Meine ganze Kollektion von Arno Schmidt über Grass, Lenz, aber auch
Camus, Popper und selbst so alte Knaben wie Schopenhauer oder Nietzsche
waren auf der Buchmesse in Leipzig mit Einverständnis der Aussteller
geklaut oder Mitbringsel von Westbesuch, weil im Osten nicht gedruckt.
Wegen Papiermangel, wie es hieß. Dann ab 1977 auch Kunze, Biermann,
Heym. Deshalb war Westbesuch was Besonderes. Auch für die Kinder wegen
Lego und Walkman.
Einer unserer Besucher beneidete mich immer, weil ich das Glück
hatte, in der fortschrittlichen DDR zu leben. Und fiel aus allen Wolken,
von mir die Bitte zu hören, Reiner Kunzes „Die wunderbaren Jahre“
mitzubringen. Er fand sich widerstrebend bereit, es über die Grenze zu
schmuggeln und es mir zu übergeben, nicht ohne eine strenge Belehrung
darüber, dass dieses Buch – wie man heute sagt – „nicht hilfreich“ sei.
Ich überhörte das, die Rotwein-Stimmung machte mich gelassen, und ich
fragte ihn, was denn so im Westen jetzt, 1987, die angesagten Themen
seien. Es sei die beabsichtigte Volkszählung, sagte er, die es mit allen
Mitteln zu verhindern gälte. Was daran Schlimmes sei? „Ja verstehst Du
das nicht: Der Nazistaat wird rückfällig!“ Hitler habe auf diese Weise
die Wohnungen von Juden ausgekundschaftet. Beschnüffelt und bespitzelt
werde man in diesem Staat der Altnazis! Ich verkniff mir eine Antwort,
da ich mir angewöhnt hatte, verfängliche Gespräche nur im Freien zu
führen.
Beim Zu-Bett-gehen fragte ich meine Frau, was sie denn von unserem
Westfreund hielte. Ein liebenswerter Typ – meinte sie. Und dann folgten
diese drei kurzen Sätze, von denen ich damals nicht ahnte, dass sie die
Erfahrungen der nächsten dreißig Jahre meines Lebens mit nahezu der
gesamten westdeutschen Gesellschaft zusammenfassen sollten: „Aber eine kleine Unwucht hat er. Macht aber nix! Wir wollen nicht undankbar sein.“
Nach und nach leuchtete mir in den folgenden Jahren ein, welch
gewaltige deutsche Tradition meine Frau angesprochen hatte. Bei meiner
Beschäftigung mit sächsischer Geschichte stieß ich auf Sibylle von
Neitschütz, die seit ihrem 14. Lebensjahr Mätresse des sächsischen
Kurfürsten Johann Georg IV. (reg. 1691-94), zeitweise zugleich auch
dessen Bruders, des berühmten Augusts des Starken war. Dieses – nach
Meinung eines Zeitgenossen – „durchtrieben Weypsstücke“, das schon mit
19 Jahren starb, stürzte eines Tages in eine Sitzung des geheimen Rates
in Dresden und schrie die ehrwürdigen Herren an mit den Worten „Damit
Ir’s wisset: Ir seyed Mücken-Seiger und Kamels-Schlucker“. Die deutsche
Eigenschaft, alle Kunstfertigkeit aufs maulgerechte Braten von Mücken zu
legen, aber nebenbei Elefanten ganz zu verschlucken, oder anders
gesagt: kleine Risiken zu Popanzen aufzublasen und große Risiken zu
ignorieren, hatte die junge Dame also schon vor ungefähr 325 Jahren
treffsicher diagnostiziert.
Heute harrt ein ganzer Mückenschwarm der sorgfältigen kulinarischen Verwertung: Sinnlose Grenzwerte für Stickoxide, Ozon oder Porzellanfarben,
mittelalterlich-abergläubische Furcht vor Atomen,
Hochspannungsleitungen oder Kondensstreifen. Oder das Bemühen, jedem der
56 entdeckten und vielleicht noch 5.000 unentdeckten Geschlechter ihrer
jeweiligen Spezifik angepasste öffentliche Klosetts bereitzustellen und
dabei auch gleich der Grammatik die patriarchalischen Zähne zu ziehen.
Andererseits behandeln wir ganze Herden von Elefanten als
vernachlässigbare Risiken, die klaglos geschluckt werden können, als da
sind: Der Import paralleler Rechtssysteme, der Zerfall der Familie, Generationen von Schülern als Opfer pädagogischer Experimente, um sich greifender Analphabetismus,
politisch erzwungener Vermögensentzug durch Entzinsung, Ruin einer
ehemals leistungsfähigen Energieerzeugung, Verlust der Fähigkeit zu infrastruktureller Erneuerung und grünes Blut im Kreislauf der Kirchen.
Grund für all das ist selbstmörderischer Narzissmus. Er beherrscht
das Land. Der herkömmlich denkende Mensch betritt sein Haus durch die
Haustür, und es ist ihm schnuppe, was die Welt dazu meint. Der Deutsche
will seinen Bewunderern gefallen, indem er die Tür zuschließt, den
Schüssel wegwirft und durchs Schüsselloch ins Haus hüpft. Das Gelächter
über seine selbstentworfenen Handicaps und seine Schmerzen beim
Steckenbleiben deutet er als Beifall. Er ist fest davon überzeugt, dass
die ganze Welt fortan nichts Dringenderes im Sinn haben werde, als
dieses Kunststück von ihm zu erlernen und fleißig nachzumachen (kürzlich
befragte ich einen rumänischen Sozialdemokraten über die Einhaltung der
EU-Abgasnormen dortzulande, und er fragte zurück, ob ich keine anderen
Probleme hätte).
Der Anblick der Deutschen Geschichte (genauer: dieser mörderischen
zwölf Jahre) treibt dieses Land in einen Selbsthass, wie ihn kein
anderes Volk auf Erden kennt. Und es treibt die Deutschen zu Taten:
Hätte es dieses Hitler-Attentat von
2008 nicht gegeben, man müsste es erfinden: Der damals 41-jährige Frank
L. aus Kreuzberg hätte sicher keinen Augenblick gezögert, um die Welt
von Hitler zu befreien, wäre ihm nicht das grausame Schicksal zuteil
gewesen, dafür zu spät geboren zu sein. Ähnlich, wie sexuell
unbefriedigte Männer zuweilen zum Kauf von aufblasbaren Gummipuppen
schreiten, schritt auch dieser junge Mann zum Surrogat: Er betrat das
Wachsfigurenkabinett von Madame Tussaud in Berlin, Unter den Linden.
Dann schubste er einen Wachmann beiseite und köpfte die dort
ausgestellte Wachsfigur Hitlers. Damit war Deutschland um einen von
Millionen echten, nachgeborenen Widerstandskämpfern reicher. Müßig zu
sagen, dass diese Wachsfigur völlig unschuldig war.
Ein Teil der Wut der Westdeutschen auf die Ostdeutschen besteht
darin, dass für Letztere die geschichtliche Schuld, die die Nazizeit
über die Welt gebracht hat, und die auch die Ostdeutschen genau wie die Westdeutschen vorbehaltlos anerkennen, kein
Grund ist, sich dem westlichen Selbsthass anzuschließen. Die Strapazen,
die ihnen die DDR bereitete, haben nämlich einen Lebenswillen in ihnen
geweckt, der im Westen unbegreiflich ist, weil er eine Lebenserfahrung
von Ausgeliefertsein und nicht für möglich gehaltener Selbstbefreiung
voraussetzt, die im Westen unbekannt ist. Der Ostler hat am eigenen Leib
erfahren, dass die im Westen achtlos als Selbstverständlichkeit
behandelten Güter von Freiheit und Wohlstand in Wahrheit alles andere
als selbstverständlich sind, und dass die Selbstverzwergung des Westens
Untergang bedeuten kann.
Die Gebrüder Grimm beschrieben in dem weisen Volksmärchen vom gestiefelten Kater ein
gerissenes Filou, das einen übermächtigen Zauberer an dessen eigenem
Narzissmus sterben lässt: „Ich habe gehört, daß du in jedes Thier nach
deinem Gefallen dich verwandeln könntest; was einen Hund, Fuchs oder
auch Wolf betrifft, da will ich es wohl glauben, aber in einen Elephant,
das scheint mir ganz unmöglich, und deshalb bin ich gekommen und mich
selbst zu überzeugen.“ Der Zauberer sagte stolz: „Das ist mir eine
Kleinigkeit!“ … Der Kater stellte sich erschrocken und rief: „Das ist
unglaublich und unerhört, dergleichen hätt‘ ich mir nicht im Traume in
die Gedanken kommen lassen; aber noch mehr, als alles andere, wär es,
wenn du dich auch in ein so kleines Thier, wie eine Maus ist, verwandeln
könntest, du kannst gewiß mehr, als irgend ein Zauberer auf der Welt,
aber das wird dir doch zu hoch seyn.“ Der Zauberer ward ganz freundlich
von den süßen Worten und sagte: „o ja, liebes Kätzchen, das kann ich
auch“ und sprang als eine Maus im Zimmer herum. Der Kater war hinter ihm
her, fing die Maus mit einem Sprung und fraß sie auf.“
Die Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm, z.B. mit den großartigen Illustrationen von Werner Klemke, waren in der DDR jederzeit in gebundener Form erhältlich.
Arnold Vaatz ist ehemaliger DDR-Bürgerrechtler und seit 2002 Stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.