Mein Europa: Ostdeutsche, Osteuropäer und die Besserwessis
Die Menschen im früheren Ostblock sind anders als die im Westen: Sie
sind realistischer. Das gilt für "Osteuropäer" wie für "Ossis".
Idealismus ist für sie die Pforte zur Hölle.
Wer in Sachsen derzeit (west)deutsche Medienberichte über seine
Heimat sieht, hört oder liest, der dürfte sich so fühlen wie wir in
Ungarn, wenn deutsche Medien über unser Land schreiben: Man lernt darin
mehr über die geistige Befindlichkeit der Verfasser, als über das Land.
"Ostdeutsche" ist zu einem ähnlich verächtlichen Begriff geworden wie
"Osteuropäer". Die im Osten, so ist in oder zumindest zwischen den
Zeilen zu lesen, sind anders. Und anders, das ist schlecht, denn man
muss so sein wie Wessis.
Die im Osten sind geistig-moralisch
zurückgeblieben, dumm oder böse oder beides. Obrigkeitshörig,
demokratiefremd, rassistisch, ausländerfeindlich. "Ostdeutsche" und
"Osteuropäer" müssen noch viel lernen bis sie so erleuchtet sind wie die
Verfasser der jeweiligen Artikel. Und wahrscheinlich sind sie deswegen
so "hasserfüllt" (also böse), weil sie ihre "Vergangenheitsbewältigung"
vernachlässigt haben und geistig irgendwie, irgendwo noch in der
kommunistischen oder gar faschistischen Diktatur zuhause sind.
Das
netteste, was man über sie sagt und schreibt ist, dass sie "Ängste"
haben, die man "ernst nehmen" müsse. Aber letztlich haben sie nur
deswegen Angst, weil sie zu dumm sind, um zu erkennen, dass es in
Wahrheit gar kein Problem gibt außer vielleicht ihre eigenen
rassistischen Reflexe. Ein bisschen Umerziehung durch "Dialog" müsste da
doch helfen.
Es
ist kein neues Narrativ, das Ossi-Bashing. Neu ist eine ähnliche
Debatte bei uns in Ungarn: Warum sind die Westler eigentlich so
ideologisch verblendet, dass sie den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr
sehen können? Sind sie Opfer einer umfassenden Gehirnwäsche, oder warum
schreiben sie so einförmig so realitätsferne Dinge? Kurzum - dass wir im
Osten anders ticken als die im Westen, das ist inzwischen auch bei uns
ein Thema. Aber sind es wir, die EU-Ossis, die daneben liegen, oder sind
es die Wessis? Wie anders sind wir und warum?
Ja, die Menschen
im früheren Ostblock sind anders aufgewachsen als die im Westen. Sie
wussten immer, dass ihre Medien und Politiker lügen, weil sie in einer
Diktatur lebten. Ihre Reflexe sind deswegen instinktiv medienskeptisch
und regierungskritisch. Es ist das Gegenteil von obrigkeitshörig - man
unterstellt der Regierung immer, dass sie die Wahrheit verschleiert, und
dass von ihr Gefahr ausgeht. Man nimmt es frustriert hin, weil man
keinen Ärger will. Das geht so lange gut, wie technisch passabel regiert
wird. Wenn aber inkompetent regiert wird - so wie bei der
unkontrollierten Einreise von mehreren hunderttausend Menschen aus
fremden Ländern und Kulturkreisen, oder wenn wie in der Spätphase des
Kommunismus die Wirtschaft kollabiert - dann kann der Unmut so groß
werden, dass es zur Explosion kommt.
Da
man im Osten immer davon ausging, dass man von Politik und Medien nicht
korrekt informiert wird, informierte man sich anders. Nachbarn,
Freunde, Freunde von Freunden - im Osten wird viel mehr als im Westen
untereinander darüber geredet was mit den Menschen geschieht die man
kennt, und zieht daraus Rückschlüsse auf die Realität. Wir verstehen die
Welt darüber, was in unserem Umfeld passiert, und akzeptieren kein
interpretierendes Narrativ von "denen da oben".
Wenn jemandes
Kinder auf dem Schulhof von Migranten drangsaliert, Frauen sexuell
belästigt werden, ohne dass daraus ein aktenkundiges Verbrechen wird -
bei uns im "Osten" ist es sofort eine weit und schnell verbreitete
Nachricht, auch wenn es in den Medien gar nicht auftaucht. Und wir haben
darüber meistens eine sehr klare Meinung, nämlich dass nicht wir das
Problem sind, sondern die jeweiligen Migranten - und jene Politiker, die
sie ins Land ließen. Das stimmt auch dann, wenn die meisten Migranten
ganz nette, normale Menschen sind.
Die
Westler hingegen sehen die Welt im Lichte von Idealen, die ihnen von
Lehrern, Politikern und Medien beigebracht wurden. Da geht es nicht um
die Realität, sondern als späte Folge der 68er Bewegung, die die
Ideenwelt im Westen nachhaltig prägte - um "Werte". Alle Menschen sind
gleich. Vorbehalte gegen Menschen aus anderen Ländern sind Rassismus.
Religion ist ein Problem. Stolz und Liebe für das eigene Land ist
Nationalismus.
Das sehen wir im Osten anders: Die Menschen sind
nicht gleich, und die Völker der Welt sind keine "Brüder". Politik ist
nie "solidarisch", sondern kämpft um Macht und Interessen. Diese Phrasen
kennen wir aus den Parolen der kommunistischen Diktatur. Wir wissen,
dass sie hohl sind. Die Menschen im Osten interessieren sich für die
Realität, die im Westen wollen die Realität an ihre "Werte" anpassen und
erkennen sie deswegen oft gar nicht.
Insofern sieht man die
Ostdeutschen und die Ereignisse in Chemnitz bei uns so: Die Ossis sind
normal geblieben, sie sind wie wir. Deswegen haben sie auf die Ermordung
eines Bürgers so reagiert wie man bei uns auch reagiert hätte - mit Wut
und Unverständnis über die Politik. Boris Kálnoky
Boris Kálnoky, Jahrgang
1961, berichtet als Ungarn-Korrespondent für die "Welt" und andere
deutschsprachige Medien. Er ist Autor des Buches "Ahnenland" (Droemer
2011), in dem er sich auf die Spuren seiner Vorfahren begibt - unter
anderen des k.u.k. Außenministers Gustav Kálnoky.
Die Menschen im Osten haben nicht nur ein gesundes Misstrauen gegenüber Idealismus auf Grund ihrer Erfahrungen, sie haben außerdem noch ein unbeschwertes Gewissen, weil sie nie Kolonien besaßen wie die Westeuropäer. Unschuld macht unbefangen, Erfahrung macht realistisch und schlechte Erfahrungen machen wachsam.