Nur wenige außerhalb Berliner und Brüsseler
Diskussionszirkel dürften bisher von Ulrike Guérot gehört haben. Die
Politikwissenschaftlerin leitet das European Democracy Lab (EDL),
eine so genannte Denkfabrik mit Sitz am Festungsgraben 1 in Berlin. Mit
dem EDL verfolgt Guérot ein Ziel, das sie auch in etlichen
Karrierestationen zuvor formuliert hatte: die Abschaffung der
europäischen Nationalstaaten und deren Ersetzung durch einen
europäischen Gesamtstaat.
Im
ersten Moment wirkt die Plattform überraschend, auf der Guérot vor
kurzem ihre Forderung nach dem europäischen Einheitsstaat einer größeren
Öffentlichkeit vorstellte: der Podcast der Deutschen Bank.
In der Reihe „Thought of the Week“ hielt sie dort einen Vortrag,
in dem sie die von ihr geforderte Nationalstaatsüberwindung näher
ausführt. Nun gibt es bekanntlich weder ein europäisches Staatsvolk noch
ein europäisches Bürgergefühl. Das sieht die Thinktank-Leiterin als
korrigierbaren Fehler. Spanier, Franzosen, Polen, Belgier, Deutsche und
Italiener und all die anderen Nationalstaatsbewohner, so Guérot, sollten
durch die Gründung einer europäischen Arbeitslosenversicherung zu einer
supranationalen Gesellschaft umgeschmolzen werden. Genau so habe das
schließlich auch in Deutschland funktioniert: dort hätte die deutsche
Rentenversicherung aus Hessen, Pfälzern und Sachsen deutsche
Staatsbürger gemacht. Wem das womöglich unterkomplex vorkommt, der
sollte erst einmal den Originalwortlaut Guérots studieren:
„Der
Nationalstaat muss in Europa abgeschafft werden, denn wir wollen eine
europäische Demokratie. Wir müssen verstehen, dass die Nation kein
Identitätsträger ist. Ich zum Beispiel komme aus dem Rheinland. Vor 150
Jahren waren wir noch Sachsen, Hessen, Pfälzer und so weiter. Wir wurden
über die institutionalisierte Solidarität, die allgemeine deutsche
Krankenversicherung, zu den Deutschen gemacht.
Diesen
Prozess sollten wir für Europa nutzen und uns zu Europäern machen
lassen, zum Beispiel indem wir eine europäische Arbeitslosenversicherung
schaffen. Dann haben wir eine europäische Nationenbildung, die auf
gleichem Recht beruht.
Das ist die Zukunft Europas.“
Schon
auf rein faktischer Ebene ist es erstaunlich, wie viel Verdrehungen –
konkret, alternative Geschichtsfakten – sich in einem kurzen Referat
unterbringen lassen. Selbst in jedem besseren Schullehrbuch lässt sich
nachlesen, dass die Sozialgesetzgebung unter Bismarck nicht der
Nationenbildung vorausging, sondern ihr folgte: 1883, zwölf Jahre nach
der Reichseinigung, entstand die allgemeine Krankenversicherung, 1884,
die Unfall- und 1890 die deutsche Rentenversicherung. Nicht nur die
Abfolge verhielt sich genau umgekehrt, sondern vor allem die Kausalität:
Die Deutschen waren bereit, in reichsweite Transfersysteme einzuzahlen,
weil seit 1871 ein Nationalgefühl und eine gesamtstaatliche Ordnung
entstanden waren. Und natürlich, weil sie schon über Jahrhunderte hinweg
eine sprachliche und kulturelle Gemeinsamkeit besaßen, die bis zur
Krönung des ersten deutschen Kaisers im Jahr 962 zurückreichte.
Abgesehen davon, dass es barer Unsinn ist, so zu tun, als hätten sich
Hessen, Sachsen, Pfälzer und andere Landsleute vor 1871 nicht auch
gleichzeitig als Deutsche gefühlt.
Jenseits des faktischen Unsinns
lohnt es sich, auch die Sprache beziehungsweise Nichtsprache ihres
Traktats zu betrachten. Denn sie ist exemplarisch.
„Der Nationalstaat muss in Europa abgeschafft werden, denn wir wollen eine europäische Demokratie.”
Wer
hat beschlossen, dass wir müssen? Wer ist ‚wir’? Wieso sollen
Nationalstaaten und Demokratie einen Gegensatz bilden? Will Guérot
unterstellen, Demokratie könnte es nur transnational geben?
„Wir müssen verstehen, dass die Nation kein Identitätsträger ist“.
Dieses kleine Detail dürfte die übergroße Mehrheit sämtlicher europäischer Staatsvölker anders sehen.
„Diesen
Prozess sollten wir für Europa nutzen und uns zu Europäern machen
lassen, zum Beispiel indem wir eine europäische Arbeitslosenversicherung
schaffen. Dann haben wir eine europäische Nationenbildung, die auf
gleichem Recht beruht.
Das ist die Zukunft Europas.“
Auch
hier: Es gibt noch nicht einmal die Andeutung einer Nuance eines
Arguments, warum sich ein junger arbeitsloser Franzose als
transnationaler europäischer Staatsbürger fühlen sollte, sobald sein
Arbeitslosengeld über einen Umverteilmechanismus fließt, der sich
größtenteils mit deutschem Geld speist. Selbstverständlich gehört es
auch zu ihrer Rhetorik, Europa und EU begründungslos in eins zu setzen.
Begründungslos ist überhaupt alles: „Wir“, „wir wollen“, „wir sollten“ –
an keiner Stelle entfaltet Guériot neben ihrer wirren Fake History auch
nur einen einzigen diskursiven Gedankengang. Sie dekretiert. Nie wird
klar, wer überhaupt Absender ihrer Behauptungen ist. Und wer Empfänger.
Der
Ton kommt dem aufmerksamen Zuhörer sehr bekannt vor: es ist bis ins
Detail der Sound Angela Merkels, die die Methode perfektioniert hat, mit
ihrer öffentlichen Rede, die wie eine zähe Lava durch die
Diskurslandschaft fließt, alle Debatten zu ersticken und zu begraben.
Auch bei Merkel spielt ein stets im Unkonkreten schwebendes Wir die
zentrale Rolle („Wir schaffen das“), zusammen mit der argumentationslosen Behauptung eines ohnehin unbeeinflussbaren Veränderungsdeterminismus („wir haben es nicht in der Hand, wie viele zu uns kommen“), dem Willen, Kultur, Tradition und Rechtsbegriffe als angeblich unzeitgemäß einfach beiseite zu wischen („Volk ist jeder, der in diesem Land lebt“), und der eisernen Überzeugung, Globalismus sei der unhintergehbare Endzweck jeder vernünftigen Politik.
Die Frage, wer von den eigenen Bürgern die vermeintlich unabweisbaren
Veränderungen überhaupt will – Umprägung des Landes durch
Massenmigration, Abschaffung des Nationalstaates – stellen weder Merkel
wie Guérot auch nur pro forma. Um es in ihrer Sprache zu sagen: Die
Frage stellt sich nicht.
Wer tatsächlich glaubt, ein
Geldverteilmechanismus sei der Humus, aus dem ein Nationalgefühl
sprießen könnte, dem fehlt in so elementarer Weise der Zugang zu jedem
kulturellen und gesellschaftlichen Vokabular, dass er das Defizit
wahrscheinlich selbst gar nicht spürt.
Auch in den Videos des EDL redet die Politikwissenschaftlerin in einem leiernden Sozialingenieursjargon und spricht von „Stellschrauben“; an keiner Stelle blitzt so etwas wie ein komplexer Gedanke oder gar sprachliche Eleganz auf.
Trotz
ihrer forcierten intellektuellen Glanzlosigkeit zählt Guérot allerdings
zu den Einflussreichen in Deutschland und darüber hinaus, zu den
Stichwortgebern aller möglicher Debatten.
Von 1995 bis 1998 war
sie wissenschaftliche Mitarbeiterin des ehemaligen Präsidenten der
Europäischen Kommission Jaques Delors, weitere Stationen: John Hopkins
University Washington, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik,
Viadrina, Bucerius Law School, Ritter des Ordre national du Mérite,
Begleiter Joachim Gaucks bei dessen Frankreich-Besuch 2013,
Alfred-Grosser-Gastprofessur an der Universität Frankfurt.
Und eben Denkerin der Woche bei der Deutschen Bank.
Wer
tatsächlich so denkt, wer gewachsene Räume glaubt kulturell entleeren
und neu befüllen zu können, wer meint, ein gesamteuropäischer Staat
ließe sich notfalls auch gegen den Willen der Bürger über
Transferkonstruktionen und Stellschrauben erzwingen, wer also die
Absurdität dieser Annahmen gar nicht spürt, dem fällt das Planen der
Zukunft vermutlich ganz leicht. Guérot, Merkel und andere
Großraumsozialklempner – und das ist der entscheidende Punkt – beziehen
ihre erhebliche Handlungsmacht aus ihrer Allianz mit Managern von Banken
und anderen Großunternehmern, mit Verantwortlichen transnationaler
Wirtschaftseinheiten, die den Nationalstaat als einfach zu eng und
hinderlich ansehen für das völlig freie Flottieren von Daten, Kapital
und Waren, und die das Gewachsene mit den gleichen Augen betrachten, mit
denen die Städteplaner der fünfziger und sechziger Jahre, die von der
Idee der autogerechten Stadt beseelt waren, die engen gewundenen
Sträßchen und Gäßchen deutscher Innenstädte sahen.
Die Allianz von
kulturtauben Politikern und Denkfabrikanten, ortlosen Weltmanagern und
regressiven Linken, die die Abschaffung des Nationalstaats ebenso als
Fortschritt bejubeln wie die Masseneinwanderung – diese mächtige Allianz
hätte vor zwanzig Jahren noch keiner für möglich gehalten. Um mit
Merkel zu sprechen: Jetzt ist sie da.
Und jetzt setzt sie ihre Agenda durch. Wendt
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.