Es ist ein einfacher klarer Satz von Wolfgang Klein, Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft Sachsen. „Nach allem uns vorliegenden Material hat es in Chemnitz keine Hetzjagd gegeben“,
so der Beamte auf Anfrage von Publico. Damit widerspricht er direkt den
Behauptungen von Kanzlerin Angela Merkel und ihrem Sprecher Steffen
Seibert, die beide unter Berufung auf von ihnen nicht näher beschriebene
Videos behauptet hatten, in Chemnitz hätten „Hetzjagden“ stattgefunden – also sogar mehrere.
Die
sächsische Generalstaatsanwaltschaft verfolgt alle Delikte im
Zusammenhang mit dem Versammlungsrecht, zu denen es in Chemnitz am
vergangenen Sonntag und Montag gekommen war: Hitlergrüße, Böller- und
Flaschenwürfe, mögliche Übergriffe. Wegen des öffentlichen Zeigens von
Hitlergrüßen verfolgt die Behörde ein dutzend Anzeigen. Fest steht auch,
dass am Sonntag, den 26. August in einer Spontandemonstration von etwa
800 Menschen nach der Tötung eines jungen Chemnitzers durch zwei
Asylbewerber auch etwa 50 gewaltbereite Personen aus der rechtsradikalen
und Hooligan-Szene unterwegs waren. Von dieser Gruppe wurden mehrere
Passanten angepöbelt und bedroht. Aber eine Hetzjagd in den Straßen von
Chemnitz gab es weder nach Erkenntnissen der Behörden, noch existieren
bis heute Fotos oder Bewegtbilder, die den Vorwurf stützen.
Damit
bestätigt Klein, was vorher schon die Polizei Chemnitz feststellte,
außerdem der Chefredakteur der „Freien Presse“ Torsten Kleditzsch,
dessen Mitarbeiter am Sonntag das Geschehen beobachtet hatten, während
keine überregionalen Teams unterwegs waren.
Wie kam es überhaupt zu der flächendeckenden Berichterstattung, in Chemnitz hätten „Hetzjagden“
stattgefunden? Wer nach der Quelle sucht, stößt auf ein einziges
sekundenkurzes Video, gefilmt und ins Netz gestellt von einer
Organisation „Antifa Zeckenbiss“. Darauf sind locker zusammenstehende Männer zu sehen; einer rennt drohend auf einen Passanten zu, schreit etwas von „Kanaken“, der Bedrohte flieht. Eine Frau ist mit dem Satz zu hören: „Hase, du bleibst hier.“
Das Mini-Video schaffte es in die ARD, die Morgenpost hob ein Still des
Videos auf ihr Titelblatt. Der Schnipsel zeigt zweifellos einen
versuchten Übergriff – aber keine Hetzjagd.
So richtig in Schwung kam die Berichterstattung über „Hetzjagden“ in Chemnitz erst, als am 27. August Regierungssprecher Steffen Seibert vor die Presse trat und sagte:
„Was
gestern in Chemnitz zu sehen war und stellenweise auf Video
festgehalten wurde (…), das hat in unserem Rechtsstaat keinen Platz.
Solche Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens und
anderer Herkunft, (…) das nehmen wir nicht hin.“
Die „Tagesschau“ nahm das zum Anlass, um unter dem Leitsatz zu berichten: „Bundesregierung prangert ‚Hetzjagden’ an.“ Als Beleg in der Sendung diente wiederum nur der beschriebene Videoschnipsel von „Antifa Zeckenbiss“.
Aber nicht nur Seibert, auch Angela Merkel trat vor die Presse und erklärte:
„Wir haben Videoaufnahmen darüber, dass es Hetzjagden gab, Zusammenrottungen (…)“
Niemand
hatte bis dahin entsprechende Videoaufnahmen gesehen. Aber die
Beteuerung nicht nur des Regierungssprechers, sondern der
Regierungschefin selbst, „wir“ – also die Regierung – verfüge über entsprechendes Material, musste als hochamtliche Bestätigung wirken.
Nur:
die Regierung veröffentlichte die ominösen Hetzjagd-Videos daraufhin
nicht. Sie stellte sie offensichtlich auch nicht der ermittelnden
Behörde zur Verfügung.
Publico schickte deshalb am Freitag, 31. August um 16:47 Uhr per Mail eine Anfrage an Seibert:
Sehr geehrter Herr Seibert,
vor der Bundespressekonferenz sagten Sie zu den Ereignissen in Chemnitz:
„Was
gestern in Chemnitz zu sehen war und stellenweise auf Video
festgehalten wurde (…), das hat in unserem Rechtsstaat keinen Platz.
Solche Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens und
anderer Herkunft, (…) das nehmen wir nicht hin.“
Nach
Erkenntnissen der Polizei gab es am vergangenen Sonntag aus der Menge
der Demonstranten drei verbale Angriffe auf andere Personen, in einem
Fall auch durch Spucken, und einen mutmaßlichen Schlag mit einer
Bierflasche. Über eine Hetzjagd bzw. „Hetzjagden“ liegen der Polizei
keine Erkenntnisse vor. Zum aktuellen Zeitpunkt (Freitag, 31. August 16
Uhr) liegen auch der ermittlungsführenden Generalstaatsanwaltschaft
Sachsen keine Erkenntnisse vor, die den Begriff „Hetzjagd“ rechtfertigen
würde.
Nach Angaben des Chefredakteurs der „Freien Presse”
Chemnitz Torsten Kleditzsch – des einzigen Mediums, dessen Journalisten
am vergangenen Sonntag das Geschehen beobachtet hatten – gab es keine
Ereignisse, die man als „Hetzjagd“ bezeichnen könnte, also das
anhaltende Jagen von Personen durch Gruppen auf Straßen und Plätzen.
Unter
einer Vielzahl von Videoaufnahmen vom Sonntag gibt es ein Video mit dem
Account „Zeckenbiss“, auf dem ein einzelner Mann zu sehen ist, wie er
auf einen anderen einzelnen Mann zurennt. Dieses Video zeigt also
ebenfalls keine Hetzjagd.
Da Sie explizit von Ihnen offenbar
vorliegenden Videos sprechen, die „Hetzjagden auf Menschen anderen
Aussehens und anderer Herkunft“ in Chemnitz zeigen sollten, bitte ich
Sie, mir diese Quellen zu nennen.
Zudem bitte ich um Beantwortung der Frage: Wie definiert die Bundesregierung den von Ihnen verwendeten Begriff „Zusammenrottung“?
Hält die Bundesregierung „Zusammenrottung” für illegal?
Hatten Sie vor Ihrem Statement Kontakt mit der Chemnitzer Polizei und/oder der örtlichen Staatsanwaltschaft?
Zum zweiten übermittle ich Ihnen hiermit zuständigkeitshalber auch eine Anfrage an Frau Dr. Merkel:
Sehr geehrte Frau Dr. Merkel, bei einem Auftritt vor der Presse sagten Sie zu den Ereignissen in Chemnitz:
„Wir haben Videoaufnahmen darüber, dass es Hetzjagden gab, Zusammenrottungen (…)“
(Weitere Ausführungen s. Frage an Steffen Seibert.)
Deshalb
bitte ich um die Beantwortung der Frage: Welche Videoaufnahmen oder
andere Quellen liegen Ihnen vor, die Sie zu der Aussage bewogen haben,
in Chemnitz habe es „Hetzjagden“ gegeben?
Wie definieren Sie den
Begriff „Zusammenrottung“? Sind Sie der Ansicht, dass es sich bei einer
„Zusammenrottung“ um ein Delikt handelt?
Ich bitte um eine baldige Antwort der Fragen an Sie, Herr Seibert, und an Frau Dr. Merkel.
Mit freundlichen Grüßen, Alexander Wendt
Publico
Bis jetzt gibt es keine Antwort. Auch nach einer schriftlichen Erinnerung am Samstag nicht.
Damit
beginnt die Affäre erst. Dass die Regierungschefin selbst eine Fake
News bestätigt, damit eine hysterische Falschberichterstattung erst so
richtig in Gang bringt, und anschließend Fragen eines Mediums ignoriert –
das wäre ein präzedenzloser Vorgang.
Der Fall wird sicherlich auch im Bundestag behandelt werden. Wendt
Notfalls muss ein Gericht die Auskunft erzwingen, denn offenbar halten
die Kanzlerin und ihr Sprecher Informationen zurück, die allmählich die
sicherheitsrelevanten Sphären unseres Landes berühren. Oder sie haben
Feknjuhs verbreitet und mit diesen Unterstellungen einen Teil der
Bevölkerung mutwillig oder fahrlässig diskreditiert.