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Sonntag, 2. September 2018

Präzedenzlos

Es ist ein einfacher klarer Satz von Wolfgang Klein, Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft Sachsen. „Nach allem uns vorliegenden Material hat es in Chemnitz keine Hetzjagd gegeben“, so der Beamte auf Anfrage von Publico. Damit widerspricht er direkt den Behauptungen von Kanzlerin Angela Merkel und ihrem Sprecher Steffen Seibert, die beide unter Berufung auf von ihnen nicht näher beschriebene Videos behauptet hatten, in Chemnitz hätten „Hetzjagden“ stattgefunden – also sogar mehrere.


Die sächsische Generalstaatsanwaltschaft verfolgt alle Delikte im Zusammenhang mit dem Versammlungsrecht, zu denen es in Chemnitz am vergangenen Sonntag und Montag gekommen war: Hitlergrüße, Böller- und Flaschenwürfe, mögliche Übergriffe. Wegen des öffentlichen Zeigens von Hitlergrüßen verfolgt die Behörde ein dutzend Anzeigen. Fest steht auch, dass am Sonntag, den 26. August in einer Spontandemonstration von etwa 800 Menschen nach der Tötung eines jungen Chemnitzers durch zwei Asylbewerber auch etwa 50 gewaltbereite Personen aus der rechtsradikalen und Hooligan-Szene unterwegs waren. Von dieser Gruppe wurden mehrere Passanten angepöbelt und bedroht. Aber eine Hetzjagd in den Straßen von Chemnitz gab es weder nach Erkenntnissen der Behörden, noch existieren bis heute Fotos oder Bewegtbilder, die den Vorwurf stützen.
Damit bestätigt Klein, was vorher schon die Polizei Chemnitz feststellte, außerdem der Chefredakteur der „Freien Presse“ Torsten Kleditzsch, dessen Mitarbeiter am Sonntag das Geschehen beobachtet hatten, während keine überregionalen Teams unterwegs waren.

Wie kam es überhaupt zu der flächendeckenden Berichterstattung, in Chemnitz hätten „Hetzjagden“ stattgefunden? Wer nach der Quelle sucht, stößt auf ein einziges sekundenkurzes Video, gefilmt und ins Netz gestellt von einer Organisation „Antifa Zeckenbiss“. Darauf sind locker zusammenstehende Männer zu sehen; einer rennt drohend auf einen Passanten zu, schreit etwas von „Kanaken“, der Bedrohte flieht. Eine Frau ist mit dem Satz zu hören: „Hase, du bleibst hier.“ Das Mini-Video schaffte es in die ARD, die Morgenpost hob ein Still des Videos auf ihr Titelblatt. Der Schnipsel zeigt zweifellos einen versuchten Übergriff – aber keine Hetzjagd.
So richtig in Schwung kam die Berichterstattung über „Hetzjagden“ in Chemnitz erst, als am 27. August Regierungssprecher Steffen Seibert vor die Presse trat und sagte:
„Was gestern in Chemnitz  zu sehen war und stellenweise auf Video festgehalten wurde (…), das hat in unserem Rechtsstaat keinen Platz. Solche Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens und anderer Herkunft, (…) das nehmen wir nicht hin.“
Die „Tagesschau“ nahm das zum Anlass, um unter dem Leitsatz zu berichten: „Bundesregierung prangert ‚Hetzjagden’ an.“ Als Beleg in der Sendung diente wiederum nur der beschriebene Videoschnipsel von „Antifa Zeckenbiss“.
Aber nicht nur Seibert, auch Angela Merkel trat vor die Presse und erklärte:
„Wir haben Videoaufnahmen darüber, dass es Hetzjagden gab, Zusammenrottungen (…)“
Niemand hatte bis dahin entsprechende Videoaufnahmen gesehen. Aber die Beteuerung nicht nur des Regierungssprechers, sondern der Regierungschefin selbst, „wir“ – also die Regierung – verfüge über entsprechendes Material, musste als hochamtliche Bestätigung wirken.

Nur: die Regierung veröffentlichte die ominösen Hetzjagd-Videos daraufhin nicht. Sie stellte sie offensichtlich auch nicht der ermittelnden Behörde zur Verfügung.
Publico schickte deshalb am Freitag, 31. August um 16:47 Uhr per Mail eine Anfrage an Seibert:

Sehr geehrter Herr Seibert,

vor der Bundespressekonferenz sagten Sie zu den Ereignissen in Chemnitz:
„Was gestern in Chemnitz  zu sehen war und stellenweise auf Video festgehalten wurde (…), das hat in unserem Rechtsstaat keinen Platz. Solche Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens und anderer Herkunft, (…) das nehmen wir nicht hin.“
Nach Erkenntnissen der Polizei gab es am vergangenen Sonntag aus der Menge der Demonstranten drei verbale Angriffe auf andere Personen, in einem Fall auch durch Spucken, und einen mutmaßlichen Schlag mit einer Bierflasche. Über eine Hetzjagd bzw. „Hetzjagden“ liegen der Polizei keine Erkenntnisse vor. Zum aktuellen Zeitpunkt (Freitag, 31. August 16 Uhr) liegen auch der ermittlungsführenden Generalstaatsanwaltschaft Sachsen keine Erkenntnisse vor, die den Begriff „Hetzjagd“ rechtfertigen würde.
Nach Angaben des Chefredakteurs der „Freien Presse” Chemnitz Torsten Kleditzsch – des einzigen Mediums, dessen Journalisten am vergangenen Sonntag das Geschehen beobachtet hatten – gab es keine Ereignisse, die man als „Hetzjagd“ bezeichnen könnte, also das anhaltende Jagen von Personen durch Gruppen auf Straßen und Plätzen.
Unter einer Vielzahl von Videoaufnahmen vom Sonntag gibt es ein Video mit dem Account „Zeckenbiss“, auf dem ein einzelner Mann zu sehen ist, wie er auf einen anderen einzelnen Mann zurennt. Dieses Video zeigt also ebenfalls keine Hetzjagd.
Da Sie explizit von Ihnen offenbar vorliegenden Videos sprechen, die „Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens und anderer Herkunft“ in Chemnitz zeigen sollten, bitte ich Sie, mir diese Quellen zu nennen.
Zudem bitte ich um Beantwortung der Frage: Wie definiert die Bundesregierung den von Ihnen verwendeten Begriff „Zusammenrottung“?
Hält die Bundesregierung „Zusammenrottung” für illegal?
Hatten Sie vor Ihrem Statement Kontakt mit der Chemnitzer Polizei und/oder der örtlichen Staatsanwaltschaft?
Zum zweiten übermittle ich Ihnen hiermit zuständigkeitshalber auch eine Anfrage an Frau Dr. Merkel:

Sehr geehrte Frau Dr. Merkel, bei einem Auftritt vor der Presse sagten Sie zu den Ereignissen in Chemnitz:
„Wir haben Videoaufnahmen darüber, dass es Hetzjagden gab, Zusammenrottungen (…)“
(Weitere Ausführungen s. Frage an Steffen Seibert.)
Deshalb bitte ich um die Beantwortung der Frage: Welche Videoaufnahmen oder andere Quellen liegen Ihnen vor, die Sie zu der Aussage bewogen haben, in Chemnitz habe es „Hetzjagden“ gegeben?
Wie definieren Sie den Begriff „Zusammenrottung“? Sind Sie der Ansicht, dass es sich bei einer „Zusammenrottung“ um ein Delikt handelt?
Ich bitte um eine baldige Antwort der Fragen an Sie, Herr Seibert, und an Frau Dr. Merkel.

Mit freundlichen Grüßen, Alexander Wendt
Publico

Bis jetzt gibt es keine Antwort. Auch nach einer schriftlichen Erinnerung am Samstag nicht.
Damit beginnt die Affäre erst. Dass die Regierungschefin selbst eine Fake News bestätigt, damit eine hysterische Falschberichterstattung erst so richtig in Gang bringt, und anschließend Fragen eines Mediums ignoriert – das wäre ein präzedenzloser Vorgang.
Der Fall wird sicherlich auch im Bundestag behandelt werden.    Wendt


Notfalls muss ein Gericht die Auskunft erzwingen, denn offenbar halten die Kanzlerin und ihr Sprecher Informationen zurück, die allmählich die sicherheitsrelevanten Sphären unseres Landes berühren. Oder sie haben Feknjuhs verbreitet und mit diesen Unterstellungen einen Teil der Bevölkerung mutwillig oder fahrlässig diskreditiert.