Stationen

Donnerstag, 27. September 2018

Merkel und der gestiefelte Kater

Meine ganze Kollektion von Arno Schmidt über Grass, Lenz, aber auch Camus, Popper und selbst so alte Knaben wie Schopenhauer oder Nietzsche waren auf der Buchmesse in Leipzig mit Einverständnis der Aussteller geklaut oder Mitbringsel von Westbesuch, weil im Osten nicht gedruckt. Wegen Papiermangel, wie es hieß. Dann ab 1977 auch Kunze, Biermann, Heym. Deshalb war Westbesuch was Besonderes. Auch für die Kinder wegen Lego und Walkman.
Einer unserer Besucher beneidete mich immer, weil ich das Glück hatte, in der fortschrittlichen DDR zu leben. Und fiel aus allen Wolken, von mir die Bitte zu hören, Reiner Kunzes „Die wunderbaren Jahre“ mitzubringen. Er fand sich widerstrebend bereit, es über die Grenze zu schmuggeln und es mir zu übergeben, nicht ohne eine strenge Belehrung darüber, dass dieses Buch – wie man heute sagt – „nicht hilfreich“ sei. Ich überhörte das, die Rotwein-Stimmung machte mich gelassen, und ich fragte ihn, was denn so im Westen jetzt, 1987, die angesagten Themen seien. Es sei die beabsichtigte Volkszählung, sagte er, die es mit allen Mitteln zu verhindern gälte. Was daran Schlimmes sei? „Ja verstehst Du das nicht: Der Nazistaat wird rückfällig!“ Hitler habe auf diese Weise die Wohnungen von Juden ausgekundschaftet. Beschnüffelt und bespitzelt werde man in diesem Staat der Altnazis! Ich verkniff mir eine Antwort, da ich mir angewöhnt hatte, verfängliche Gespräche nur im Freien zu führen.
Beim Zu-Bett-gehen fragte ich meine Frau, was sie denn von unserem Westfreund hielte. Ein liebenswerter Typ – meinte sie. Und dann folgten diese drei kurzen Sätze, von denen ich damals nicht ahnte, dass sie die Erfahrungen der nächsten dreißig Jahre meines Lebens mit nahezu der gesamten westdeutschen Gesellschaft zusammenfassen sollten: „Aber eine kleine Unwucht hat er. Macht aber nix! Wir wollen nicht undankbar sein.“
Nach und nach leuchtete mir in den folgenden Jahren ein, welch gewaltige deutsche Tradition meine Frau angesprochen hatte. Bei meiner Beschäftigung mit sächsischer Geschichte stieß ich auf Sibylle von Neitschütz, die seit ihrem 14. Lebensjahr Mätresse des sächsischen Kurfürsten Johann Georg IV. (reg. 1691-94), zeitweise zugleich auch dessen Bruders, des berühmten Augusts des Starken war. Dieses – nach Meinung eines Zeitgenossen – „durchtrieben Weypsstücke“, das schon mit 19 Jahren starb, stürzte eines Tages in eine Sitzung des geheimen Rates in Dresden und schrie die ehrwürdigen Herren an mit den Worten „Damit Ir’s wisset: Ir seyed Mücken-Seiger und Kamels-Schlucker“. Die deutsche Eigenschaft, alle Kunstfertigkeit aufs maulgerechte Braten von Mücken zu legen, aber nebenbei Elefanten ganz zu verschlucken, oder anders gesagt: kleine Risiken zu Popanzen aufzublasen und große Risiken zu ignorieren, hatte die junge Dame also schon vor ungefähr 325 Jahren treffsicher diagnostiziert.
Heute harrt ein ganzer Mückenschwarm der sorgfältigen kulinarischen Verwertung: Sinnlose Grenzwerte für Stickoxide, Ozon oder Porzellanfarben, mittelalterlich-abergläubische Furcht vor Atomen, Hochspannungsleitungen oder Kondensstreifen. Oder das Bemühen, jedem der 56 entdeckten und vielleicht noch 5.000 unentdeckten Geschlechter ihrer jeweiligen Spezifik angepasste öffentliche Klosetts bereitzustellen und dabei auch gleich der Grammatik die patriarchalischen Zähne zu ziehen. Andererseits behandeln wir ganze Herden von Elefanten als vernachlässigbare Risiken, die klaglos geschluckt werden können, als da sind: Der Import paralleler Rechtssysteme, der Zerfall der Familie, Generationen von Schülern als Opfer pädagogischer Experimente, um sich greifender Analphabetismus, politisch erzwungener Vermögensentzug durch Entzinsung, Ruin einer ehemals leistungsfähigen Energieerzeugung, Verlust der Fähigkeit zu infrastruktureller Erneuerung und grünes Blut im Kreislauf der Kirchen.
Grund für all das ist selbstmörderischer Narzissmus. Er beherrscht das Land. Der herkömmlich denkende Mensch betritt sein Haus durch die Haustür, und es ist ihm schnuppe, was die Welt dazu meint. Der Deutsche will seinen Bewunderern gefallen, indem er die Tür zuschließt, den Schüssel wegwirft und durchs Schüsselloch ins Haus hüpft. Das Gelächter über seine selbstentworfenen Handicaps und seine Schmerzen beim Steckenbleiben deutet er als Beifall. Er ist fest davon überzeugt, dass die ganze Welt fortan nichts Dringenderes im Sinn haben werde, als dieses Kunststück von ihm zu erlernen und fleißig nachzumachen (kürzlich befragte ich einen rumänischen Sozialdemokraten über die Einhaltung der EU-Abgasnormen dortzulande, und er fragte zurück, ob ich keine anderen Probleme hätte).
Der Anblick der Deutschen Geschichte (genauer: dieser mörderischen zwölf Jahre) treibt dieses Land in einen Selbsthass, wie ihn kein anderes Volk auf Erden kennt. Und es treibt die Deutschen zu Taten: Hätte es dieses Hitler-Attentat von 2008 nicht gegeben, man müsste es erfinden: Der damals 41-jährige Frank L. aus Kreuzberg hätte sicher keinen Augenblick gezögert, um die Welt von Hitler zu befreien, wäre ihm nicht das grausame Schicksal zuteil gewesen, dafür zu spät geboren zu sein. Ähnlich, wie sexuell unbefriedigte Männer zuweilen zum Kauf von aufblasbaren Gummipuppen schreiten, schritt auch dieser junge Mann zum Surrogat: Er betrat das Wachsfigurenkabinett von Madame Tussaud in Berlin, Unter den Linden. Dann schubste er einen Wachmann beiseite und köpfte die dort ausgestellte Wachsfigur Hitlers. Damit war Deutschland um einen von Millionen echten, nachgeborenen Widerstandskämpfern reicher. Müßig zu sagen, dass diese Wachsfigur völlig unschuldig war.
Ein Teil der Wut der Westdeutschen auf die Ostdeutschen besteht darin, dass für Letztere die geschichtliche Schuld, die die Nazizeit über die Welt gebracht hat, und die auch die Ostdeutschen genau wie die Westdeutschen vorbehaltlos anerkennen, kein Grund ist, sich dem westlichen Selbsthass anzuschließen. Die Strapazen, die ihnen die DDR bereitete, haben nämlich einen Lebenswillen in ihnen geweckt, der im Westen unbegreiflich ist, weil er eine Lebenserfahrung von Ausgeliefertsein und nicht für möglich gehaltener Selbstbefreiung voraussetzt, die im Westen unbekannt ist. Der Ostler hat am eigenen Leib erfahren, dass die im Westen achtlos als Selbstverständlichkeit behandelten Güter von Freiheit und Wohlstand in Wahrheit alles andere als selbstverständlich sind, und dass die Selbstverzwergung des Westens Untergang bedeuten kann.
Die Gebrüder Grimm beschrieben in dem weisen Volksmärchen vom gestiefelten Kater ein gerissenes Filou, das einen übermächtigen Zauberer an dessen eigenem Narzissmus sterben lässt: „Ich habe gehört, daß du in jedes Thier nach deinem Gefallen dich verwandeln könntest; was einen Hund, Fuchs oder auch Wolf betrifft, da will ich es wohl glauben, aber in einen Elephant, das scheint mir ganz unmöglich, und deshalb bin ich gekommen und mich selbst zu überzeugen.“ Der Zauberer sagte stolz: „Das ist mir eine Kleinigkeit!“ … Der Kater stellte sich erschrocken und rief: „Das ist unglaublich und unerhört, dergleichen hätt‘ ich mir nicht im Traume in die Gedanken kommen lassen; aber noch mehr, als alles andere, wär es, wenn du dich auch in ein so kleines Thier, wie eine Maus ist, verwandeln könntest, du kannst gewiß mehr, als irgend ein Zauberer auf der Welt, aber das wird dir doch zu hoch seyn.“ Der Zauberer ward ganz freundlich von den süßen Worten und sagte: „o ja, liebes Kätzchen, das kann ich auch“ und sprang als eine Maus im Zimmer herum. Der Kater war hinter ihm her, fing die Maus mit einem Sprung und fraß sie auf.“
Die Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm, z.B. mit den großartigen Illustrationen von Werner Klemke, waren in der DDR jederzeit in gebundener Form erhältlich.

Arnold Vaatz ist ehemaliger DDR-Bürgerrechtler und seit 2002 Stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.