Bereits seit Wochen, seit der Bekanntgabe des Titels und des
Auslieferungstermins, schiebt Thilo Sarrazins neues Buch eine Bugwelle
öffentlichen Aufsehens vor sich her. Erneut kontrastiert die gespannte
Erwartung der Leserschaft mit den Skandalisierungen und Verdächtigungen
aus dem Politik-, Kultur- und Medienbetrieb. Der Rückzug seines
angestammten Verlages stellt eine neue Drehung der großen
Konformitätsspirale dar, denn an mangelnder Relevanz und
Wirtschaftlichkeit des Projekts kann die Absage wahrlich nicht liegen.
Der Titel „Feindliche Übernahme: Wie der Islam den Fortschritt behindert
und die Gesellschaft bedroht“ umreißt ein Thema, das die Öffentlichkeit
wie kaum ein anderes interessiert.
Programmatisch knüpft Sarrazin an seinen Bestseller „Deutschland
schafft sich ab“ von 2010 an, der die massive Zuwanderung aus
vormodernen Kulturkreisen, die durch niedrige Bildungsgrade und geringe
Intelligenzquotienten bei hoher Fertilität und Anspruchshaltung
gekennzeichnet ist, als Risiko für den sozialen, kulturellen und
staatlichen Weiterbestand Deutschlands beschreibt.
Das Buch ist in siebenstelliger Auflage verkauft und rezipiert
worden, doch der Preis, den Sarrazin dafür zu zahlen hatte, war enorm.
Eine Flut von Injurien und Unterstellungen stürzte über ihn herein, es
gab einen Farbanschlag auf sein Wohnhaus, seine Ehefrau, die als
Lehrerin arbeitete, wurde gemobbt, die Presse breitete seine
Familienverhältnisse aus. Seine Lesungen benötigten Polizeischutz, im
Berliner Ensemble erzwangen Pöbler sogar den Abbruch der Veranstaltung,
und in Berlin-Kreuzberg mußte er aus Gründen der persönlichen Sicherheit
ein Lokal verlassen.
Politik- und Medienbetrieb ist mit Sarrazin überfordert
Wieder gibt es haßtriefende Vorab-Reaktionen. Eine Hauptstadtzeitung
übermittelte ihm mit der Schlagzeile „Sarrazin schafft sich ab“ den
subtilen Todeswunsch der vermeintlich Anständigen. Aus solchen
Entgleisungen sprechen Haß und Wut, aber auch die Verunsicherung und
Ratlosigkeit der Politik-, Kultur- und Medienbetriebler. Sie werden mit
diesem Faktenmenschen einfach nicht fertig, der Statistik um Statistik
präsentiert und daraus nüchtern seine Thesen ableitet.
Die Gegenrechnungen, die ihn widerlegen sollen, erweisen sich stets
als sinnfreie, ideologisch kontaminierte Zahlensalate. Sie belegen nur,
daß das Expertentum des akademischen und medialen Überbaus nicht weniger
abwicklungsreif sind als 1989 die SED-Parteihochschulen.
Am Ende von „Deutschland schafft sich ab“ präsentierte Sarrazin zwei
Zukunftsvisionen. Die eine, vernunftgesteuerte, atmet den Geist der
alten, staatstreuen Sozialdemokratie und umfaßt Selbstverständlichkeiten
wie die Durchsetzung von Recht und Gesetz einschließlich der
Grenzsicherung, die Verteidigung von Bildungsstandards und die
Stornierung ungerechtfertigter Sozialtransfers. Die andere Vision ist
ein „Albtraum“, in dem die zerstörerische Politik bis in alle Zukunft
verlängert wird und eine bei 17 Prozent Wähleranteil angelangte SPD sich
zum Mehrheitsbeschaffer für die „Vereinigung der islamischen Gläubigen“
hergibt.
Die große Verbreitung und Resonanz von Sarrazins Buch hat die Politik
nicht daran gehindert, die Verwirklichung seines Albtraums beherzt in
Angriff zu nehmen. Was kaum verwundert, denn auf eine Kurskorrektur oder
eine faktenbasierte Diskussion kann der politisch-mediale Komplex sich
nicht einlassen, weil beides zielsicher auf seine Delegitimierung
hinauslaufen würde.
Moslems betrachten Religionskritik als Beleidigung
Die diverse, multikulturelle Gesellschaft, die er weiterhin
propagiert, ist ein Widerspruch in sich, weil dem westlich geprägten
Menschen ein breites Rollenspektrum zur Verfügung steht, in dem er
partielle Verletzungen seines Selbstverständnisses durch andere leicht
kompensieren kann, wohingegen „der muslimische Lebensstil durch ein
universales Recht in engen Bandbreiten geregelt wird“ (Hans-Peter
Raddatz) und der gläubige Moslem jede Kritik als Beleidigung seiner
Religion empfindet. Aus islamischer Sicht kann der Konflikt letztlich
nur dadurch gelöst werden, daß Islamkritik als Rassismus unter Strafe
und das öffentliche Leben unter das monokulturelle Gesetz der Scharia
gestellt wird.
Einen weiteren Wirkungsfaktor bildet das Kapital, das aus den
arabischen Golfstaaten nach Europa fließt. Es wäre detailliert zu
untersuchen, in welchem Umfang es neben multinationalen Konzernen auch
in Stiftungen, Forschungs- und Bildungseinrichtungen sowie in
schwächelnde Pressehäuser investiert wird und deren Arbeit bestimmt. Und
schließlich ist die Angst vor islamistischem Terror ein Riegel, der das
Tor zu einer offenen Debatte zuverlässig verschließt.
Mit Blick auf Thilo Sarrazin ergibt sich daher eine paradoxe
Situation: Seine Thesen sind weithin bekannt und populär, doch im
offiziellen Diskurs werden sie ausschließlich im Modus der Abwehr und
Stigmatisierung thematisiert, so daß sie für den Durchschnittsbürger
eine „No-go-Area“ markieren. Die Situation ähnelt jener, die Carl
Schmitt 1937 im „Leviathan“ beschrieben hat: Wenn der Staat und die
öffentlichen Mächte das freie Wort und die Benennung von Tatsachen ins
Private abdrängen, „(dann) wächst die Gegenkraft des Schweigens und der
Stille“.
Thilo Sarrazin ist ein führender Repräsentant dieser Gegenkraft. Sie
kommt aus dem besseren Wissen, das er in seinen Büchern versammelt hat
und den politisch-medialen Diskurs der Lüge überführt. Dieses verpönte,
aber abgespeicherte Wissen enthält eine Latenz, eine verborgene
Möglichkeit, die schon unter geringfügig veränderten Bedingungen
öffentlich und damit politisch wirksam werden kann. Hinz