Stationen

Samstag, 29. September 2018

Klonovsky interviewt Joachim Fest (1996)

WÜRDEN SIE LIEBER IM 21. JAHRHUNDERT GELEBT HABEN?
Fest: Nein. Ich würde vielleicht lieber im 19. gelebt haben. Zugleich finde ich, daß meine Generation großes Glück gehabt hat. Wir haben zwar noch die Nazizeit erlebt, aber dann doch immerhin über 50 Jahre im Frieden und in einem prosperierenden Land gelebt. Das ist ein seltener Glücksfall in der Geschichte.

FOCUS: Was würde Sie denn reizen am 19. Jahrhundert? Die noch ungebrochene Bürgerlichkeit?


Fest: Sicherlich schätze ich am 19. Jahrhundert auch die Bürgerlichkeit. Der Begriff Bürgerlichkeit ist in Verruf gekommen, aber im Grunde ist das die Art, in der Menschen immer leben wollen: in geordneter Freiheit. Beides, Ordnung und Freiheit, hat es im 19. Jahrhundert in hohem Maße gegeben – soweit das unter Menschen möglich ist. Und die Visionen, die dieses Leben in geordneter Freiheit transzendierten, hatten alle noch jene Unschuld, die sie im 20. Jahrhundert verloren haben.

FOCUS: Nun hat diese Bürgerlichkeit aber nicht für alle gereicht, und wohl vor allem darum fand der Versuch statt, sie zu zerstören.

Fest: Ich bin mir nicht so sicher, weil der Haß auf das Bürgertum aus dem Bürgertum selber kam. Er hat die Parteigänger der verschiedensten Richtungen geeint. Joseph Goebbels, Ernst Jünger, Bertolt Brecht, Johannes R. Becher, um nur vier Beispiele zu nennen, kamen alle aus dem Bürgertum. Aber was hatte es ihnen eigentlich getan? Natürlich war die bürgerliche Ära an ihrem Anfang mit großem sozialen Unrecht verbunden, nur ich weiß nicht, ob man das dem Bürgertum zur Last legen kann. Schließlich war die industrielle Revolution ein Umsturz ohne Vorbild.

FOCUS: Indem Sie die Extreme nennen, die es bedrohen, setzen Sie das Bürgertum in die politische Mitte. Ist Ihnen das neue Schlagwort vom „Extremismus der Mitte“ geläufig?

Fest: Das ist nicht neu . . .

FOCUS: Stimmt, aber es gibt eine neue Interpretation von links, wonach eine extremistische Mitte solche extremistischen Taten wie die Änderung des Asylrechts vollbringt.

Fest: Das ist ziemlich lachhaft. Man wird doch Kohl oder die Mitglieder der Regierung nicht Extremisten nennen. Wir haben immer noch das großzügigste Asylrecht. Aber eine Änderung mußte sein, gar nicht mal so sehr unter finanziellem Aspekt. Ein Land kann offensichtlich nur ein bestimmtes Quantum an Migranten vertragen. Man mag das bedauern, aber die Menschen sind nun mal so, wie sie sind. Fast alle fehllaufende Politik kommt aus einem illusionären, den Menschen überfordernden Menschenbild.

FOCUS: Wir sitzen hier und schlemmen, und in der Dritten Welt hungern die Menschen. Ist das als Normalität hinzunehmen, oder erfordert dieser Zustand eine Art Weltethos?

Fest: Alle moralischen Begriffe, die mit Welt oder Menschheit anfangen, laufen auf Betrügerei hinaus.

FOCUS: Das klingt nach Carl Schmitt: „Wer Menschheit sagt, will betrügen.“

Fest: Ja, das gilt für alle solche Großbegriffe.

FOCUS: Auch nicht als Fernziel, als seelische Richtschnur?

Fest: Fernziele sind, fürchte ich, immer nur Worte und so billig wie Worte. Weit schwieriger ist, das Naheliegende zu tun, sich moralisch selbst zu verpflichten. Dazu sind merkwürdigerweise ganz wenige bereit. Sie suchen lieber in einem Weltethos oder einer anderen Utopie irgendeine Lösung der ihnen unerträglich scheinenden Probleme.

FOCUS: Was ist für Sie die Kardinalerfahrung aus dem 20. Jahrhundert?

Fest: Man kommt schwer umhin, aus der Geschichte dieses Jahrhunderts die Erkenntnis eines tiefen Pessimismus in bezug auf den Menschen zu ziehen. Er bleibt des anderen Wolf, wie man gesagt hat, und ich denke, daß Staaten und Verfassungen dazu da sind, dieser „wölfischen“ Natur Zügel anzulegen, den Menschen vor sich selbst und auch vor dem guten Nachbarn zu schützen. Dem Optimismus in bezug auf den Menschen, der ja eine der großen Visionen des 19. Jahrhunderts war, ist nichts mehr abzugewinnen. Man muß institutionelle Sicherungen gegen den Menschen schaffen, sonst ist ein Zusammenleben unmöglich.

FOCUS: Sehen Sie in dieser Republik irgendwo Einbruchstellen, wo die Sicherungen zerbröseln?

Fest: Im Augenblick nicht. Ich sehe allerdings, daß die Republik wirtschaftlich vor großen Schwierigkeiten steht. Es ist Praxis geworden, die Loyalität zu dieser Republik an die Verteilung materieller Wohltaten zu koppeln, also nicht die Freiheit an sich als schätzenswertes Gut zu begreifen. Es gibt aber keine zwangsläufige Verbindung zwischen Freiheit und Wohlstand.

FOCUS: In Ihrem Buch „Die schwierige Freiheit“ haben Sie die Frage gestellt: „Was passiert, wenn das Bruttosozialprodukt einmal nicht weiter wächst?“ Ja, was?

Fest: Die Bundesrepublik hat zu ihrem unverdienten Glück bisher noch keine Bewäh-rungsprobe ablegen müssen. Aber ich habe den Eindruck, der Augenblick nähert sich. Was dann passiert? Keine Ahnung. Aber Zweifel.

FOCUS: Im selben Buch mahnen Sie ein moralisches Bewußtsein für „letzte unübersteigbare Grenzen“ und „Unumstößlichkeiten“ an. Was darf Ihrer Meinung nach nicht dem Tabubruch zum Opfer fallen?

Fest: Die Nazizeit ist zum Beispiel ein solches Tabu – was nicht heißt, daß man nicht über alles diskutieren soll; wir kommen jetzt nicht zum Historikerstreit. Ich finde aber diese Provokationen durch Skinheads, Wehrsportgruppen und wen auch immer nach den Erfahrungen, die wir gemacht haben, unerlaubt. Das ist glücklicherweise noch ein Polizeiproblem.

FOCUS: Damit werden Sie nirgends auf Dissens stoßen. Ein anderes Beispiel!

Fest: Die nach wie vor unterschiedliche Bewertung von rechts und links. Die Naziopfer sind – mit Recht – im Gedächtnis der Welt, die Millionen Stalinschen Opfer dagegen sind ganz herausgefallen. Kein Mensch schert sich darum, es gibt kein Gedenken, keine Erinnerungsstätten. Der Kommunismus hat sich ja durch eine erlauchte Ahnherrenschaft einen Pedigree verschafft, das ihm keineswegs zukommt. Er ist auch eine Mord- und Terrorveranstaltung gewesen, und immer noch wird dieser Unterschied gemacht. Das Schönreden, die nachträgliche Blattvergoldung des Kommunismus, ist nicht nur eine Sache seiner traurigen Erben. Seltsame, wirklichkeitsstutzige Blindheit. Schon der Kommunismus, wie ihn Marx entworfen hat, lief aufs Inhumane hinaus.

FOCUS: Gewalt hatte Marx nicht vorgesehen – für ihn hätte sich alles von selbst getan.

Fest: Na, etwas Gewalt schon, um der Geschichte auf die Sprünge zu helfen. Aber als Willensprinzip gibt es „die Geschichte“ nicht. Es sind Menschen, die handeln. Es ist ein linker Denkfehler, die Geschichte als eine selbständige, verlaufsbestimmende Kraft zu betrachten. Wenn es so wäre, gäbe es keine Verantwortung mehr. Eigentlich müßten sich diese trostlosen Figuren, die jetzt in Berlin vor Gericht stehen, nach bester marxistischer Tradition darauf herausreden, daß sie nur Handlanger des Weltgeistes waren.

FOCUS: Sie plädieren seit Jahren gegen Utopien. Was haben Sie gegen Utopien?

Fest: Die ganze Erfahrung dieses Jahrhunderts, das die Utopien in ein Schlachthaus verwandelt haben. Merkwürdigerweise blieb der Begriff Utopie auch nach 1989/90 eine positiv besetzte Vokabel. Aber auch der Nationalsozialismus gehört in die utopische Tradition. Das versuchte ich zu zeigen.

FOCUS: Aber die Parusie, die Erwartung der Wiederkunft Christi, ist auch eine Utopie.

Fest: Eine Utopie ist ein innerweltliches Erlösungsversprechen, die Parusie nicht. Utopien sind Ersatzreligionen für Menschen, die an ein Jenseits nicht mehr glauben können oder wollen. Eine Zeitlang haben die Utopien das tiefe metaphysische Bedürfnis der Menschen tatsächlich gebunden, im Augenblick treibt es richtungslos umher.

FOCUS: Wir brauchen also neue Religionen?

Fest: Die Mehrzahl der Menschen braucht eine Verheißung, wenigstens das Bewußtsein eines Lebenssinns. Dergleichen kann sich auf ein Jenseits beziehen, dann ist es, wie ich finde, legitim. Wenn es sich aber aufs Diesseits bezieht, hier eine Art Paradies errichten will, führt es zu schrecklichen Konsequenzen.

FOCUS: Sie haben das Wort „Sozialhelferkitsch“ erfunden, und Sie geißeln das „weiche Klima“ des Sozialstaats mit seinem „kleinen Gewerkschaftsglück“. Das erinnert an die Zarathustra-Forderung „Werdet hart!“. Ist das Ihr Anliegen?

Fest: Nein, kein Zarathustra! Ich meine vielmehr, daß der Grundirrtum des Sozialstaats darin liegt, nur materielle Versprechen bereitzuhalten. Das Gewerkschaftsglück ist eben dieser Irrtum. Ich bin natürlich dafür, daß man alle Verelendung beseitigt, es gibt ein soziales Grundrecht. Aber das kann nicht alles sein. Das ist nur ein Teil des sinnerfüllten Lebens.

FOCUS: Was ist denn das andere?

Fest: Der Mensch lebt, heute wie eh und je, nicht vom Brot allein. Seit der Antike hat die europäische Philosophie wieder und wieder Regeln für das „richtige“ Leben entwickelt. Alle Befriedigungen, die den Menschen möglich sind, stammen danach aus dem Bewußtsein verantwortlichen Tuns, aus wahrgenommenen Pflichten und der Übereinstimmung mit den moralischen Normen. Diese Einsicht wird ignoriert, und das könnte gefährlich werden. Die Menschen empfinden da eine leere Stelle. Man kann nicht ausschließen, daß die derzeit tote Chimäre Utopie diese Stelle wieder besetzt.

FOCUS: Was ist das andere für Sie persönlich?

Fest: Meine Pflicht tun. Das, was ich für nötig halte. Das klingt furchtbar pathetisch, ich weiß.

FOCUS: Das klingt sehr preußisch.

Fest: Ich bin preußisch geprägt, und ich habe keine Mühe damit.

FOCUS: Würden Sie bitte zu den folgenden Personen jeweils einen Satz sagen: Daniel Cohn-Bendit.

Fest: Ein sehr temperamentvoller, inzwischen unorthodoxer Gesprächspartner. Mehr als ich ihm zugetraut hätte, hat er sein Den-ken mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung bringen können.

FOCUS: Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.

Fest: Sie repräsentiert die Krise der FDP. Der alte Freisinn ist längst anachronistisch und ohne Sinn für die Gefahren, die der Freiheit derzeit drohen.

FOCUS: Alexander von Stahl.

Fest: Er versucht, an die nationale Tradition des deutschen Liberalismus anzuknüpfen. Ich glaube, daß es ein untauglicher Versuch ist.

FOCUS: Harald Schmidt.

Fest: Ich finde ihn unerträglich. Eine Kopie amerikanischer Vorbilder, aber die Originale sind nicht so selbstbezogen, platt, töricht.

FOCUS: Zurück zur Eingangsfrage: Interessiert Sie das 21. Jahrhundert?

Fest: Ich bin nicht neugierig auf das 21. Jahrhundert. Als Historiker weiß man, daß immer die gleichen Spiele gespielt werden, wenn auch in wechselnden Kostümen.

FOCUS: Aber warum interessieren Sie sich dann für das 19. Jahrhundert?

Fest: Es gibt auch ein natürliches Bedürfnis, sich für die Vergangenheit zu interessieren. Vergegenwärtigungslust des Gewesenen. Warum Menschen und Reiche nach oben kamen, Glanz und Schrecken verbreiteten, untergingen. Zugleich hat es einen gewissen belehrenden Charakter.

FOCUS: Haben Sie vielleicht Angst vor der Zukunft?

Fest: Ich hatte nie Angst vor der Zukunft. Eine maßvolle Neugier schon. Aber ich erinnere mich eines Satzes meines Vaters, Neugier sei etwas für Dienstmädchen und beschäftigungslose Hausfrauen. Immerhin: Die Geschichte hätte er wohl ausgenommen.

FOCUS: Kennen Sie Mister Spock?

Fest: Nein.

FOCUS: Es handelt sich um eine Gestalt aus einer utopischen – nein, aus einer Sciencefiction-Serie. Spock hat die Frage, was Menschen in die tausend Gefahren und Unwägbarkeiten des Weltalls treibe, beantwortet mit: Neugier, nichts als ewig unstillbare Neugier.

Fest: Es hat sicher Zeiten gegeben, wo ich neugierig darauf war, wie die Dinge sich entwickeln, zum Beispiel 1945, während der Kuba-Krise oder vom Sommer 1989 an. Ich glaube aber, das 21. Jahrhundert wird, trotz einiger Quantensprünge, im Menschlichen so weitergehen wie immer.

FOCUS: Der Wechsel von einem Jahrhundert ins nächste, diesmal durch die Revolutionen in Osteuropa und in der Informationstechnologie zufällig auch ein Epochenwechsel, wirft ja stets die Frage auf, was man zurücklassen muß. Worauf schauen Sie mit Wehmut zurück?

Fest: Ich war nach einer sechzehnjährigen Unterbrechung unlängst wieder einmal an der Cote d"Azur und sah mit großem Erschrecken, daß die Küste so gut wie zerstört ist. Ein einziges Betongebirge! Das wird das Schicksal großer Teile Europas sein. Unsere Kinder oder zumindest deren Kinder werden auch nicht mehr wissen, was Italien in seiner einzigartigen Verbindung von Naturschönheit und Kunstschönheit war. Die reizvollen Unterschiede, die Europa geprägt haben, gehen dahin. Eine Küste, eine Stadt wie die andere. Natürlich haben diese enormen Veränderungen auch Gewinne gebracht. Aber wenn ich überhaupt irgendeine allgemeine Einsicht aus der Betrachtung von Geschichte und Gegenwart gewonnen habe, dann die, daß es keine Gewinne ohne Verluste gibt.   Focus