Bei einem Besuch in London habe ich vor einigen Jahren ein Buch mit
dem schönen Titel „Strange Days Indeed: The Golden Age of Paranoia“
erstanden. Der Autor Francis Wheen beschreibt darin die seltsam fiebrige
Stimmungslage Mitte der siebziger Jahre, als die eine Hälfte im Westen
den Untergang der Zivilisation wegen der Hippie-Kultur für
unausweichlich hielt und die andere Hälfte die Menschheit den Atomtod
sterben sah. Auf dem Rückumschlag ist ein Mann abgebildet, der an einem
Strand an lauter Badenden mit einem Schild vorbeiläuft, auf dem „The End
Is Near“ steht.
Die Untergangsangst ist zurück. Selbst kluge Köpfe sind von der
Überzeugung befallen, dass das Ende der Menschheit kurz bevorstehe,
diesmal nicht wegen der Atom-, sondern wegen der Klimakatastrophe. Sie
könne weinen, wenn sie daran denke, wie gering die Chancen ihrer Tochter
seien, anno 2076 60 Jahre alt zu werden, schrieb neulich Marina
Weisband, eine durchaus nachdenkliche Frau, die sich nach ihrem
Ausscheiden bei den Piraten als Digitalexpertin einen Namen gemacht hat.
Lassen Sie uns nicht darüber diskutieren, wie berechtigt oder
unberechtigt Ängste sind. Ich selbst halte es für extrem
unwahrscheinlich, dass die menschliche Rasse ab dem Jahr 2076 nicht mehr
existieren wird. Menschen neigen nun einmal zu Zwangsvorstellungen.
Eine Freundin von mir kann über keine Brücke fahren. Sie ist von der
Angst geplagt, dass die Brücke in dem Moment, in dem sie darüberfahren
würde, einstürzen könnte, deshalb nimmt sie bei Reisen entsprechende
Umwege in Kauf. Es ist völlig sinnlos, sie auf die Unwahrscheinlichkeit
des von ihr befürchteten Ereignisses hinzuweisen.
Nehmen wir also an, wir alle seien dem Hitzetod geweiht. Wäre es dann
nicht an der Zeit, über die einzige Maßnahme nachzudenken, die geeignet
ist, das Schicksal abzuwenden? Nach Lage der Dinge gibt es nur eine
Energiequelle, die verlässlich ist und gleichzeitig klimaneutral, und
das ist die Atomenergie. Was die CO2-Bilanz angeht, ist die Kernkraft
sogar der Solarenergie überlegen. Nur Windenergie und Wasserkraft können
klimapolitisch mithalten.
Wo ich mit den Apokalyptikern übereinstimme, ist der Pessimismus, die
Erderwärmung ließe sich durch Selbstdisziplin begrenzen. Ich glaube,
Leute wie Marina Weisband haben zu 100 Prozent Recht, wenn sie der
Politik die Fähigkeit absprechen, das Ruder noch rechtzeitig
herumzureißen. Bis wir so weit sind, dass wir den Laden mit Sonne und
Wind am Laufen halten, sind die Eisberge längst geschmolzen.
Ich kenne alle Argumente gegen die Nutzung der Kernenergie. Die Frage
der Müllentsorgung ist nicht hinreichend geklärt. Es gab in der
Vergangenheit mehrere schwere Unfälle. Aber wenn ich davon ausgehe, dass
nur wenige Monate bleiben, um zu verhindern, dass die Erde unbewohnbar
wird, ist es dann nicht klüger, auf eine Technologie zu setzen, bei der
nur ein theoretisches Risiko besteht, dass sie uns im Stich lässt?
Bislang hieß es: Ja, sicher, dass sich Tschernobyl oder Fukushima
wiederholen, ist extrem unwahrscheinlich – aber ein Atomunfall reicht,
um einen ganzen Landstrich zu verwüsten. Dieses Argument hat sich
erledigt. Wenn wir weitermachen wie bisher, so sagen uns die
CO2-Experten, dann ist nicht nur ein Landstrich verwüstet, sondern der
ganze Globus.
Auch an der Kernkraft ist der Fortschritt nicht vorbeigegangen, das
kommt hinzu. Die neuen Meiler haben mit den alten AKWs, von denen bei
uns die letzten 2022 außer Betrieb gehen, kaum etwas gemein. Moderne
Reaktoren, die auf flüssiges Natrium als Kühlmittel setzen, wären in der
Lage, aus abgebrannten Brennelementen Energie zu gewinnen, was auch den
Blick auf das Problem mit dem Atommüll schlagartig ändert.
Tatsächlich kommt eine ganze Reihe von Experten zu dem Schluss, dass
nur eine Renaissance der Atomenergie uns vor einem globalen Anstieg der
Temperaturen bewahren kann. Selbst Greta Thunberg hat in einem
unbedachten Moment zu erkennen gegeben, dass sie in der Kernkraft einen
positiven Beitrag sieht.
„Atomkraft kann laut Weltklimarat IPCC ein
kleiner Teil einer großen neuen, kohlenstofffreien Energielösung sein“,
postete sie auf Facebook. Sie hat das dann mit Rücksicht auf die
Befindlichkeit der „Fridays for Future“-Aktivisten relativiert, indem
sie ein paar Tage später hinzusetzte, sie persönlich sei natürlich gegen
die Kernkraft. Aber das war eher ein taktisches Manöver.
Es ist mitnichten so, dass die Kernenergie tot ist. Sie spielt nur in
Deutschland keine Rolle mehr. Schon ein paar Kilometer jenseits der
deutschen Grenze, in Frankreich, stehen die ersten von insgesamt 58
Reaktorblöcken, von deren Stromerzeugung wir übrigens unmittelbar
abhängen, wenn bei uns der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint.
Auf der anderen Seite, in Tschechien, verrichten insgesamt sechs
Atommeiler ihren Dienst, ohne dass jemand daran denkt, sie abzuschalten.
So kann man fortfahren: Schweiz fünf Meiler, Belgien und Spanien je
sieben. Selbst das wegen seiner Klimaneutralität gelobte Schweden mag
nicht auf die Kernenergie verzichten. In Finnland, das bereits über vier
Reaktoren verfügt, wird gerade um einen Neubau gerungen.
Ich habe Angela Merkel vor ein paar Jahren einmal gefragt, was sie
dazu bewogen habe, über Nacht die deutsche Energiepolitik umzustoßen. Im
Nachhinein ist die Entscheidung, das Land vom Atomstrom abzukoppeln,
möglicherweise der schwerwiegendste Fehler ihrer Regierungszeit.
Auch sie habe es mit der Angst zu tun bekommen, als sie die Bilder
aus Fukushima gesehen habe, gab die Kanzlerin als Antwort. Das fand ich
für eine Frau, der man nachsagt, kühl kalkulierend auf die Welt zu
sehen, eine bemerkenswerte Aussage. Es wurde dann im weiteren Verlauf
der Diskussion noch etwas hitzig, weil ich erwiderte, dass ich nicht
gedacht hätte, dass eine CDU-Kanzlerin einmal wie Claudia Roth reden
würde.
Vielleicht hat Angela Merkel mit ihrer Entscheidung auch einfach der
deutschen Gemütslage Rechnung getragen. Die Wahrheit ist ja, dass von
den Unionsanhängern unter dem Eindruck von Fukushima ebenfalls eine
Mehrheit für die Sofortabschaltung aller hiesigen Kernkraftwerke war. Es
ist in Japan kein Anwohner wegen Strahlen gestorben, die Toten waren
alle Opfer des Tsunamis. Aber was zählen schon Zahlen, wenn das Gefühl
regiert?
Die Strahlenangst gehört zur deutschen Identität. So wie die Liebe
zum Auto, der Widerwille gegen das Tempolimit und die besondere
Wertschätzung von schön dicht schließenden Fenstern. Man kann das auch
politisch einordnen. Je weiter jemand nach links tendiert, desto größer
seine Strahlenangst, weshalb schon die Anschaffung einer Mikrowelle in
jedem sozialdemokratischen Haushalt eine große Sache war, wie ich aus
eigenem Erleben weiß.
Vielleicht sollten wir die Klimakrise nutzen, an uns selbst zu
arbeiten. Manchmal führt eine Krise ja dazu, dass man über sich selbst
hinauswächst. Das gilt auch für Nationen. Jan Fleischhauer
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