„Die dümmsten Bauern ernten die dicksten Kartoffeln“ ist kein
Sprichwort, das vor Veralterung geschützt ist. Seine moderne
Fortschreibung in dem Sinne, dass schwer Beschulbare die klügsten
Beiträge zur Künstlichen Intelligenz liefern, würde nicht einmal
Heiterkeit hervorrufen.
Auch in der Landwirtschaft selbst kann sich niemand mehr auf bloßes
Glück verlassen. In der dörflichen Schulzeit des 1943 geborenen Autors
wurden die Bauernsöhne noch beneidet, weil ihnen die Väter das
Schulschwänzen nachsahen oder gar ermöglichten, solange sie auf dem Feld
mit anpackten. Heute errechnen Computer
„per Algorithmus Regenwahrscheinlichkeiten und Bodensensoren ideale
Erntetermine. Drohnen überwachen Felder. Smartphones informieren die
Bauern über die ‚Vitaldaten‘ ihrer Tiere im Stall. [...] Mehr als jeder
zweite Landwirt (53 Prozent) nutzt digitale Lösungen.“
Auch unterhalb der Algorithmen Künstlicher Intelligenz können – etwa
im Kamera- oder Telefonbau – nur solche Nationen noch mithalten, deren
Menschen über exquisite kognitive Fähigkeiten verfügen. Als Deutschland
bei diesen Industrien im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts seine
Weltführerschaft verliert, ist man nicht gescheit genug, die Gründe
dieses Verlusts zu verstehen. Japaner – so hieß es stattdessen lange –
seien nicht innovativ genug, um eigenständig solche Produkte zu
entwickeln. Aus einer Verbindung von Industriespionage und geringen Löhnen sei es
dann ein Leichtes gewesen, die Weltmärkte zu erobern.
Doch Südasien
oder Lateinamerika, Afrika oder Nahost werben mit noch geringeren
Löhnen. Warum haben diese Territorien vor einem halben Jahrhundert nicht
ebenso nach den deutschen Spezialitäten gegriffen? Warum tun sie es
auch heute nicht, obwohl ihre Lohnvorteile noch gewachsen sind? Warum
nehmen Spanien oder Griechenland ihre Chance nicht wahr, obwohl ihre
Löhne weit unter den japanischen liegen? Die 350 Milliarden Euro etwa, die seit 2010 als Geschenk und Vorzugskredite in die Griechenlandrettung fließen, sollen ausdrücklich die Rückkehr der Hellenen auf die Weltmärkte sicherstellen. Ungeachtet der knapp 100.000 Euro Fremdhilfe pro Arbeitskraft fallen die – ohnehin niedrigen – Hightech-Exporte allein zwischen 2016 und 2017 noch einmal um 15 Prozent.
Nur wer kapiert, kann auch kopieren und das Stibitzte dabei gleich so
verbessern, dass der Bestohlene so deutlich übertroffen wird, dass er
die Aufholjagd nicht mehr bewältigt. Wirklich schlecht steht es um all
die Wettbewerber, die bei der Industriespionage nicht mithalten können,
weil ihnen die geistigen Fähigkeiten zum Stehlen hochkarätigen geistigen
Eigentums nicht zu Gebote stehen.
Im März 1970 bringt Time Magazine eine Titelgeschichte mit der Schlagzeile „Toward the Japanese Century“.
Osaka veranstaltet die erste Weltausstellung im Land der aufgehenden
Sonne. Man registriert, wie der Inselstaat ein Vierteljahrhundert nach
den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki seinen Angriff auf die
Weltmärkte vorantreibt, aber man versteht ihn nicht.
Unter den 3,7 Milliarden Erdbewohnern von 1970 gibt es nur 104 Millionen Japaner. Gleichwohl sagt Thomas Zengage noch 1989 in „The Japanese Century“
voraus, dass die ökonomische Führung des 21. Jahrhunderts in Nippons
Hand liegen werde. Noch im selben Jahre 1989, am 29. Dezember, erreicht
der Nikkei 225 mit fast 39.000 Punkten seinen welthistorisch höchsten
Stand. 1991 ist er auf 23.000 abgestürzt. Die Japan-Besessenheit
erlischt.
Die Wissenschaftler sind blamiert. Die zentralistische
Industriepolitik durch das MITI-Ministerium, mit der westliche
Wissenschaftler das „Wunder“ gerne erklärt hatten, verliert ihren
Einfluss. Japans Anteil am Weltsozialprodukt fällt
von 17,9 (1994 mit 2,3 Prozent der Weltbevölkerung) auf 6,6 Prozent
(2016 mit 1,7 Prozent der Weltbevölkerung). „Verlorene Jahrzehnte“
werden zum negativ besetzten Dauerschlagwort für das Inselreich und
alle, die seinem Schicksal nachfolgen könnten.
Groß ist damals die Schadenfreude über den Crash der Tokioter Börse.
Die Asiaten erweisen sich als fehlbar, glaubte man. Entsprechend erhofft
man sich auch heute insgeheim viel von anstehenden Finanzkrisen in
China zugunsten der eigenen Konkurrenzfähigkeit. Die werden kommen und
sich auch wiederholen, weil Krisen zur Eigentumsökonomie gehören wie
Zins und Geld.
Doch bei genauerem Hinschauen liegt Japans Effektivität
in der industriellen Produktion – auf die weltweit rund zwei Drittel
des Forschungsaufwands entfällt. 2016 immer noch auf dem zweiten Platz
hinter Deutschland, das allerdings beim Einfluss seiner Innovationen auf
die globale Industrieproduktion um 50 Prozent übertroffen wird. Das verweist darauf, dass die japanische Forschung und Entwicklung disruptiver und damit zukunftsorientierter ist.
Da Krisen alle treffen, ist es aufschlussreicher, sich auf die
Potenzen zu konzentrieren, mit denen es nach einer Krise wieder aufwärts
gehen kann. Erfindungsgeist, der zuvor da ist, sollte – solange ein
demografischer Kollaps ausbleibt – auch anschließend noch zur Verfügung
stehen. Dasselbe gilt für Zähigkeit und Fleiß. Wo diese Komponenten
zuvor stärker sind als bei der Konkurrenz, werden sie es auch danach
sein. Hiroshima und Nagasaki waren schneller wiederaufgebaut als viele
flächenbombardierte Städte in Deutschland.
So kann nicht überraschen, dass die besten Kameras auch 2019 immer
noch von japanischen Unternehmen entworfen werden, obwohl man sie
überwiegend in China bauen lässt. Kein Konkurrent – mit der Ausnahme
anderer Ostasiaten – hat sich diesbezüglich Japans langjährige
Finanzkrise zunutze machen können.
Auch nach ökonomischen Krisen bleibt die Cognitive Ability intakt.
Im Gegenzug machen hingegen Zölle auf asiatische Waren die westlichen
Hersteller nicht klüger. Dasselbe gilt für das Verbot des Aufkaufens
westlicher Firmen durch ostasiatische. Das empfehlen schon damals
gegenüber Japan nicht nur Politiker, sondern auch begabte Gelehrte.
Gegen China wiederholt sich das etwa mit Jonathan Holslags Werk The Silkroad Trap. How China’s Trade Ambitions Challenge Europe.
Der aktuelle Versuch, Chinas Patente-Weltsieger Huawei von
amerikanischen und europäischen Lieferanten abzuschneiden, mag beim
Publikum gut ankommen. Westliche Firmen wie Google aber fürchten, heute
einen guten Kunden zu verlieren, der morgen die bisher bei ihnen
gekauften Produkte in höherer Qualität und zu besseren Preisen der
gesamten Menschheit anbieten wird.
Sie verstehen, dass harte Bandagen zum Einhalten der Spielregeln das
große Überholmanöver Chinas bestenfalls verlangsamen, nicht aber beenden
kann.
Aufkaufabsichten mögen Eigentümer und Belegschaften beunruhigen.
Wirkliche Probleme aber haben Firmen, die fürs Aufkaufen oder
Ausspionieren nicht mehr interessant genug sind. Ihnen fehlt
offensichtlich das Talent zum „Gegendiebstahl“ oder zum Ausweichen in
voranweisende Technologien in anderen Gebieten. Wären sie dazu imstande,
würden sie ja das durch Ostasiaten Gestohlene und für den
Konkurrenzsieg umgehend Verbesserte ihrerseits stehlen, weiter
verbessern und sich damit für eine neue Runde im ökonomischen Rennen
attraktiver machen. Wo man das nicht kann, wird die Übernahme durch
kognitiv Überlegene keineswegs zu einer Drohung, sondern zur letzten
Hoffnung, weil sie Talentpools fürs Überleben eröffnet, die bei
nationalistischer Blockade nicht zur Verfügung stünden.
Ein hohes Durchschnittsalter der Übernehmenden ist in sich genauso
wenig ein Problem, wie Jugendlichkeit als solche einen Vorteil
darstellt. Auch das lässt sich an Japan belegen. Seine Beständigkeit auf
dem dritten Rang der Wirtschaftsmächte (nach USA und China) wirkt noch
bemerkenswerter, wenn man sich bewusst macht, dass seit 1970 die
Weltbevölkerung und damit die potenzielle Konkurrenz um fast vier
Milliarden Menschen zugelegt hat. Damals europäische Spitzenindustrien
mit nur einem von fünfunddreißig Weltbürgern zu übernehmen, bleibt
sensationell genug. Sie heute mit nur einem von siebzig souverän
verteidigen zu können, sollte deshalb noch neugieriger auf die Gründe
solcher Erfolge machen. Die sich darin ausdrückende Kompetenz aber wird
kaum thematisiert.
Dabei stehen die Erfolge bei Kameras oder Tonträgern nicht isoliert. Die drei besten Hybrid-Automodelle der Welt kommen 2019 aus Japan.
Konkurrenz hat man vor allem von Korea zu fürchten, nicht jedoch aus
Deutschland oder irgendeinem anderen westlichen Land. Sechs japanische
Anbieter stehen 2016 für gut drei Viertel der global installierten Industrieroboter.
Das erklärt Japans Vorsprung beim internationalen industriellen
Einfluss gegenüber Deutschland, das mit KUKA (Augsburg) 2016 seine
einzige Roboterfirma von Rang an einen chinesischen Käufer abtritt.
Nicht zuletzt, um so an kompetentes Personal für weiteres Wachstum zu
gelangen.
Bei den besonders streng gesiebten Patentanmeldungen nach dem Patent Cooperation Treaty (PCT)
kommen 2018 fast 50.000 Erfindungen aus Japan, aber nur knapp 20.000
aus Deutschland. Bei zwei Dritteln der japanischen Bevölkerung (82 zu
126 Millionen) hätten die Deutschen für einen Gleichstand aber 33.000
Anmeldungen benötigt.
Was die Patentmenge signalisiert, bestätigen auch die Unternehmen. Zu
den fünfzig patentstärksten Einzelfirmen des Jahres 2018 gehören
sechzehn japanische, aber nur fünf deutsche, die fürs Gleichziehen mit
Japan jedoch zwei Drittel davon beziehungsweise zehn bis elf benötigen würden.
Dabei ächzt Japan unter einem höheren Durchschnittsalter als selbst
die Bundesrepublik. Beim Altenquotient (Verhältnis der Personenmenge im
Ruhestandsalter zur Personenmenge im Erwerbsalter) liegt Japan 2016 mit
45 Prozent sogar dramatisch vor Deutschland
mit 33 Prozent. Warum können die Deutschen mit dem so schnell
vergreisenden Inselvolk dennoch nicht mithalten? Warum endet das Volk
der Dichter und Denker 2017 unter den bestgebildeten Erwachsenen der
Welt nur auf Platz sieben, während Japan die Nummer eins darstellt?
Dabei ist es doch Deutschland, das erstmals in der Geschichte die
damalige industrielle Führungsnation, Großbritannien also, in einem
hundertjährigen Rennen aus Nachahmungen und innovativen Kühnheiten vom
Sockel stößt. In den strategisch zentralen chemischen und
metallurgischen Industrien wird von der preußischen
Eigentums-Installierung (Stein-Hardenberg 1807–1811) bis 1907 ein
Vorsprung von 25 bis 50 Prozent herausgearbeitet.
Daten über die kognitive Kompetenz der Deutschen aus jener Zeit liegen
nicht vor. Aber für das Jahr 1909 stammen 45 Prozent der in den Chemical Abstracts (1907 in den USA gegründet) referierten Studien aus deutschsprachigen Zeitschriften.
Die Deutschen überholen den britischen Rivalen trotz geringerer
politischer Freiheit. Doch die Gesetze des Eigentums, das nur durch
Innovationen, nicht aber durch Gewalteinsatz gegen Bankrott und
Vollstreckung verteidigt werden kann, verinnerlichen sie umgehend.
Womöglich liegen sie damals bei der Kompetenz auf der aktuellen Höhe der
Schweizer und Liechtensteiner, die als einzige Europäer die Ostasiaten
bei den Schulleistungen zwar nicht übertreffen, bei PISA 2015 in
Mathematik aber direkt hinter ihnen und vor dem Rest der übrigen Welt rangieren.
Es sind unterschiedliche Einwanderungspolitiken, die seit den 1960er
Jahren die Schere zwischen den Deutschsprachigen in Berlin und Wien hier
sowie Bern und Vaduz dort immer weiter öffnen. Entsprechend bleiben
auch die Muslime der Schweiz (fünf Prozent der Bevölkerung) so
unauffällig wie die übrigen Eidgenossen. Unter allen Religionsgruppen
findet man sie sogar am seltensten beim Gottesdienst, dem 46 Prozent
gänzlich fernbleiben und nur 12 Prozent einmal pro Woche nachkommen.
Japans Weg nach ganz oben scheitert in den 1990er Jahren nicht an mangelndem Erfindungsgeist. Der imponiert ungebrochen. 2017 startet Hitachi das globale Projekt Society 5.0: „Das
Durchdringen jeder ökonomischen Branche und jeder öffentlichen
Institution und Infrastruktur mit den Innovationen der vierten
industriellen Revolution (zum Beispiel Internet of Things, Big Data,
Künstliche Intelligenz [KI], Roboter) erzeugt die Gesellschaft der
Zukunft, in der permanent nicht nur neue Dienstleistungen, sondern auch
neue Werte entstehen. [...] Das ist Society 5.0, eine super-smarte
Gesellschaft. Japan wird dabei vor der übrigen Welt die Führung
übernehmen.“
Das klingt vollmundig. Doch wer diese Zielsetzung als bloße
Propaganda abtut, mag etwa nach Kopenhagen schauen. Dort entsteht – über
die Daten-Verzahnung von Stadtverwaltung, Verkehrsanlagen und
Zulieferindustrie – ein roboterisiertes Metro-System. Es gehört in die höchste Kategorie der Grade-of-Automation 4/GoA4.
Es kommt verständlicherweise nicht aus Dänemark selbst, das mit weniger
als sechs Millionen Einwohnern dafür keine ausreichende industrielle
Basis aufweist. Es kommt aber auch nicht aus dem direkt benachbarten
Deutschland mit einschlägigen Firmen à la Siemens oder Bombardier,
sondern – einschließlich der fahrerlosen Triebwagen – von Hitachi, das
mit der Universität von Tokio das Laboratory Society 5.0 betreibt.
Gleichwohl kommen Kopenhagen beziehungsweise Europa mit einer derart
integrierten Technologie zu spät. Bei einem der größten Minenkonzerne
der Erde läuft in Australien ein ausgedehntes Schienensystem mit 170
Lokomotiven schon seit Juli 2018 fahrerlos unter Rio Tinto AutoHaul Train Control.
Doch auch dieses System stammt keineswegs aus einem australischen
Laboratorium. Es ist wiederum Hitachi, das Rio Tinto zum Weltführer bei automatisierten Industriebahnen macht. Dabei haben sich die Japaner fürs engere Europageschäft Italiens bestes Fachunternehmen, Ansaldo Energia aus Genua, hinzugekauft.
Für die Firma ist das ein Glücksfall, weil ihre Zukunft allein aus
italienischem Nachwuchs nicht mehr gesichert werden kann. Mit nur noch
42 mathematisch Begabten unter 1.000 Kindern (322 in Japan), ist man
hinter die Türkei (47) zurückgefallen (TIMSS 2015).
Es stimmt schon, dass Japan beim Bau großer Passagierflugzeuge den
Europäern und Nordamerikanern nicht gewachsen ist, obwohl die Mitsubishi
MR J70 das Blatt wenden könnte. Immerhin aber behauptet man bei zweistrahligen Businessjets mit der „Honda HA 420“ momentan die Weltspitze.
Selbst bei einer so trivialen, aber milliardenfach eingesetzten
Technologie wie dem Reißverschluss kommen die einzig relevanten
Innovationen von Japans YKK und nicht aus dem Ursprungsland USA,
obwohl seine Herstellung ganz überwiegend in der chinesischen
Sechsmillionen-Stadt Qiaotou erfolgt, die auch als Knopf-Metropole die
Körper der Welt erobern konnte.
Auch Gründerpersönlichkeiten fehlen im vergreisenden Japan
keineswegs. Sollte man die global imponierendsten Perspektiv-Unternehmer
benennen, käme man an Masayoshi Son
(*1957) wohl kaum vorbei. Der Japaner koreanischer Abstammung hat mit
seinen Gewinnen aus der chinesischen Firma „Alibaba“ das Unternehmen
„SoftBank“ aufgebaut, die unter anderem mit ARM aus dem englischen
Cambridge die wichtigste Firma für Chipdesign seit 2016 im Portefeuille
hat. Mit Tadashi Yanai steht hinter Fast Retailing mit Uniqlo, der größten Bekleidungsfirma Asiens und der aktuellen Nummer drei weltweit, ebenfalls ein Japaner.
Es ist vor allem Japans geringer Anteil von nur noch 1,6 Prozent an
der Weltbevölkerung (2019), der es daran hindert, dem 21. Jahrhundert
seinen Stempel noch stärker aufzudrücken als mit Robotern und
automatischen Untergrundbahnen.
Dieser demografische Befund bleibt in
den Prognosen der 1980er Jahre unterbelichtet. Auch deshalb wird
momentan nicht zureichend erfasst, was ein demografisch elfmal stärkeres
Japan – ein China also – einmal
erreichen könnte. Auch für dieses Land werden ja ununterbrochen
Parallelen zum vermeintlichen japanischen Scheitern gezogen.
Die Gründe für den Erfindergeist, der das alternde Japan in der
technologischen Weltspitze hält, werden von den Analytikern bis heute
übergangen. Man hat im 20. Jahrhundert die Demografie des Landes
überschätzt, seine kognitiven Stärken dafür unterschätzt. Und doch gibt
es einen kleinen, aber folgenreichen Befund mitten aus der Zeit
einstiger Japan-Besessenheit. Am 20. Mai 1982 erscheint in Nature, der angesehensten naturwissenschaftlichen Zeitschrift, ein Aufsatz von Richard Lynn mit dem Titel: „IQ in Japan and the United States shows a growing disparity“.
Ein Dreivierteljahrhundert nach Tsushima erfährt die Welt, dass
Japaner einen Durchschnitts-IQ von rund 105 aufweisen, Briten (und ihre
Übersee-Verwandten) sich aber weiterhin mit ihrem Greenwich-IQ von 100
begnügen müssen. Eine aufregende Erkenntnis und kühne Forschertat wird
da mitgeteilt. Heiner Rindermann bestätigt 2018 diesen Befund mit einer
japanischen Cognitive Ability (ein breiteres und neutraleres Maß als der IQ) von CA104. Die 2018er Ergebnisse der inneramerikanischen Tests für den Zugang zur Universität (SAT) haben im Fach Mathematik
„Asians“ mit 635 Punkten vor „Whites“ mit 557 und „Hispanics“ (die am
schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe) mit 489 Punkten.
Pierre Bourdieu,
Star-Soziologe aus Frankreich, hatte noch 1978 die gesamte
Intelligenzforschung als rassistisch verdammt, weil die „herrschende
Klasse“ das IQ-Konzept lediglich für die Rechtfertigung ihrer
Privilegien benutze (siehe seine Schrift „Racisme de l’intelligence“ von
1978).
Vier Jahre später bescheinigt Lynn, also ein Mitglied des bis ins 20.
Jahrhundert global dominanten britischen Empire, den in der Tat
rassistisch als Gooks oder Yellows diskriminierten
Ostasiaten kognitive Überlegenheit. Und doch hört die westliche
Überheblichkeit nicht auf. Denn nur aufgrund tiefsitzender
Geringschätzung kann man anschließend vom Aufstieg der Koreaner und
Chinesen überrascht werden.
Richard Lynn erteilt den weißen Rassisten eine kostbare, wenn auch
kaum gehörte Lehre: Nationen, die im Rennen bleiben wollen, sind nicht
nur moralisch im Unrecht, sondern begehen zugleich eine Torheit, wenn
sie Hochqualifizierte aufgrund von Pigmentierung, Augenstellung oder
Nasenform außer Landes jagen, ermorden oder an der Grenze zurückweisen.
Niemals zuvor war die Nachfrage nach Talenten größer als heute, und sie
wird morgen noch weit höher liegen, was die bereits für 2020 fehlenden
40 Millionen Hochqualifizierten unmissverständlich deutlich machen.
Wer in diesem Umfeld Leistungssenker bevorzugt, weil an ihnen
„Haarstruktur und Götterwelt“ bevorzugt werden, stiftet Schaden, weil
seine Helferkapazitäten schwinden, während die Hilfsbedürftigen im
eigenen Land ihren Bevölkerungsanteil erhöhen.
Zumutungen an Migranten, vor Grenzübertritt erst einmal das religiöse
Bekenntnis oder gar ihr Äußeres zu modifizieren, landen mit Lynn im
historischen Abseits. Wer sich durch die Examina gebüffelt hat,
überwindet Grenzen. Das Paradebeispiel liefert Singapur. Mit aktuell nur
0,83 Kindern pro Frauenleben
wäre der Stadtstaat ohne Einwanderung zum Aussterben verurteilt.
Realiter aber steigt die Bevölkerung zwischen 1968 und 2019 von gut 2 auf knapp 6 Millionen.
44 Prozent der Einwohner sind Einwanderer oder ausländische
Beschäftigte. Ihre Kompetenz von CA106 ist für Migranten die höchste
weltweit. Selbst die Einheimischen Singapurs schaffen nur CA105, was für
sie allerdings ebenfalls die Weltspitze markiert.
Natürlich werden Bewerber auch abgelehnt. Das geschieht aber nicht,
weil sie „braun“, „schwarz“ oder „weiß“ sind, sondern weil sie nicht zum
Qualifikationsprofil passen. Gegen Rassismusvorwürfe verteidigt man
sich deshalb vehement. Einen ausgeprägten Kompetenzismus, der für eine
zu drei Vierteln aus Chinesen bestehende Bevölkerung sorgt,
kann man dennoch nicht in Abrede stellen. Gleichwohl, ein Viertel der
Bevölkerung ist nicht chinesisch. Das entspricht in etwa dem
Bevölkerungsanteil von knapp 24 Prozent in der Bundesrepublik, der nicht in Deutschland geboren ist.
Bekanntlich verfolgt Berlin – wie zuvor bereits Bonn und durchgehend
etwa auch Paris – eine ganz andere Einwanderungspolitik. Man denkt nicht
an die Zukunft der tendenziell „ewigen“ Nation, sondern an aktuell
verwendbare Arbeitskräfte für ausgesuchte, aber keineswegs unsterbliche
Firmen. Die Unternehmen werden nach Ausreizung ihrer Profitabilität
abgewickelt, müssen aber nicht für die zurückbleibenden Arbeitskräfte
und ihre menschenwürdige Versorgung aufkommen. Deren Kosten belasten die
gesamte Nation. Der aber fallen die Zahlungen zunehmend schwerer. Denn
sie hat beispielsweise bei den Altdeutschen ja keinen Singapur-CA von
105, sondern von 100 und bei den Migranten nicht 106, sondern lediglich 92.
Nun ist nicht leicht zu beweisen, dass die immer stärkere Öffnung der
Kompetenzschere zwischen Ostasien und der europäiden Welt auch die
unterschiedliche Entwicklungsdynamik bestimmt. Doch zwischen 1980 und
2019 springt Singapurs Pro-Kopf- Einkommen von seinerzeit ärmlichen 5.000 auf 63.000 US-Dollar, in Deutschland aber geht es lediglich von damals sehr passablen 11.000 auf 50.000 und beim Berliner Zukunftspartner Frankreich (CA 98/9269) sogar von seinerzeit üppigen 13.000 auf nur 43.000.
Natürlich ist der Vergleich mit einer Stadt wie Singapur, die zugleich
Bankenzentrum ist, mit Flächenstaaten nur begrenzt aussagefähig. Doch
1980 liegt diese Stadt noch tief auch unter den nicht-urbanen Regionen
des EU-Führungsduos, während sie heute weit über ihnen rangiert.
Dass die Qualifikation der Bürger den wichtigsten Rohstoff der
meisten Nationen bildet, ist eine Binsenweisheit und gern deklamierte
Politparole. Aber wohl niemand hat besser verstanden als Lee Kuan Yew
(1923–2015), Singapurs hoch kontroverser Langzeit-Premier (1959–1990),
dass dann auch die Steigerung der nationalen Kompetenz das höchste
Staatsziel sein muss. „Seine Vision, schrieb
Henry Kissinger‘ „zielte auf einen Staat, der nicht einfach überleben,
sondern sich durch Exzellenz durchsetzen würde. Überlegene Intelligenz,
Disziplin und Einfallsreichtum würden Ressourcen ersetzen.“ Mir ist kein
deutscher oder europäischer Politiker bekannt, der bereit gewesen wäre,
sich mit solchen Prioritäten Ärger einzuhandeln. Steigerung des
Sozialprodukts mag noch angehen, seine kognitiven Voraussetzungen aber
bleiben tabu.
Da spielt die Angst vor der Beschäftigung mit Intelligenz eine Rolle.
Ein kanadischer Einwanderungspolitiker hat mich in meinen 1980er
Toronto-Jahren damit gefrotzelt, dass die Deutschen dauernd
Grundsatzdebatten darüber anzetteln, ob Intelligenz angeboren oder
erworben sei. Wer dann das Ungefällige vertrete, werde sozial
vernichtet, auch wenn er ein gescheiter Mensch sei. Wer das allgemein
Geglaubte von sich gebe, werde Minister, auch wenn er meschugge sei.
Ihm hingegen sei die Frage völlig gleichgültig, solange Intelligenz
mitbringe, wer über Kanadas Grenze wolle. Niemand müsse dabei Dokumente
mit lückenlosen Nachweisen vorlegen, dass seine Intelligenz von
staatlichen Kindergärtnerinnen, keinesfalls aber von den Eltern stamme.
Man nehme jeden, der oder die aus welchen Gründen auch immer gescheit
sei. Man wisse schließlich aus Erfahrung, dass Könner und Kluge ihre
Kompetenz im Normalfall weiterreichen, und es sei einem schnurz, wie sie
das bewerkstelligen.
Das ist angelsächsischer Pragmatismus. Deutschland aber hat eine
genozidale Diktatur hinter sich, in der „Intellektualismus“ und
„theoretische Intelligenz“ als jüdisch verfolgt und ausgelöscht wurden.
Man musste damals mit Dokumenten nachweisen, solche Qualitäten nicht im
Ahnenverzeichnis zu haben. Germanen sollten zäh wie Leder oder hart wie
Kruppstahl agieren und sich ansonsten auf eine „praktische Intelligenz“
beschränken. Entsprechend zäh verläuft nach wie vor die Befreiung von
dieser intellektuellen Zwangsjacke – in einer bizarren, wiewohl
ungewollten Treue zu jener furchtbaren Tradition – nicht nur in
Deutschland, sondern in großen Teilen der europäischen Welt.
Das zusammen mit Deutschland 1945 niedergeworfene Japan denkt anders.
Obwohl es demografisch schrumpft, werden 2017 nur 20 (zwanzig!)
Asylanten akzeptiert.
Man will nur Leute aufnehmen, die das eigene Leistungsniveau nicht
absenken. Gerade die jedoch werden überall knapper. Kleinstaaten wie die
Schweiz oder Singapur mögen den Immigrationsweg gehen. Aber für eine
125-Millionen-Nation wird das schwierig. Man weiß aber sehr gut, dass
unqualifizierte Jugendliche aus der Dritten Welt die in Rente gehenden
eigenen Könner nicht zu ersetzen vermögen.
Ich bin von japanischen Zeitungen und Wirtschaftsmagazinen befragt
worden, ob Deutschland mit dem massiven Einlassen ebensolcher Neubürger
eine neue „Wunderwaffe“ ausbrüte, mit der es die ökonomische Konkurrenz
in die Knie zwingen wolle. Man hatte tatsächlich zunächst ein
hinterhältiges Manöver vermutet und sich erst durch Nachweise über
Deutschlands irreversibles Bildungsfiasko beruhigen lassen. Dass 2018 zu
den 1.000 Umsatz-Topfirmen weltweit 146 japanische, aber nur 44
deutsche – etwa gleich viel wie in Südkorea, Frankreich oder
Großbritannien – gehören, brauchte sie dann nicht mehr überraschen.
Weil Europäer ihre kognitive Kompetenz verringern, während dieJapaner die
ihrige verteidigen, wird Japans Vorsprung automatisch größer. Das
erleichtert und verstetigt die Weltführerschaft bei Robotern nebst
zugehöriger Künstlicher Intelligenz. Unter den 20 Privatfirmen mit den
meisten AI-Patenten kommen 2018 eine aus Korea, je zwei aus Deutschland
und China, drei aus den USA, aber zwölf aus Japan.
Sich ganz auf die eigenen klugen Köpfe zu verlassen, erweist sich als
ungemein smarter Schachzug. Hingegen verringern die meisten westlichen
Konkurrenten die für diese Zukunftsbranche unverzichtbare Kompetenz und
werden deshalb wohl niemals wieder eine ernsthafte Konkurrenz.
Der eigene Kognitionsverlust wird im Westen bis heute kaum zum Thema.
So beschreibt eine Untersuchung von „BNP Parisbas“ aus dem Frühjahr
2019 eine „Japanisation“ der EU ausdrücklich als Schreckgespenst.
Man nimmt die vergangenen dreißig Jahre Japans (1989–2019) als Folie
für die eigene Zukunft, betrachtet aber nur finanzielle und
quantitativ-demografische Faktoren. Warum die EU heute schon
technologisch hinter dem Inselstaat rangiert, wird nicht einmal gefragt.
Kognitive Differenzen bleiben vollkommen ausgeblendet. Man ahnt nichts
von der speziellen Überlegenheit derer, mit denen man sich ganz
unbekümmert vergleicht.
Bei der eigenen Zukunftsorientierung operiert Tokio ähnlich wie
Singapur. Der Stadtstaat wirbt Chinesen an. Japan tut das auch und
beherbergt mit einer Dreiviertelmillion mehr als dreimal so viele Chinesen wie Deutschland.
Zentral aber zielt man auf die Stärkung Ostasiens als geopolitischem
Raum. Man hat sehr genau registriert, dass man 2017 bei PCT-Patenten den
bis dahin globalen zweiten Rang (nach den USA) mit der Differenz von
rund 700 Patenten an China verloren hat. 2018 weitet sich der Rückstand auf schon 3.700 Patente. Noch im Oktober 2018 unterschreibt Premierminister Shinzo Abe in Peking rund fünfzig Verträge zu wirtschaftlichen Kooperationen.
Toyota als modernste Autoschmiede der Welt ergänzt bei Batterien die
Partnerschaft mit der heimischen Panasonic (Weltführer bis 2017 und
Versorger von Tesla) mit der neuen Nummer eins CATL aus China. Man ist
kompetent genug, um sich – bei 6,6 Prozent des Weltprodukts – mit der
elfmal stärkeren, im Durchschnittsalter zehn Jahre jüngeren und bei der
Kompetenz ähnlich hohen Gruppe ökonomisch zu verflechten. Unterhalb der
Kulisse von Anschuldigungen, halbgaren Entschuldigungen und sonstigem
Theaterdonner wird – superb dargestellt in Ezra Vogels China and Japan
– immer effektiver kooperiert. Gemeinsam kann das japanisch-chinesische
Duo für das 21. Jahrhundert erfolgreich in Angriff nehmen, was Japan
allein im 20. Jahrhundert misslingen musste.
Bei der gegenseitigen investiven Verflechtung bilden China und Japan
heute schon die größte finanzielle Partnerschaft der Menschheit. Es kann
ihrem Fortkommen nur nützen, dass im Westen unverstanden bleibt, wie
sehr Japans Alleinaufstieg an mangelnder Menschenzahl, nicht aber an
mangelnder Kompetenz gescheitert ist. „Keine Angst vor Chinas Stärke“,
posaunt im Frühjahr 2019 eine führende deutsche Tageszeitung. Es werde
dem Giganten nicht besser ergehen als Japan, das doch auch zu unrecht
gefürchtet worden sei. Dabei wird wiederum nicht gefragt, was denn in
Japan der Faktor dafür war, für den man es überhaupt als Bedrohung
empfinden konnte. Zu China unterbleibt solches Fragen ebenfalls.
Dasselbe gilt für zwei kleinere Mitglieder – Korea und Taiwan – der
ostasiatischen High-Tech-Allianz. Was haben sie gemeinsam mit Japan und
China? Dies ist ein Auszug aus „Wettkampf um die Klugen“ von Gunnar Heinsohn, 2019, Zürich: Orell Füssli Verlag, hier bestellbar.
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