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Samstag, 15. September 2018

Die einzige Stimme der Vernunft im SPIEGEL

So sieht also der Mann aus, den sie bei SPD, Linkspartei und Grünen für eine imminente Gefahr halten: ein Juristengesicht, dem jede polizeiliche Härte fehlt; eine Nickelbrille mit goldenen Rändern, wie man sie eher bei einem Büchermenschen erwartet; darüber ein Schopf dichter Haare, der viele seiner Generation neidisch machen muss. Glaubt man den warnenden Stimmen von links, dann darf man sich allerdings nicht täuschen lassen. Es ist das Gesicht eines Mannes, der sofort seines Amtes entbunden werden muss, weil er, wie es in einem Kommentar hieß, "den Verächtern der Demokratie in die Hände spielt".
Hans-Georg Maaßen hat in einem Gespräch mit der "Bild"-Zeitung die Aussagekraft des Videos in Zweifel gezogen, das als Beleg dafür gilt, dass es bei den Ausschreitungen in Chemnitz vor zweieinhalb Wochen zu "Hetzjagden" gekommen ist, wie es allenthalben hieß. Es gebe keine Belege, dass das Video authentisch sei, sagte er. Es sprächen sogar gute Gründe dafür, dass "es sich um eine gezielte Falschinformation handelt".
Viele haben das so verstanden oder verstehen wollen, als habe Maaßen das Video als Fälschung bezeichnet - so vermeldete es auch der "Faktenfinder" der "Tagesschau", womit diese Deutung gewissermaßen regierungsamtlich war. Maaßen selbst hat erklärt, dass sich das "es" in dem inkriminierten Satz nicht auf die materielle Qualität des Videos bezog, sondern auf das, was aus dem Film gemacht wurde: nämlich der Beweis für die in Rede stehende Jagerei.


Darf man von dem Präsidenten einer Behörde wie dem Verfassungsschutz erwarten, dass er sich so präzise ausdrückt, dass man ihn nicht missverstehen kann? Das darf man. Kommt es öfter vor, dass sich Menschen in Führungspositionen unklar ausdrücken? Auch das ist der Fall, Gott sei es geklagt. Im Nachgang zu den Protesten in Chemnitz haben sowohl der Regierungssprecher als auch der Bundespräsident ebenfalls keine gute Figur gemacht, weil sie durch Äußerungen oder Sympathiebekundungen Raum für Interpretationen schufen, die ihrem Ansehen abträglich waren.

Das eigentliche Vergehen des Verfassungsschutzchefs ist ein anderes. Maaßen gehört zu den Leuten, die in den verrückten Monaten nach der Grenzentscheidung der Kanzlerin im Kanzleramt vorstellig wurden, um vor den Folgen zu warnen. So wie er es sah, war es unverantwortlich, Hunderttausende Menschen unkontrolliert ins Land zu lassen. Maaßen ist von Berufs wegen mit der Terrorabwehr befasst - er weiß, wie sehr es die Arbeit der Sicherheitsbehörden erschwert, wenn man nachträglich erst einmal die Identität von Leuten klären muss.
Lag er mit seiner Einschätzung falsch? Leider nicht, wie wir heute wissen. Man kann die Uhr danach stellen: Bei vielen aufsehenerregenden Übergriffen der letzten Zeit, an denen Ausländer beteiligt waren, trugen die Tatverdächtigen entweder gefälschte Papiere bei sich oder ihr Asylantrag hat sich als unbegründet erwiesen und sie hätten längst das Land verlassen müssen. Oder es gilt alles zusammen. Doch eigenartig: Dies erregt die erregungsbereite Öffentlichkeit weit weniger als die Ungeschicklichkeit des obersten Verfassungsschützers bei der Bewertung einer 19 Sekunden langen Filmsequenz.


Ein Vorwurf lautet, der Präsident habe die Neutralitätspflicht verletzt. Ein Beamter in seiner Position dürfe sich nicht wie ein Politiker äußern. Hören sich die Leute, die so etwas sagen, eigentlich selbst beim Sprechen zu? Wollen sie wirklich sagen, dass es einem Beamten nicht zusteht, in der Öffentlichkeit zu politischen Themen Stellung zu nehmen?
Vom Leiter des Bundesamtes für Verfassungsschutzes zu erwarten, er solle sich nicht politisch äußern, ist etwa so, als würde man von einem Priester verlangen, er solle zu theologischen Fragen schweigen. Zu Maaßens Kernaufgabe zählt es, Bewertungen zu politischen Bewegungen abzugeben. Wie sollte das auch anders gehen? Wer sich mit Extremismus beschäftigt, hat mit Leuten zu tun, deren Überzeugungen so stark sind, dass sie bereit sind, dafür alles zu opfern, manchmal sogar das Leben. Noch politischer wird es nicht.

Gemeint ist auch hier etwas anderes: Ein Beamter dürfe der Regierungschefin nicht widersprechen, das ist es, was die Kritiker sagen wollen. Oder glaubt jemand ernsthaft, Maaßen wäre in der Bredouille, wenn er der Einschätzung beigepflichtet hätte, dass Chemnitz ein Fanal für einen verhängnisvollen Rechtsruck ist? Eine Bundesregierung könne nicht zulassen, "dass der Verfassungsschutzchef offen gegen die Bundeskanzlerin intrigiert", schrieb Robert Habeck auf Twitter. Dass ausgerechnet die Grünen Regierungskritik zum Entlassungsgrund erklären, ist eine Pointe, die man sich nicht besser ausdenken kann.


Ob Maaßen das fröhliche Halali überleben wird, daran entscheidet sich nicht die Sicherheit des Landes. Niemand scheint sich allerdings zu fragen, wie diese Treibjagd auf die Männer und Frauen wirken muss, von deren Einsatz es abhängt, ob wir auch morgen noch ruhig schlafen können. Auch wenn das zwischenzeitlich aus dem Bewusstsein gerutscht zu sein scheint: Die innere Sicherheit wird nicht von Herrn von Notz oder Herrn Bartsch gewährleistet, die sich mit Rücktrittsforderungen überbieten, auch nicht von Frau Göring-Eckardt oder der SPD-Spitze. Sie hängt an Menschen, die unter zum Teil hohem persönlichen Risiko alles daran setzen, dass die Demokratiefeinde aus dem Verkehr gezogen werden, bevor sie anderen ernsthaft schaden können.
Man kann den beim Verfassungsschutz Beschäftigten bedeuten, dass man sie für zwielichtige Figuren hält, die insgeheim mit den Leuten sympathisieren, die sie beobachten sollen. Man kann ihrem obersten Repräsentanten empfehlen, er solle seinen "Aluhut" nehmen, wie das der famose Kevin Kühnert für angezeigt gehalten hat. Man kann auch die Auflösung des gesamten Bundesamtes fordern, wie das die Grünen tun. Man darf sich nur nicht wundern, wenn die derart Belächelten und Gescholtenen irgendwann beschließen, dass sie ihre Bemühungen auch einstellen können, weil ihre Arbeit für überflüssig oder gar schädlich erachtet wird.   Fleischhauer