Folgt man einer vor kurzem veröffentlichten und mit einigem medialem
Widerhall bedachten Großstudie, die in der englischen
Medizin-Zeitschrift The Lancet veröffentlicht wurde, dann sind
Winzer, Brauer und Schnapsbrenner wenn nicht gleich als Feinde der
Menschheit, so doch immerhin der Volksgesundheit einzustufen. Jeder
Tropfen Alkohol sei schädlich, lautet das Fazit der Studie. "Selbst das
eine Bierchen ist schon ungesund", überschreibt die Zeit ihren Beitrag
und warnt: "Eine Studie, die Daten von 28 Millionen Menschen nutzt,
zeigt: Alkohol schadet ab dem ersten Tropfen. Und ist weltweit für noch
mehr Tote verantwortlich als gedacht." Spiegel online sekundiert: "Auch die geringste Menge Alkohol ist problematisch. Um der Gesundheit nicht zu schaden, sollte man darauf verzichten."
Hier
muss einiges entwirrt werden. Zunächst einmal ist es ein gewaltiger
Unfug, beispielsweise den holden Rebensaft auf 10 bis 14 Prozent seiner
Bestandteile zu reduzieren, so wichtig diese 10 bis 14 Prozent als
Geschmacksträger und Daseinsaufheller auch sein mögen. Sodann stellt
sich bei Betrachtung der Studie sofort heraus, dass es sich um eine
sogenannte Meta-Studie handelt, also um eine Auswertung vieler anderer
Studien, wobei man in solchen Fällen nie genau weiß, welche Studien eben
nicht einbezogen wurden. Schaut man noch näher hin – Spiegel online immerhin hat es getan –, werden einem folgende Zahlen präsentiert:
In
einem Jahr, in dem 100.000 Menschen zwischen 15 und 95 Jahren gar
keinen Alkohol trinken, erkranken 914 von ihnen oder ziehen sich eine
Verletzung zu, die mit Alkohol in Zusammenhang steht. Zu den Krankheiten
beziehungsweise Verletzungen, die hier mit Alkohol in Zusammenhang
gebracht werden, gehören unter anderem Leberzirrhose, Leberkrebs,
Diabetes, Epilepsie, Herzinfarkt, Bluthochdruck, Darmkrebs, Tuberkulose,
Selbstverletzungen sowie Verkehrsunfälle. Da viele dieser Plagen und
Zwischenfälle nicht nur vom Alkoholkonsum abhängen, fällt die Zahl auch
bei Abstinenzlern nicht auf null.
In der identischen
Vergleichsgruppe, deren Angehörige ein alkoholisches Getränk pro Tag
konsumieren, erkranken 918 von ihnen oder ziehen sich eine Verletzung
zu. In der Vergleichsgruppe mit zwei alkoholischen Getränken pro Tag
steigt die Zahl auf 977, bei fünf Gläsern pro Tag auf 1252.
Die
letztgenannte Gruppe ist inzwischen die meine (früher lag ich viel, viel
weiter vorn), das heißt, ich gehöre zu einer Mehrheit von 98.748
gegenüber 1.252 Personen. Man bedenke erschauernd: In dieser
fidel-fröhlichen hunderttausendköpfigen Fünf-Gläser-am-Tag-Gruppe
erkranken kolossale 328 Personen mehr als bei den Abstinenzlern. Das
sind 0,328 Prozent. In der üblichen Quantifikation der Nebenwirkungen
eines Medikaments auf dem Beipackzettel fiele diese Zahl unter
"gelegentlich" bis "selten".
Ich weiß nicht, ob sich der
Zentralrat der Muslime schon zu der Studie geäußert hat. Was mich
betrifft – Sie sind ja zu Gast in meinem Eckladen, und hier sind der
Wein sowie das gelegentliche selbstbezüglich-eitle Gequatsche des
Inhabers ein fester Bestandteil des Sortiments – kann ich Entwarnung
geben. Ich trinke seit meinem sechzehnten Lebensjahr nahezu täglich
"Alkohol", die ersten Jahre durchaus auf leistungssportlichem Niveau,
seit dem Fall der Mauer, mit welcher mich die Kommunisten von den
preiswürdigen Rebensäften wegbetoniert hatten, nicht mehr aus dem
Bedürfnis nach Betäubung, sondern nurmehr noch aus Genussgründen, also
durchaus wählerisch – aber stets beharrlich. Deshalb – und keineswegs
trotzdem – komme ich mit meinen 56 Lenzen auf dem Rennrad immer noch
vergleichsweise zügig über jeden Alpenpass, schreibe pro Jahr ein Buch
(auch wenn jenes, welches ich derzeit parallel zu dem periodischen zu
Papier bringe, sich etwas hinzieht), bewältige ein gewisses
Lektürepensum und erledige meine Ernährer- und Vaterpflichten leidlich.
Gewiss, es fehlt die Vergleichsstudie, aber wenn ich in meinem Herzen
die Wahrscheinlichkeiten abwäge, ob ich als Abstinenzler eher ein Genie
oder wahnsinnig geworden wäre, bin ich mir über die Antwort ziemlich
sicher. –
Während der Westen dem Trunk immer gewogen war und
kollektiv gewaltige Mengen konsumiert(e), ist die islamische Welt
bekanntlich durch Allahs im Koran festgehaltenes Wort zur Abstinenz
angehalten. Wahrscheinlich beruht das Weinverbot darauf, dass die frühen
Gefolgsleute des Propheten Muhammad öfter beschwipst zum Gebet
erschienen sind, was ihnen niemand verdenken kann und auch Goethe nicht
verdachte:
Ob der Koran von Ewigkeit sey?
Darnach frag' ich nicht!
Ob der Koran geschaffen sey?
Das weiß ich nicht!
Daß er das Buch der Bücher sey,
Glaub' ich aus Mosleminen-Pflicht.
Daß aber der Wein von Ewigkeit sey,
Daran zweifl' ich nicht;
Oder daß er von den Engeln geschaffen sey,
Ist vielleicht auch kein Gedicht.
Der Trinkende, wie es auch immer sey,
Blickt Gott frischer ins Angesicht.
Na, vielleicht wird's ja eines Tages. Nochmals der "Divan":
"Horch! Wir andern Musulmanen,
Nüchtern sollen wir gebückt seyn,
Er, in seinem heilgen Eifer,
Möchte gern allein verrückt seyn!"
Anderthalb
Jahrtausende Abstinenzgebot haben die muslimische Welt geistig bzw.
intellektuell nicht wirklich vorangebracht, aber wie steht es um die
Gesundheit und die sogenannte Lebenserwartung – tatsächlich handelt es
sich dabei ja um Todeserwartung – in dieser Weltgegend im Vergleich zu
den Gefilden der Trinker? Auch hier finden sich wenige Argumente für
kollektive Trockenheit inmitten der klimatischen. Die
Weintrinkernationen Italien (Platz 15), Frankreich (20) und Spanien (22)
mit 82,2, 81,9 und 81,7 Jahren, aber auch die
Pro-Kopf-Verbrauchs-Champions wie Deutschland (Platz 33, 80,7 Jahre) und
Dänemark (Platz 46, 79,4 Jahre) stehen im Ranking der durchnittlichen Lebenserwartung deutlich vor:
den Emiraten (Platz 70, 77,5 Jahre)
Marokko (Platz 78, 76,9 Jahre)
Oman (Platz 101,75,5 Jahre)
und Saudi-Arabien (Platz 106, 75,3 Jahre).
Ich
habe extra die reicheren muslimischen Länder ausgesucht. (Diejenigen,
denen es jetzt in den Händen juckt, mir zu schreiben, dass sich die
Lebensdauer doch nicht monokausal erklären lässt: Bezähmen Sie sich
bitte.)
Ich möchte weder in einem Land leben, dessen
Kulturlandschaft nicht da und dort vom Weinbau geprägt ist, noch kann
ich mir eine warme Mahlzeit ohne Wein vorstellen. Der Kummer, ach was:
der Horror, der mich befiele, wenn auf einer gedeckten Tafel die
Weingläser fehlten, würde meinem Wohlbefinden mit Sicherheit mehr
schaden, als ein Schluck – in meiner Maßeinheit: eine Flasche – zuviel
es je täten. Mit Menschen bei Tische zu sitzen, die Wasser oder Saft
trinken, deprimiert mich zutiefst, und ich suche solche Gesellschaft mit
allen Mitteln zu meiden. Das ist auch einer der Gründe, warum ich
bislang mit muslimischen Bekannten, von einer Ausnahme abgesehen, nicht
wirklich warm geworden bin, obwohl die Toleranten unter ihnen immerhin
kein Problem damit hatten, wenn ich getrunken habe, während sie den
Weisungen Allahs gehorchten; die wirklich Knallfrommen verlassen ja dann
den Tisch. (Im Übrigen gilt das auch für orthodoxe Juden, Mormonen
etc.) – –
Kein Dichter hat je die Enthaltsamkeit besungen. Oden
auf den Wein indes gibt es in Fülle. Bemerkenswerterweise stammen zwei
der leidenschaftlichsten Bacchanten aus dem Orient (ich habe beide hier
desöfteren zitiert).
"Wenn ihr mich finden wollt am Tag des Jüngsten Gerichts,
sucht mich im Staub vor der Tür der Schenke."
Also dichtete der unfromme persische Mathematiker Omar Chajjam (gest. 1131).
"Nur der Wein kann uns begaben
mit der Weisheit Gut."
Also echote sein Landsmann Hafis mehr als 200 Jahre später.
Dass
dergleichen Zeugnisse sich im Abendland verbreiteten und unteren
anderen den großen Weintrinker Goethe erreichten, der nach heutigen
Maßstäben mit seinen ein bis zwei Flaschen pro Tag heute als ein
schwerer Alkoholiker durchginge (auch wenn es leichtere Weine waren als
heute), verdankt sich bekanntlich Johannes Gutenberg. Der Vater des
Buchdrucks war selbst ein fröhlicher Zecher, sofern er die jährlichen
2000 Liter Wein, die ihm der Erzbischof von Mainz seit seiner Erhebung
zum Hofedelmann anno 1465 gewährte, nicht im Keller verdorren ließ.
Seine berühmte Erfindung soll er angeblich von der Weinpresse abgeschaut
haben.
Die Vermählung von Literatur und Rauschtrank war von
Anfang an vollzogen; die Ehe wurde nur zum Teil glücklich, aber enorm
beständig. Unter den berühmten Trinkern der Neuzeit befanden sich
auffallend viele Künstler und speziell Schriftsteller. Von den ersten
sieben amerikanischen Literaturnobelpreisträgern etwa waren fünf schwere
Säufer, wenn nicht veritable Alkoholiker: Faulkner, O'Neill, Steinbeck,
Sinclair Lewis und Hemingway. Ihr Kollege Jack London soff ohne
Nobelpreis, dafür schrieb er das autobiografische Standardwerk zum
Thema: "König Alkohol". Mit fünf war der kleine Jack zum ersten Mal
blau, als er dem Vater das Bier aufs Feld bringen sollte und selbst
davon naschte. Der Farmer fand seinen Sohn selig in einer Ackerfurche
schlummernd und hätte ihn um ein Haar untergepflügt. Später, als
16jähriger "König der Austernräuber" segelte er im Vollrausch auf seinem
eigenen Boot und fühlte sich noch großartiger als Leonardo di Caprio am
Bug der "Titanic", denn der Arme war ja nüchtern.
Kaum einer der
großen trinkenden Autoren wurde alt. London starb mit 40 Jahren wie auch
Edgar Allan Poe. Charles Baudelaire und E. T. A. Hoffmann gaben mit 46
Jahren die Flasche ab, Verlaine wurde 51. "Um die Last der Zeit nicht zu
fühlen, die eure Schultern zerbricht und euch zu Boden drückt, müsst
ihr euch ohne Unterlass berauschen", empfahl Baudelaire. Der frühe Tod
scheint die Gesundheitskommissare zu betätigen, doch rechtfertigt das
Werk nicht automatisch das Leben?
Die große Ausnahme war Goethe.
Obwohl auch ein regelmäßiger Zecher, der sich den Rebstoff sogar zur Kur
nachschicken ließ, überschritt er locker die 80. "Alle tranken tapfer,
aber der alte Goethe am tapfersten", notierte der Berliner Archäologe
Wilhelm Zahn nach einem Besuch im Hause des Dichters anno 1827. "Ihm
allein konnte der Wein nichts anhaben. Wie ein siegreicher Feldherr
überblickte er das Schlachtfeld und die niedergetrunkenen Reihen."
Offenbar besaß der Weimarer Weltweise die sokratische Gabe, sich
nüchtern zu trinken. Im selben Jahr brachte man Ludwig van Beethoven
eine letzte Sendung von Weinen ins Sterbezimmer, worauf er murmelte:
"Schade! Schade! – Zu spät!" Der Komponist starb an "dekompensierter
Leberzirrhose und chronischer Pankreatitis durch jahrzehntelangen
Alkoholgenuss", notierte vor ein paar Jahren das Ärzteblatt –
nach heutigen Kriterien als Trunkenbold, nach damaligen als ein Mann,
der eben täglich Wein und Bier zu sich nahm. Im finalen Stadium seiner
Trinkerkarriere schrieb Beethoven die späten Streichquartette, die
"Diabelli-Variationen" und die Neunte Sinfonie, deren finaler Radau
immerhin darauf hindeutet. Nie hat ein Abstinenzler vergleichbare Höhen
erklommen. Fairerweise muss man hinzufügen: auch kein anderer Trinker.
Der
zweitberühmteste Schluckspecht in der Geschichte der Tonkunst war der
Russe Modest Mussorgski. Der trieb es freilich exzessiver als Beethoven
und beendete schon mit 42 Jahren seine erratische und genialische
Existenz, eine beachtliche Reihe von unvollendeten Werken hinterlassend.
Einem Trinker gelang es, dass eine Rebsorte nach ihm benannt wurde:
Justinus Kerner. Der Dichter und Arzt verzehrte täglich mindestens zwei
Liter Wein. Berechnungen seines Sohnes zufolge hat er bis zu seinem Tod –
er wurde 75 Jahre alt – etwa 21 000 Liter Wein gepichelt. Als Arzt
schrieb Kerner "über die Wirkungen des Rieslings auf das Nervensystem"
und warnte vor übermäßigem Weingenuss – also vermutlich ab drei Liter
pro Tag. An Otto von Bismarcks Tafel wiederum galten ein halber Truthahn
und eine halbe Flasche Kognak als normal. Mit dieser Diät wurde er 83
Jahre.
Der alte Ernst Jünger, der in seinem hundertsten Lebensjahr
so elanvoll dem Champagner zusprach, dass der ebenfalls große Trinker
Rudolf Augstein ihn glühend beneidete, zeigte sich bestürzt darüber,
dass die heutige Jugend "den Ansprüchen des Trankes nicht mehr
gewachsen" sei. Dass für jedes große Vergnügen, für jede vitale Lust ein
Preis gezahlt werden muss, war dem Weltkriegshelden noch eine
Selbstverständlichkeit. Der ebenfalls bedeutende Trinker Wilhelm Busch
notiert: "Die erste Pflicht der Musensöhne ist, daß man sich ans Bier
gewöhne." Ich will es damit bewenden lassen. Angesichts dieser – höchst
unvollständigen – Galerie sollten den Abstinenzlern die Argumente
ausgehen.
Ich habe vor kurzem aus einem kleinen biographischen
Text von Joachim Fest über Johannes Gross zitiert, welchletzterer
ebenfalls gern und ausgiebig dem Wein zusprach und sich bis zuletzt
nicht davon abbringen ließ: "Er verachtete alle Diätfreunde und
Biokostphilosophen. Die Verzichte, meinte er, die da gepredigt würden,
folgten allesamt der Regel: ‚Wenn das Leben schon keinen Spaß mehr
macht, soll es wenigstens lange dauern.’ Sooft sich einer seiner Freunde
über seine ‚Küchenweisheiten’ lustig machte, erwiderte er mit der
ironischen Gravität, die er gern hervorkehrte, er gehe in allen
Lebensdingen: bei Tisch, in der Literatur, im Theater oder sonstnochwo
seit längerem nie mehr unter ein gewisses Niveau." Auf Ihr Wohl, Kamerad
Gross!
Der Wein ist integraler Bestandteil einer Lebensart,
welche die Liebe zur Literatur, zu den Künsten, zur Musik, zu den
Frauen, zur Gelehrsamkeit, zum schönen Gespräch und zu den Freuden der
Gastronomie einschließt. Menschen, die keinen Wein trinken, sind für
mich ungefähr so anziehend wie Menschen, die keine Gedichte auswendig
wissen. Als ein Kind meiner Zeit will ich hinzufügen: Auch und gerade
ein Trinker sollte seinem Körper Wertschätzung entgegenbringen, denn ein
Gebildeter mit einem ungebildeten Körper sieht ungefähr genauso
ungebildet aus wie ein ungebildeter Mensch mit einem gebildeten Körper.
Ein sicherer Lacher, wenn ich in der Soiree "Lebenswerte"
das Weinkapitel vortrage, ist der Passus: "Der mühevolle und anfangs
gar nicht billige Weg zur kulinarischen Selbstveredelung hat mich also
in eine Risikogruppe versetzt, deren Vertreter von ungefähr der Hälfte
der Mediziner sorgenvoll bis streng angeblickt werden; die andere Hälfte
gehört selber dazu. Unter Ersteren gibt es Puristen, die behaupten,
jeder Schluck sei schädlich. Vom ‚Göttertrank’ der Alten zum ‚Zellgift’
der Gesundheitskommissare – so weit muss man erst mal kommen. Für mich
gelten jedenfalls zwei Maximen. Erstens: Jeden Tag Wein. Zweitens:
Lieber zehn brandenburgische Skinheads am Tisch als einen Abstinenzler." MK am 2.9.