Ich gebe zu, dass ich schon einige Wochen um das „Benefit-Life“
herumgeschlichen bin. Eine neue gastronomische Großtat wie ein Café –
laut Eigenaussage „menschlich-biologisch-lebenswert“ – ist in einem
Schtetl wie meinem immer noch eine kleine Sensation. Und wer außen an
dem Laden vorbeiläuft, kann innen drin viele junge Menschen und noch
mehr junge Mütter feststellen, die sich da ihren Chai-Latte gönnen,
während ihre Männer, ganz klassisch und konservativ, vor Zahnarztstühlen
sitzen und an Zähnen feilen oder vor Richtertischen stehen, um
nachbarschaftliche Ungereimtheiten zu klären. Natürlich bin ich ein
neugieriger Mensch – einerseits – aber meine Neugierde würde mich nie
unbewaffnet in eine Höhle treiben, aus der Bärengebrumm zu hören ist.
Und so ist es einmal mehr der Schatz, der mich nach einem Besuch im Hunkemöller unterhakt und mit einem energischen „Das sehen wir uns heute mal an“ ins „Benefit-Life“ schleppt.
Die Türe öffnet sich mit einem freundlichen „Klingeling“, ungefähr
so, wie der Sound des Glöckchens, mit dem meine Mutter uns Kinder an
Weihnachten die Bescherung ankündigte. Es ist später Samstagvormittag,
und das „Benefit-Life“ ist schon ganz gut gefüllt. Gleich zwei Männer
mit nicht mehr ganz modernem Haardutt sitzen mit ihren gepiercten
Lebensabschnittsgefährtinnen auf so Ikea-Hockern herum und glotzen in
ihre Handys, drei junge Mädels, eben aus der Pubertät heraus, sitzen an
einer Art „Mutters Esstisch“ aus gebeiztem Kiefernholz und zeigen sich
kichernd gegenseitig ihre Instagram-Bilder, zwei Mütter mit Kleinkindern
auf dem noch fruchtbaren Schoß und raumgreifenden Kinderwägen besetzen
einen weiteren Tisch, und ein Herr in meinem reiferen Alter im
Profifahrradfahrerkasperanzug mit halber Helmnuss auf dem Kopf studiert
die Kuchenauslage.
Das „Benefit-Life“ ist hell und freundlich eingerichtet, allerdings
wandert das Ambiente von „gemütlich-rustikal“ im Gastraum selbst über
„Wiener Café“ ab Kopfhöhe bis oberes Drittel des Raumes, bis es sich
schließlich unter der in Schwarz gestrichenen Decke in „New Industrial“
mit offenen Rohren und Schläuchen wandelt. Kann man mögen, muss man
nicht mögen. Ich mag es nicht. Aber der Schatz ist total verzückt und
meint, „das wäre ja cool“.
Hinter dem Tresen steht eine junge Frau, was in meinem Alter
bedeutet, dass sie unter Vierzig sein muss. Ich schätze sie mal auf
Fünfundzwanzig, aber das hat mich auch einen Scheißdreck anzugehen. Ich
war eben mit dem Schatz im Hunkemöller. Ich erwähne es nur wegen der
Vollständigkeit. Sie ist leidlich hübsch und dezent geschminkt, sieht
uns erwartungsvoll an und sagt: „Was darf ich Euch aufschreiben?“ Ich
unterdrücke ein spontanes „Ihre Handynummer“ und schaue erwartungsvoll
auf den Schatz, der mit einem freudigen „Oh, schau mal, Macarons!“ ein
Regal mit mehreren bunt gefüllten Einmachgläsern mustert. „Ich hätte auf
jeden Fall gerne einen Kaffee“, sage ich der jungen Barista mir
gegenüber. „Okay“, antwortet sie, „und welchen hättest Du gerne?“
Moment. Hat sie mich eben geduzt? Kenne ich sie? Ist sie eine
Bekannte oder Verwandte, vielleicht sogar irgendeine uneheliche Tochter,
von der ich nie erfuhr, da ich mit Bettina nur drei Monate zusammen
war, weil sie mir mit ihrer überkandidelten Art dann tierisch auf den
Schweif ging? Nein, ich war damals 16 und ein Spätzünder, das kann nicht
sein. Warum also duzt sie mich? „Was haben SIE denn im Angebot?“, frage
ich betont. Aber entweder ist sie taub oder unsensibel oder es ist
einfach die Linie des „Benefit-Life“, seine Gäste zu duzen.
„Du hast die Auswahl zwischen Espresso, Espresso Macchiato, Flat
White, Cappuccino, Café Crème, Caffè Latte, Latte Macchiato, Americano,
Chai Latte, Ristretto, Lungo, Doppio oder Caffeè Mocha. Was darf ich Dir
bringen?“, geht sie das Komplettkaffeeprogramm mit mir durch und ich
bin ob ihrer Gedächtnisleistung jetzt doch etwas eingeschüchtert und
traue mich schon gar nicht mehr, „einfach nur einen blöden Kaffee, Du
Mäuschen“ zu sagen. „Kann ich das im Mittelteil noch einmal hören?“,
höre ich mich selbst fragen und sehe den Schatz aus dem Augenwinkel die
Augen rollen. Die Barista lächelt mich wie eine Mutter ihr
schwachsinniges Kind an und bleibt gelassen:
„Schau doch mal selbst auf die Karte“, schlägt sie, mich stur duzend,
vor und deutet mit dem linken Zeigefinger über ihren Kopf. Dort sind
auf einer Schiefertafel mit Kreide all die bunten Kaffees
aufgeschrieben, nebst Preisen, für die das Wort „Wahnwitz“ extra
erfunden wurde. So kostet ein argloser Latte Macchiato irre vier Euro,
für die ich im „SternBack“ schräg gegenüber vier Kaffee im Pappbecher
bekomme und für 12 Euro eine komplette Fußballmannschaft nebst Trainer
ausstatten kann. Dafür werde ich aber nicht angeduzt.
„Ich bekomme einen Chai Latte und dazu ein Stück Apfelkuchen und drei
Macarons“, verkündet der verräterische Chatze Macchiato und ich stehe
ratlos vor der Elfenkönigin und reibe mir das Kinn. „Tee?“, frage ich
schüchtern. „Bringe ich Dir gerne“, antwortet die Göttin der
Kaffeeologie, „welchen willst Du denn haben?“ „Was kostet bei IHNEN denn
eine harmlose Tasse unschuldigen Earl Greys?“, gehe ich in die
Verhandlung. „Drei Euro zwanzig, mit Minze drei Euro fünfzig, mit Minze
und Honig drei Euro achtzig...“ „...und was muss ich noch dazu nehmen,
damit ich die vier Euro-Schwelle für heißes Wasser mit einem Teebeutel
knacke?“, unterbreche ich ihre Aufzählung und merke, wie ich langsam
Adrenalin ziehe. Aber sie bleibt cool und lächelt. Jetzt irgendwie kalt,
wie mir scheint: „Wenn Du noch Milch dazu nimmst, dann kämen wir auf
vier Euro zehn“, erklärt sie ungerührt. Der Schatz kennt mich und wird
unruhig. Er weiß, dass ich kurz vor einer Eskalation stehe. „Thilo, lass
es...“, sagt sie, aber es ist zu spät.
„In diesem Falle hätte ich VON IHNEN gerne ein Glas kaltes
Leitungswasser. Gerührt, nicht geschüttelt, außerdem ungeduzt“, gebe ich
meine Bestellung auf. Ihr Lächeln gefriert für einen kurzen Moment und
in dieser Sekunde sehe ich die wahre Nicht-Bettinas-und-meine-Tochter.
Den kleinen hilflosen Menschen in einer für ihn unbekannten Situation.
Jungfräulich. Irritiert. Überrascht. „Ich zahle einen Euro“ biete ich an
und fummle in meiner Jackentasche nach einem Geldstück. Sie gewinnt
ihre Fassung wieder: „Dafür nicht, das geht für SIE aufs Haus!“ Jetzt
lächelt sie wieder. Aber freier, echter, ehrlicher. „Ganz im Ernst“,
flüstert sie, „mir geht das Geduze auch auf die Eierstöcke. Und außerdem
lade ich Sie auf einen simplen Kaffee ohne alles ein!“, fügt sie hinzu.
Und ich freue mich auf ein Glas Leitungswasser und einen Kaffee – und
sie sich anschließend über fünf Euro Trinkgeld. Seitdem sind wir per
Du, wenn wir uns sehen. So geht das. So und nicht anders.
(Weitere persönliche Geschichten des Autoren auf www.politticker.de )
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.