Stationen

Sonntag, 2. September 2018

Der letzte Preusse

Bereits seit Wochen, seit der Bekanntgabe des Titels und des Auslieferungstermins, schiebt Thilo Sarrazins neues Buch eine Bugwelle öffentlichen Aufsehens vor sich her. Erneut kontrastiert die gespannte Erwartung der Leserschaft mit den Skandalisierungen und Verdächtigungen aus dem Politik-, Kultur- und Medienbetrieb. Der Rückzug seines angestammten Verlages stellt eine neue Drehung der großen Konformitätsspirale dar, denn an mangelnder Relevanz und Wirtschaftlichkeit des Projekts kann die Absage wahrlich nicht liegen. Der Titel „Feindliche Übernahme: Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht“ umreißt ein Thema, das die Öffentlichkeit wie kaum ein anderes interessiert.
Programmatisch knüpft Sarrazin an seinen Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ von 2010 an, der die massive Zuwanderung aus vormodernen Kulturkreisen, die durch niedrige Bildungsgrade und geringe Intelligenzquotienten bei hoher Fertilität und Anspruchshaltung gekennzeichnet ist, als Risiko für den sozialen, kulturellen und staatlichen Weiterbestand Deutschlands beschreibt.
Das Buch ist in siebenstelliger Auflage verkauft und rezipiert worden, doch der Preis, den Sarrazin dafür zu zahlen hatte, war enorm. Eine Flut von Injurien und Unterstellungen stürzte über ihn herein, es gab einen Farbanschlag auf sein Wohnhaus, seine Ehefrau, die als Lehrerin arbeitete, wurde gemobbt, die Presse breitete seine Familienverhältnisse aus. Seine Lesungen benötigten Polizeischutz, im Berliner Ensemble erzwangen Pöbler sogar den Abbruch der Veranstaltung, und in Berlin-Kreuzberg mußte er aus Gründen der persönlichen Sicherheit ein Lokal verlassen.

Politik- und Medienbetrieb ist mit Sarrazin überfordert

Wieder gibt es haßtriefende Vorab-Reaktionen. Eine Hauptstadtzeitung übermittelte ihm mit der Schlagzeile „Sarrazin schafft sich ab“ den subtilen Todeswunsch der vermeintlich Anständigen. Aus solchen Entgleisungen sprechen Haß und Wut, aber auch die Verunsicherung und Ratlosigkeit der Politik-, Kultur- und Medienbetriebler. Sie werden mit diesem Faktenmenschen einfach nicht fertig, der Statistik um Statistik präsentiert und daraus nüchtern seine Thesen ableitet.
Die Gegenrechnungen, die ihn widerlegen sollen, erweisen sich stets als sinnfreie, ideologisch kontaminierte Zahlensalate. Sie belegen nur, daß das Expertentum des akademischen und medialen Überbaus nicht weniger abwicklungsreif sind als 1989 die SED-Parteihochschulen.

Am Ende von „Deutschland schafft sich ab“ präsentierte Sarrazin zwei Zukunftsvisionen. Die eine, vernunftgesteuerte, atmet den Geist der alten, staatstreuen Sozialdemokratie und umfaßt Selbstverständlichkeiten wie die Durchsetzung von Recht und Gesetz einschließlich der Grenzsicherung, die Verteidigung von Bildungsstandards und die Stornierung ungerechtfertigter Sozialtransfers. Die andere Vision ist ein „Albtraum“, in dem die zerstörerische Politik bis in alle Zukunft verlängert wird und eine bei 17 Prozent Wähleranteil angelangte SPD sich zum Mehrheitsbeschaffer für die „Vereinigung der islamischen Gläubigen“ hergibt.
Die große Verbreitung und Resonanz von Sarrazins Buch hat die Politik nicht daran gehindert, die Verwirklichung seines Albtraums beherzt in Angriff zu nehmen. Was kaum verwundert, denn auf eine Kurskorrektur oder eine faktenbasierte Diskussion kann der politisch-mediale Komplex sich nicht einlassen, weil beides zielsicher auf seine Delegitimierung hinauslaufen würde.

Moslems betrachten Religionskritik als Beleidigung

Die diverse, multikulturelle Gesellschaft, die er weiterhin propagiert, ist ein Widerspruch in sich, weil dem westlich geprägten Menschen ein breites Rollenspektrum zur Verfügung steht, in dem er partielle Verletzungen seines Selbstverständnisses durch andere leicht kompensieren kann, wohingegen „der muslimische Lebensstil durch ein universales Recht in engen Bandbreiten geregelt wird“ (Hans-Peter Raddatz) und der gläubige Moslem jede Kritik als Beleidigung seiner Religion empfindet. Aus islamischer Sicht kann der Konflikt letztlich nur dadurch gelöst werden, daß Islamkritik als Rassismus unter Strafe und das öffentliche Leben unter das monokulturelle Gesetz der Scharia gestellt wird.
Einen weiteren Wirkungsfaktor bildet das Kapital, das aus den arabischen Golfstaaten nach Europa fließt. Es wäre detailliert zu untersuchen, in welchem Umfang es neben multinationalen Konzernen auch in Stiftungen, Forschungs- und Bildungseinrichtungen sowie in schwächelnde Pressehäuser investiert wird und deren Arbeit bestimmt. Und schließlich ist die Angst vor islamistischem Terror ein Riegel, der das Tor zu einer offenen Debatte zuverlässig verschließt.

Mit Blick auf Thilo Sarrazin ergibt sich daher eine paradoxe Situation: Seine Thesen sind weithin bekannt und populär, doch im offiziellen Diskurs werden sie ausschließlich im Modus der Abwehr und Stigmatisierung thematisiert, so daß sie für den Durchschnittsbürger eine „No-go-Area“ markieren. Die Situation ähnelt jener, die Carl Schmitt 1937 im „Leviathan“ beschrieben hat: Wenn der Staat und die öffentlichen Mächte das freie Wort und die Benennung von Tatsachen ins Private abdrängen, „(dann) wächst die Gegenkraft des Schweigens und der Stille“.
Thilo Sarrazin ist ein führender Repräsentant dieser Gegenkraft. Sie kommt aus dem besseren Wissen, das er in seinen Büchern versammelt hat und den politisch-medialen Diskurs der Lüge überführt. Dieses verpönte, aber abgespeicherte Wissen enthält eine Latenz, eine verborgene Möglichkeit, die schon unter geringfügig veränderten Bedingungen öffentlich und damit politisch wirksam werden kann.   Hinz