Stationen

Dienstag, 18. September 2018

Ein Aufrechtgehender ging von uns

Heute erreicht mich die Nachricht, dass Ulrich Schacht gestorben ist. Das ist keiner der Tode, mit denen zu rechnen war. Der Schriftsteller zählte 67 Jahre und befand sich, als ich ihn das letzte Mal sah, bei bester Laune und gesegnetem Appetit. Er war ein großer, kräftiger, wenn man so will lutherischer Kerl, von einer gewissen Gemütsverschattung und zugleich derbem Humor, der gern lachte und seine Melancholie mit Heiterkeit und Gottvertrauen umgab.

Im Interview in der aktuellen Ausgabe der Sezession sagt Jean Raspail: "Ich will mit aufrechten Menschen Umgang pflegen." Das ist eine gute Maxime. Schacht war ein Aufrechter. Kein Taktierer, kein Heuchler, kein Verräter. Einer der meinte, was er sagte. Ein Protestant alten Schlags.

Schacht kam am 9. März 1951 in Stollberg zur Welt. Sein Geburtsort legt den Gedanken nahe, er sei, wie u.a. ich, ein Erzgebirgler gewesen – aber das stimmt nicht. Er wurde im Frauengefängnis Hoheneck geboren, wo die SED-Genossen seine Mutter eingesperrt hatten. Tatsächlich war er ein Nordlicht. Er ist in Wismar aufgewachsen. Von 1970 bis 1973 studierte Schacht Evangelische Theologie in Rostock und Erfurt. 1973 wurde er wegen "staatsfeindlicher Hetze" zu sieben Jahren Freiheitsentzug verurteilt. 1976 kaufte ihn die BRD frei (würde sie heute wahrscheinlich nicht mehr tun). Als Sohn einer Antikommunistin im Gefängnis geboren und 22 Jahre später aus demselben Grund wie seine Mutter eingesperrt zu werden – das ist ein meines Wissens singulärer Fall. Fortan war Schacht ein Gezeichneter. Er besaß eine sehr dezidierte Meinung über linke Gesellschaftsexperimente. Dementsprechend entsetzt war er darüber, wie beharrlich westdeutsche Linke an deren Wiederholung arbeiteten (wenn dieser Begriff gestattet ist).     
Nach seinem Freikauf ging Schacht nach Hamburg, studierte Politikwissenschaften und Philosophie und verdingte sich als Feuilleton-Redakteur bei der Welt und der Welt am Sonntag. Sofort nach seinem deutsch-deutschen Seitenwechsel trat er in die SPD ein, von der er damals noch glaubte, es sei die Partei Bebels, Eberts und Kurt Schumachers. Die Illusion hielt, formell, bis 1992. Dann kehrte Schacht, der glühende Herbeisehner der deutschen Einheit in Freiheit, jener Partei den Rücken, die sich längst für ihre patriotische Vergangenheit schämte und mit Freiheit ohnehin nie besonders viel anfangen konnte.
Ich lernte Schacht 1993 kennen, als er gemeinsam mit seinem Freund und mehrfachen Co-Autor Heimo Schwilk den Sammelband "Die selbstbewusste Nation" publizierte, der im Post-68er Biedermeier viel Jaulen und Zähnefletschen auslöste. Er vertraute mir mehrfach an, wie sehr die linken Wortführer der West-Republik ihn ernüchtert hatten, wie er in diesem Milieu von Anfang an wegen seiner antisozialistischen Haltung auf Misstrauen und Ablehnung gestoßen war. Der DDR-Dissident wurde schließlich noch schneller zum BRD-Dissidenten als der Kommunist Trittin Minister. 1998 zog er die Konsequenzen und siedelte nach Schweden um. Ohnehin übte der Norden eine magische Anziehung auf ihn aus, immer wieder reiste er in die Polargegend, um "Gottes Schöpfung am zweiten Tag zu betrachten", wie er schwärmte. Viele seiner Gedichte fassen diese eisige Welt in lakonisch-poetische Worte, und noch in seiner letzten Mail an mich erinnerte er sich begeistert an seine erste Fahrt ins Franz-Joseph-Land anno 1991, eine "Wahnsinnsreise, wie zum Mond", der 1992, 1993 und 1995 drei weitere folgten. Im Eis war dieser Gebrannte offenbar glücklich.
Schachts Flucht aus und vor allem vor Deutschland ins Multikulti-Schweden – "alter Schwede" nannte ich ihn seither – mag in einem gewissen Sinn ein grotesker Wechsel "vom Regen in die Jauche" (Wolf Biermann) gewesen sein, doch er war durchaus optimistisch, dass die Schwedendemokraten das Land wieder auf einen christlich-freiheitlichen Weg führen könnten. "Hier tut sich was, keine Sorge", schrieb er mir, "das Ende der ideologischen Fahnenstange ist auch in Schweden erreicht, die Wahl steht drohend bevor, die Prozente für die SD steigen und steigen, das Lager der etablierten Wirklichkeitsverdränger und ideologischen Nutten bricht gerade auseinander!"
Ulrich Schacht, der Vater, Ehemann, Poet, Essayist, Romancier, Publizist und Großkomtur des St. Georgs-Ordens, ist nicht mehr unter uns. Er starb, offenbar an den Nachfolgen eines Herzinfarkts, am Sonntag in seinem Haus oberhalb von Förslöv, im Lesesessel sitzend, mit dem Blick aufs Meer. Fahr wohl, alter Schwede, und sei frei!    MK am 17. September


Auch der Sohn einer deutschen Mutter und eines sowjetischen Offiziers, den er erst spät und mühsam kennenlernen sollte, worüber er „ein literarisches Meisterwerk“ (FAZ) namens „Vereister Sommer“ (2011) schreiben sollte, auch dieser Sohn Ulrich verbrachte wegen „staatsfeindlicher Hetze“ Jahre im DDR-Gefängnis. Knapp drei, um genau zu sein, ehe er im November 1976 von der Bundesrepublik Deutschland freigekauft werden sollte. So kam der gelernte Bäcker und studierte Theologe nach Hamburg, studierte weiter Politologie und Philosophie, wurde Kulturjournalist bei der Tageszeitung „Die Welt“, hochdekoriert mit dem Theodor-Wolff-Preis des Jahres 1990. Auch als Schriftsteller, als Lyriker und Erzähler vor allem, erwarb er sich den Ruf des feingeistigen Solitärs, die Masse weder findend noch suchend. Den Eichendorff-Preis erhielt er 2013, den Preis der LiteraTour Nord dann 2016, nach Michael Köhlmeier und vor Tilmann Ramstedt. Ulrich Schacht war angekommen, anerkannt in der Bel Etage des literarischen Erzählens, erst recht mit seinem späten Romandebüt „Notre Dame“ (2017), einer doppelten Liebesgeschichte aus der Nachwendezeit.
In Erinnerung bleiben wird er mir als Seebär. So erschien er, ehe ich wusste, dass er in der Hansestadt Wismar aufgewachsen war, bei Großmutter, Mutter und Schwester, allein unter Frauen. Ob er je zur See fuhr? Niemanden vermochte ich mir passender am Steuerrad auf Holzplanken vorzustellen als diese bullige Gestalt mit nacktem Schädel, tief getönter Stimme, kollerndem Lachen, kecken kleinen Augen, kraftvollem Händedruck und immer, wirklich immer in Schwarz gekleidet, schwarze Hose, schwarzes Hemd, darüber ein zweites, dickeres, noch schwärzer, weit über den Gürtel reichend. Liturgisch streng war das und sehr bequem. Passend also für den Genussmenschen und orthodoxen Lutheraner, der 1987 die in Erfurt angesiedelte „Evangelische Bruderschaft St. Georgs-Orden“ gegründet hatte. Diese will „in protestantischer Gestalt und Substanz entschieden und streitbar die Wahrheit des Evangeliums in unserer Zeit und Gesellschaft leben und verbreiten.“
Wie verträgt sich derlei christliches Sendungsbewusstsein mit der Herausgeberschaft (gemeinsam mit Heimo Schwilk) des Sammelbandes „Die selbstbewusste Nation“ von 1995? War das die Lehre aus zwei Diktaturen: wieder wer sein wollen? Während Botho Strauß in seinem anlassgebenden Essay vom „Anschwellenden Bocksgesang“ den „Mut zur Sezession, zur Abkehr vom Mainstream“ forderte und die „Diktatur des Vorübergehenden“ beklagte, „an die die Medien das Volk gewöhnt haben“, dachte Schacht heilspsychologisch. Es sei „die Pflicht der Deutschen, von Auschwitz zu wissen“ und aus diesem Wissen „nicht Stigma, sondern Sorge“ erwachsen zu lassen: „Die einzige – allerdings umfassende und dauerhafte – praktisch-moralische und eben nicht lediglich rhetorisch-rituelle oder bloß finanzielle Konsequenz aus diesem Wissen ist die Sorge um Israel. Denn jeder neue mögliche Holocaust-Versuch an Juden findet dort statt, wo das jüdische Volk lebt, nirgends sonst.“
Ulrich Schacht war ein politischer Mensch mit der Gabe der schneidenden Prägnanz: „Rechts und links sind Stand-Punkte, auf die sich nur noch berufen kann, wer ein schlechtes Gedächtnis hat.“ Er konnte sich über gegenwärtige Meinungskorridore und Sprechverbote in langen Wortkaskaden ebenso empören wie über die Merkelsche Migrationspolitik, doch die zarte Seele hat den Seebär nie verlassen. Ganz schwingt sie aus in seinen Gedichten und in seiner wunderbar inwendigen Novelle „Grimsey“ von 2015 über die Reise eines Mannes auf eine fiktive, vor Island gelegene Insel. Dort angekommen, weiß der Mann „für einige Minuten nicht, welche Richtung er einschlagen sollte.“ Ulrich Schacht beantwortete diese Frage in seinem Schreiben und Leben mit der Wahrheit unter den Bedingungen des Tages, der meist keiner Wahrheit günstig gesonnen war: „Der Rhythmus, in dem er über die Straßen lief, ja schwebte, sein Pfeifen in Wind und Himmel hinein verrieten, dass er die kleinste Gelegenheit nutzen würde, abzuschweifen.“
Ulrich Schacht starb am 16. September 2018 im Alter von 67 Jahren im schwedischen Förslov, wo er seit 1998 wohnte.
Nachtrag: In einer ausrangierten Brieftasche finde ich ein Schnipselchen Text aus dem Jahr 1992. Es entstammt der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, ist „Herbst Brief“ überschrieben und ein Gedicht von Ulrich Schacht. Es geht so: „Verrat mir ein / Geheimnis. Oder mich. Oder / lösch ganz einfach das / Licht in deinem / Auge wenn du / gehst will // ich in der / Tür stehn die / Blätter zählen die der / Wind aufwirbelt ihre / Summe wissen wenn / sie wieder am / Boden // liegen: Das / Muster bergen das / unseren Augen / bleibt.“    Kissler