf rein faktischer Ebene ist es erstaunlich, wie viel Verdrehungen – konkret, alternative Geschichtsfakten – sich in einem kurzen Referat unterbringen lassen. Selbst in jedem besseren Schullehrbuch lässt sich nachlesen, dass die Sozialgesetzgebung unter Bismarck nicht der Nationenbildung vorausging, sondern ihr folgte: 1883, zwölf Jahre nach der Reichseinigung, entstand die allgemeine Krankenversicherung, 1884, die Unfall- und 1890 die deutsche Rentenversicherung. Nicht nur die Abfolge verhielt sich genau umgekehrt, sondern vor allem die Kausalität: Die Deutschen waren bereit, in reichsweite Transfersysteme einzuzahlen, weil seit 1871 ein Nationalgefühl und eine gesamtstaatliche Ordnung entstanden waren. Und natürlich, weil sie schon über Jahrhunderte hinweg eine sprachliche und kulturelle Gemeinsamkeit besaßen, die bis zur Krönung des ersten deutschen Kaisers im Jahr 962 zurückreichte. Abgesehen davon, dass es barer Unsinn ist, so zu tun, als hätten sich Hessen, Sachsen, Pfälzer und andere Landsleute vor 1871 nicht auch gleichzeitig als Deutsche gefühlt.
Jenseits des faktischen Unsinns lohnt es sich, auch die Sprache beziehungsweise Nichtsprache ihres Traktats zu betrachten. Denn sie ist exemplarisch.
„Der Nationalstaat muss in Europa abgeschafft werden, denn wir wollen eine europäische Demokratie.”
Wer hat beschlossen, dass wir müssen? Wer ist ‚wir’? Wieso sollen Nationalstaaten und Demokratie einen Gegensatz bilden? Will Guérot unterstellen, Demokratie könnte es nur transnational geben?
„Wir müssen verstehen, dass die Nation kein Identitätsträger ist“.
Dieses kleine Detail dürfte die übergroße Mehrheit sämtlicher europäischer Staatsvölker anders sehen.
„Diesen Prozess sollten wir für Europa nutzen und uns zu Europäern machen lassen, zum Beispiel indem wir eine europäische Arbeitslosenversicherung schaffen. Dann haben wir eine europäische Nationenbildung, die auf gleichem Recht beruht.
Das ist die Zukunft Europas.“
Auch hier: Es gibt noch nicht einmal die Andeutung einer Nuance eines Arguments, warum sich ein junger arbeitsloser Franzose als transnationaler europäischer Staatsbürger fühlen sollte, sobald sein Arbeitslosengeld über einen Umverteilmechanismus fließt, der sich größtenteils mit deutschem Geld speist. Selbstverständlich gehört es auch zu ihrer Rhetorik, Europa und EU begründungslos in eins zu setzen. Begründungslos ist überhaupt alles: „Wir“, „wir wollen“, „wir sollten“ – an keiner Stelle entfaltet Guériot neben ihrer wirren Fake History auch nur einen einzigen diskursiven Gedankengang. Sie dekretiert. Nie wird klar, wer überhaupt Absender ihrer Behauptungen ist. Und wer Empfänger.
Der Ton kommt dem aufmerksamen Zuhörer sehr bekannt vor: es ist bis ins Detail der Sound Angela Merkels, die die Methode perfektioniert hat, mit ihrer öffentlichen Rede, die wie eine zähe Lava durch die Diskurslandschaft fließt, alle Debatten zu ersticken und zu begraben. Auch bei Merkel spielt ein stets im Unkonkreten schwebendes Wir die zentrale Rolle („Wir schaffen das“), zusammen mit der argumentationslosen Behauptung eines ohnehin unbeeinflussbaren Veränderungsdeterminismus („wir haben es nicht in der Hand, wie viele zu uns kommen“), dem Willen, Kultur, Tradition und Rechtsbegriffe als angeblich unzeitgemäß einfach beiseite zu wischen („Volk ist jeder, der in diesem Land lebt“), und der eisernen Überzeugung, Globalismus sei der unhintergehbare Endzweck jeder vernünftigen Politik.



Die Frage, wer von den eigenen Bürgern die vermeintlich unabweisbaren Veränderungen überhaupt will – Umprägung des Landes durch Massenmigration, Abschaffung des Nationalstaates – stellen weder Merkel wie Guérot auch nur pro forma. Um es in ihrer Sprache zu sagen: Die Frage stellt sich nicht.

Wer tatsächlich glaubt, ein Geldverteilmechanismus sei der Humus, aus dem ein Nationalgefühl sprießen könnte, dem fehlt in so elementarer Weise der Zugang zu jedem kulturellen und gesellschaftlichen Vokabular, dass er das Defizit wahrscheinlich selbst gar nicht spürt.
Auch in den Videos des EDL redet die Politikwissenschaftlerin in einem leiernden Sozialingenieursjargon und spricht von „Stellschrauben“; an keiner Stelle blitzt so etwas wie ein komplexer Gedanke oder gar sprachliche Eleganz auf.

Trotz ihrer forcierten intellektuellen Glanzlosigkeit zählt Guérot allerdings zu den Einflussreichen in Deutschland und darüber hinaus, zu den Stichwortgebern aller möglicher Debatten.
Von 1995 bis 1998 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin des ehemaligen Präsidenten der Europäischen Kommission Jaques Delors, weitere Stationen: John Hopkins University Washington, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, Viadrina, Bucerius Law School, Ritter des Ordre national du Mérite, Begleiter Joachim Gaucks bei dessen Frankreich-Besuch 2013, Alfred-Grosser-Gastprofessur an der Universität Frankfurt.
Und eben Denkerin der Woche bei der Deutschen Bank.
Wer tatsächlich so denkt, wer gewachsene Räume glaubt kulturell entleeren und neu befüllen zu können, wer meint, ein gesamteuropäischer Staat ließe sich notfalls auch gegen den Willen der Bürger über Transferkonstruktionen und Stellschrauben erzwingen, wer also die Absurdität dieser Annahmen gar nicht spürt, dem fällt das Planen der Zukunft vermutlich ganz leicht. Guérot, Merkel und andere Großraumsozialklempner – und das ist der entscheidende Punkt – beziehen ihre erhebliche Handlungsmacht aus ihrer Allianz mit Managern von Banken und anderen Großunternehmern, mit Verantwortlichen transnationaler Wirtschaftseinheiten, die den Nationalstaat als einfach zu eng und hinderlich ansehen für das völlig freie Flottieren von Daten, Kapital und Waren, und die das Gewachsene mit den gleichen Augen betrachten, mit denen die Städteplaner der fünfziger und sechziger Jahre, die von der Idee der autogerechten Stadt beseelt waren, die engen gewundenen Sträßchen und Gäßchen deutscher Innenstädte sahen.
Die Allianz von kulturtauben Politikern und Denkfabrikanten, ortlosen Weltmanagern und regressiven Linken, die die Abschaffung des Nationalstaats ebenso als Fortschritt bejubeln wie die Masseneinwanderung – diese mächtige Allianz hätte vor zwanzig Jahren noch keiner für möglich gehalten. Um mit Merkel zu sprechen: Jetzt ist sie da.
Und jetzt setzt sie ihre Agenda durch.   Wendt

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