Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU)
soll der Bundesregierung mit wissenschaftlicher Beratung zur Seite
stehen. Zurzeit sitzen sieben Mitglieder in dem 1971 gegründeten
Gremium, das alle vier Jahre einen regulären Bericht und darüber hinaus
Sondergutachten vorlegt. Es gab zwei
Berichte, den regulären Report und eine Sonderveröffentlichung, in denen
es nicht beziehungsweise nur ganz am Rand um Wissenschaft geht, sondern
um ein politisches Projekt. Der SRU begründet darin auf über 200 Seiten
die Notwendigkeit, ein Gremium von einer Art zu gründen, das die
Bundesrepublik bisher nicht kennt: einen „Rat für
Generationengerechtigkeit“, der die Macht besitzen soll, in
Gesetzgebungsverfahren des Bundestags einzugreifen.
In beiden
Papieren des SRU findet sich ein abweichendes Votum: Im Fachbericht eins
zum Thema Stadtentwicklung, in dem Sondergutachten eine längere
Ausführung, die begründet, warum der geplante Gerechtigkeitsrat mit
Vetomacht verfassungswidrig wäre und den Parlamentarismus aushöhlen
würde. Beide Sondervoten stammen von demselben Mitglied, Lamia Messari-Becker, Professorin für Gebäudetechnik in Siegen. Nach der
Übergabe der Berichte bedankte sich Bundesumweltministerin Svenja
Schulze ausdrücklich für die „erstklassige Beratung“, und
teilte intern eine Personalie mit: Sie wird Messari-Becker, die Autorin
der abweichenden Stellungnamen, nicht wieder in den SRU berufen.
Messari-Becker, Jahrgang 1973, hätte gern weitergemacht.
Ihre fachliche Kompetenz bezweifelt bisher niemand. Auf die Frage von
Publico, warum Schulze die Wissenschaftlerin nicht mehr in dem Gremium
haben will, antwortet das Bundesumweltministerium an der Frage vorbei:
„Bitte haben Sie Verständnis, dass wir uns zu einem laufenden Berufungsverfahren nicht äußern.“
Messari-Beckers
Geschichte handelt zum einen von einem Klima, das sich in Politik und
Gremien ausbreitet, ein Klima der zunehmenden Debattenunverträglichkeit.
Ohne die Professorin wird es im Sachverständigenrat vermutlich mehr
Harmonie geben. Zum anderen geht es um eine Entwicklung, die schon vor
Jahren begann, jetzt aber Fahrt aufnimmt: die Verlagerung von
politischen Entscheidungen weg vom Parlament, hin zu diversen Räten,
Instituten, Nichtregierungsorganisationen und Lobbyverbänden. In dieser
politischen Ordnung, wie sie den Wortführern dieser neuen Mächte
vorschwebt, entscheiden ab einem bestimmten Punkt nicht mehr Mehrheiten
von gewählten Abgeordneten, sondern Meinungsorganisatoren mit
Signalwörtern, dem so genannten Narrativ.
Wer sich mit Lamia
Messari-Becker länger unterhält, dem fällt auf, dass bei ihr
Redewendungen nicht vorkommen, wie sie bei vielen Gremienmitgliedern in
Deutschland üblich sind. Kein ’vielleicht’ und ’eventuell’, kein ’wir’,
wenn sie nicht wirklich das ganze Gremium meint, kaum
Passivkonstruktionen wie ’ist entschieden worden’. Sie spricht sehr
direkt.
„Als Bauingenieurin komme ich aus einer sehr männerdominierten Branche“, sagt sie. „Da hab’ ich gelernt, mich durchzusetzen.“
Im Rat habe sie es nicht darauf angelegt, die Rolle der Dissidentin zu
übernehmen. Möglicherweise liegt es an ihrem Verständnis vom Zweck des
Gremiums, dass sie trotzdem nach und nach in diese Situation rutschte: „Für mich ist der Sachverständigenrat ein wissenschaftliches Gremium und kein politisches.“ Ihre Blick auf Umweltfragen, meint sie, sei eben der einer Fachfrau für Bauen und Stadtentwicklung: „Ich bin es als Ingenieurin gewohnt, mich an Zahlen und Fakten zu halten.“
Messari-Becker stammt aus Nordmarokko. Sie kam mit 18 Jahren nach Deutschland. „Ich konnte kein Wort Deutsch“,
erzählt sie. In zwei Monaten lernte sie die Sprache, anschließend
studierte sie an der TU Darmstadt. Sie liebt die Rationalität ihres
Fachs, und auch das Land, dem diese Rationalität nachgesagt wird. Ein
Satz, den sie sehr gern sagt, lautet: „Wir sind eine Ingenieursnation.“
Ihr sei von Kollegen im Sachverständigenrat immer mal wieder vorgehalten worden, sie sei in Debatten so „temperamentvoll“.
Sie erzählt das mit einem ironischen Unterton. Ihr Temperament, meint
sie, sei ja wohl nicht der Grund für die Auseinandersetzungen gewesen.
Im
Rat sitzt auch eine Professorin, die das Gremium durchaus politisch
sieht, also ganz anders als Messari-Becker: Claudia Kemfert vom
Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), eine
talkshowerfahrene Streiterin für Wind- und Solarenergie und Umbau der
Wirtschaft. Kemfert gibt nicht nur der Politik Stichworte, sie wäre auch
gern in die Berufspolitik gewechselt. Als der damalige
Bundesumweltminister Norbert Röttgen 2012 versuchte, Ministerpräsident
von Nordrhein-Westfalen zu werden, machte er die DIW-Professorin zum
Mitglied seines Schattenkabinetts als künftige Ministerin für Energie
und Klima. Bekanntlich spielten die Wähler nicht mit. Sie kann sich
damit trösten, dass sie trotzdem politische Entscheidungen beeinflusst
wie kaum ein anderer Mitarbeiter eines Wirtschaftsinstituts.
Ihren eigentlichen Durchbruch als medial-politisch betriebsame Ökonomin erlebte Kemfert, als sie 2011 prognostizierte, die Umlage für Erneuerbare Energien werde bis 2020 nur „gering“
über den damaligen Stand von 3,59 Cent pro Kilowattstunde steigen.
Diese Voraussage übernahm Angela Merkel fast wortwörtlich in ihrer
Regierungserklärung im März 2011, in der sie den Ausstieg aus der
Kernkraft und die verstärkte Förderung der Erneuerbaren bei gleichzeitig
konstanten Kosten verkündete.
Kemfert hatte 2008 außerdem
spekuliert, der Ölpreis werde bald auf 200 Dollar pro Barrel steigen.
Die konventionellen Energien, lautete die von Politikern wie Merkel und
etlichen Medien übernommene Rechnung, würden bald unbezahlbar, Wind- und
Sonnenstrom gebe es zu geringen Preisen, die Energiewende finanziere
sich also selbst. Bekanntlich trat Kemferts Wunder nicht ein. Bis 2020
verdoppelte sich die EEG-Umlage fast, Deutschlands Strompreise rangieren
heute an der Spitze in Europa. Einen Ölpreis von 200 Dollar gab es seit
2008 nie.
Von einem Irrtum will Kemfert bis heute nicht sprechen. „Zu behaupten, der Strom sei wegen der Energiewende so teuer, ist ein reines Ablenkungsmanöver“, behauptete sie 2017 in der Zeit.
Teuer sei der Strom nur wegen der Kohlekraftwerke. Die bekommen
allerdings keine staatlichen Garantiepreise für ihre Kilowattstunden.
Zahlen und Fakten schiebt die DIW-Frau gern beiseite.
„In
allen Feldern gibt es für deutsche Unternehmen echtes
Weltmarkt-Potential und damit weiterhin die Chance auf ein grünes
Jobwunder!“ behauptete sie etwa. Tatsächlich liegt die Zahl der so genannten „grünen Jobs“ in Deutschland laut Bundeswirtschaftsministerium heute deutlich tiefer als vor acht Jahren.
Kritiker, die ihr Irrtümer und Fehlkalkulationen vorhalten, beschimpft Kemfert als die „laut schreienden Ewig-Gestrigen, die leicht widerlegbare Mythen in die Welt setzen“ – so vor kurzem in einem Rechtfertigungstext in Capital.
Kemferts
Publikationen, urteilt der Düsseldorfer Ökonomie-Professor Justus
Haucap, ehemaliger Leiter der Deutschen Monopolkommission, beruhen „auf Glaubenssätzen und alternativen Fakten (beziehungsweise) dem Weglassen wichtiger Daten.“
Vorwürfe dieser Art gab es gegen Messari-Becker nie. Trotzdem berief
Umweltministerin Schulze am 10. Juni Kemfert erneut, Messari-Becker
nicht. Insgesamt verließen vier frühere Mitglieder den Rat, drei aus
Altersgründen, ein Mitglied freiwillig – und die Professorin mit den
abweichenden Voten, weil die Ministeriumsführung es so wollte.
Es
gibt zwei Schauplätze, auf denen sich die Auseinandersetzung in dem
Sachverständigenrat abspielte, einen fachlichen und einen politischen.
Für das aktuelle Gutachten des SRU, das der Ministerin am 14. Mai
übergeben wurde, hatte Claudia Kemfert das Kapitel ’Stadtmobilität’
verfasst. Erstaunlicherweise, denn eigentlich versteht sich die
DIW-Forscherin als Expertin für Energie, vor allem für den Strommarkt.
Die politisch wichtigste Empfehlung des Sachverständigengutachtens
lautet, in Metropolen eine so genannte City-Maut einzuführen, also eine
Zahlung, die jeder Autofahrer leisten soll, wenn er in das Kerngebiet
der Stadt fährt. Die Maut soll zwei Zwecken dienen, die einander
eigentlich widersprechen: die Stadtkassen füllen – und gleichzeitig
viele Autobesitzer dazu zwingen, auf öffentliche Verkehrsmittel
umzusteigen. Die mitregierenden Grünen in Berlin beispielsweise wollen
eine solche Sondersteuer für Autofahrer in der Hauptstadt durchsetzen.
Bauen
und Stadtentwicklung sind die Fachgebiete, die eigentlich
Messari-Becker im Rat vertritt. Sie verfasste ein ausführliches
Sondervotum, in dem sie begründete, warum sie die City-Maut und noch
einige andere dirigistische Maßnahmen ablehnt. Ihr Hauptargument lautet,
dass eine City-Maut weitgehend wirkungslos wäre. „Wirksam im Sinne der Verkehrsvermeidung“, schreibt sie,
„wird die Pkw-Maut erst ab Fahrleistungen von mehr als 50 Kilometer.
Fast die Hälfte der zurückgelegten Wege in Städten ist aber kürzer als
drei Kilometer, davon 40 Prozent per Pkw. Bei fast der Hälfte der Wege
wäre der Bepreisungseffekt sehr überschaubar. Zu einem Verzicht auf das
Auto wird dieser Effekt eher nicht führen.“
Statt Autofahrer zu bestrafen, meint sie, sollten die Städte ihren Nahverkehr attraktiver machen: „Wenn es eine gute Alternative gibt, dann würden viele auch umsteigen.“ Auch zentrale Vorgaben für so genannte „ruhige Zonen“
in Städten und für verpflichtende Lärmschutzkonzepte in allen Gemeinden
über 50 000 Einwohner lehnt sie ab. Ihre Widersprüche unterfüttert sie
mit Zahlen und Details, aber jedes Mal folgt sie dem gleichen
Grundgedanken: Statt zentrale umweltpolitische Weisungen zu empfangen,
sollen die Gemeinden selbst entscheiden. Statt einer Strafmaßnahme wie
der City-Maut würde sie lieber ein marktwirtschaftliches Instrument
einsetzen, den CO2-Zertifikatehandel. Es wirkt schon erstaunlich, dass
sie mit diesen Ansichten im SRU völlig allein stand.
Der
eigentliche Konflikt entzündete sich allerdings nicht an der Frage des
innerstädtischen Autoverkehrs, sondern am Grundgesetz. Denn in seinem
Sondergutachten zur Einführung eines „Rates für
Generationengerechtigkeit“ schlägt der Sachverständigenrat nichts
weniger vor als eine Verfassungsänderung in einem zentralen Punkt. Am
Anfang steht die Behauptung, angesichts der Klimaveränderungen könnte
die bisherige demokratische Praxis nicht einfach fortgeführt werden. Um
die finale globale Katastrophe zu verhindern – in dem Gutachten werden „Kipppunkte“ und eine Menge Worst-Case-Szenarien beschworen – müsse das Parlament künftig „ergänzt“ und „auf existenzielle Herausforderungen ausgerichtet“
werden. Das sei nicht nur wegen der Klimakatastrophe nötig, so die
Mehrheit des Sachverständigenrats, sondern auch, um einen nicht näher
definierten „Populismus“ zu stoppen. Die entsprechende Passage liest sich wie ein agitatorischer Leitartikel:
„Die
Notwendigkeit, Politik stärker auf existenzielle Herausforderungen
auszurichten, wird in einer Zeit augenfällig, in der die Demokratie in
vielen westlichen Ländern durch populistische Parteien und Bewegungen
unter Druck gerät. In einigen Ländern, beispielsweise in den USA, Polen
und Ungarn, haben Populisten sogar Regierungsverantwortung übernommen
und schwächen liberale, rechtsstaatliche Institutionen, wie zum Beispiel
eine unabhängige Justiz und eine freie Presse. Gleichzeitig berufen
sich gerade diese Parteien auf den Volkswillen, den sie – gegenüber den
als abgehoben wahrgenommenen Eliten – zur Geltung bringen wollen,
beispielsweise durch die Einführung von Volksabstimmungen.“
Wo
etwa in den USA Presse und Justiz durch die Regierung geschwächt
würden, dazu findet sich in dem Gutachtentext kein Hinweis. Auch nicht,
welches Problem die Ratsmehrheit in Volksabstimmungen sieht.
Den sechs
Mitgliedern, die das mit dem Etikett „wissenschaftlich“
versehene merkwürdige politische Manifest unterstützen, fällt
offensichtlich gar nicht auf, dass sie, nachdem sie eine Gefährdung der
Demokratie in den USA, in Ungarn und Polen diagnostizieren, eine
Aushöhlung der Parlamentszuständigkeit in Deutschland vorschlagen.*
Denn ihr neu einzurichtender ’Rat für Generationengerechtigkeit’, der vorgeblich die nicht näher definierten „Interessen der jungen und künftigen Generationen“
vertreten soll, hat es in sich. Die hauptamtlichen und auf 12 Jahre von
Bundestag und Bundesrat bestimmten Räte sollen nach Vorstellung des SRU
ein unbeschränktes Vetorecht erhalten, um Gesetzgebungsverfahren im
Parlament anzuhalten. Ihm solle „eher eine Kontroll- als eine Beratungsfunktion“
zukommen. Laut Verfassung soll eigentlich das Parlament die Regierung
kontrollieren. In der Praxis verhält sich das längst anders. Aber jetzt
sollen die Kontrolleure ein Kontrollorgan vorgesetzt bekommen, das nach
den Gesichtspunkten einer nirgends definierten „Generationengerechtigkeit“
hineinregiert, interessanterweise aber niemandem rechenschaftspflichtig
ist. Der Gerechtigkeitsrat soll Gesetzgebungsverfahren zwar nur
verzögern dürfen. Aber auf welche Weise seine Machtausübung
funktionieren soll, beschreibt der SRU in dankenswerter Offenheit:
„Bereits
die Androhung eines Vetos im laufenden Gesetzgebungsverfahren dürfte
regelmäßig zu Änderungen des Gesetzesvorhabens führen […] Soweit jedoch
die schwerwiegenden Bedenken dadurch nicht ausgeräumt werden können,
sollte der Rat unter den hier skizzierten Voraussetzungen zur Einlegung
eines suspensiven Vetos befugt sein. Die Wirkung des suspensiven Vetos
ist vorwiegend politischer Art. Aufgrund der Außergewöhnlichkeit des
Vorgangs würde ein Veto des Rates für Generationengerechtigkeit in den
Medien ein Echo hervorrufen und die breite öffentliche Aufmerksamkeit
auf den Sachverhalt lenken. Die politischen Entscheidungsträger gerieten
unter Druck, sich gezielt mit den langfristigen Folgen des Gesetzes und
seiner Auswirkungen auf die künftigen Generationen zu beschäftigen.“
Drohung,
Druck, Medienecho – daraus ergibt sich ein nicht ganz unvertrautes
Bild. Im Zusammenspiel mit in Gleichschritt kommentieren Medien und
Demonstranten vor dem Parlament könnte der Gerechtigkeitsrat aus und mit
organisierter Stimmung die Politik lenken. Am Ende setzen sich so
politische Gruppierungen durch, die selbst nie eine Mehrheit in der
Bevölkerung gewinnen könnten, dafür aber über gute Organisation,
zugkräftige Parolen, Geld großzügiger Spender und mediale Rückenstärkung
verfügen. Die Demonstrationen im Berliner Regierungsviertel mit der
Parole „hey, hey, wer nicht hüpft, der ist für Kohle“, mit der FFF-Aktivisten die Regierung 2019 zu einem ökonomisch wirren und milliardenteuren „Kohleausstiegsplan“
trieben, wären dann nur der Vorgeschmack. Der ‘Gerechtigkeitsrat’, wie
ihn der SRU unter wohlwollender Begleitung der Bundesumweltministerin
skizziert, wäre nichts anderes als die Institutionalisierung von
Gruppen, die Macht ohne Bürgermandat ausüben wollen. Es wäre der Schritt
in das, was der Autor Friedrich Dieckmann „Pressionsdemokratie“ nennt. Ein echter Systemwechsel also.
Es existiert nur ein Hindernis, das die SRU-Autoren immerhin kurz
streifen: Das Grundgesetz sieht bis jetzt noch eine parlamentarische
Demokratie vor, keine Pressionsdemokratie, in der Räte das Parlament
kontrollieren und lenken. Artikel 20 der Verfassung,
die Staatsfundamentalnorm, schließt solche vom Wähler nicht
legitimierten Sonderinstitutionen sogar explizit aus. Und Artikel 20
wiederum unterliegt dem Ewigkeitsprinzip; er kann in seinem Gehalt
selbst durch die Parlamentsmehrheit nicht geändert werden. Die Schöpfer
des Grundgesetzes legten das 1949 so fest, um zu verhindern, dass welche
politische Kräfte auch immer die parlamentarische Demokratie durch
formale Veränderungen aushöhlen.
In dem SRU-Papier heißt es, es bestehe ein „Spannungsverhältnis“
zwischen Artikel 20 Grundgesetz und ihrem Gerechtigkeitsrat. Die
Autoren bemühen sich allerdings nirgends, diese Spannung auch nur
ernsthaft zu diskutieren. In Wirklichkeit besteht ja auch kein „Spannungsverhältnis“.
Was der SRU vorschlägt, ist schlicht verfassungswidrig. Auch in den
Details wimmelt es nur so vor Widersprüchen. Die Autoren schreiben etwa,
der Rat solle die „noch jungen oder noch nicht lebenden Menschen“
repräsentieren. Woher wollen die Ratsmitglieder wissen, welche
Interessen Menschen haben werden, die erst noch auf die Welt kommen
müssen? Es gibt auch nicht die Interessen der jungen Generation schlechthin, auch nicht die junge Generation:
Ein Sechzehnjähriger, der eine Lehre in einem klassischen
Industrieberuf begonnen hat, vielleicht in der Auto- oder
Kraftwerkbranche, dürfte seine Interessen anders definieren als ein
Gleichaltriger, dessen Eltern im öffentlichen Dienst oder einer NGO
arbeiten, und der ihrem Vorbild folgen möchte.
Die in Talkshows und
Printmedien als Generationenstimme herumgereichte FFF-Aktivistin Carla
Reemtsma jedenfalls, Spross einer Hamburger Millionärsfamilie, dürfte
für die meisten aus ihrer Alterskohorte eher nicht repräsentativ sein.
In dem Papier heißt es auch, die Generationsgerechtigkeitsräte sollten „politisch neutral“ sein. Gleich ein paar Zeilen weiter heißt es über die künftigen Mitglieder: „Neben
Vertreterinnen und Vertretern der Wissenschaft kämen auch Personen etwa
aus den Bereichen Wirtschaft und Politik, aus Umwelt- oder
Sozialverbänden oder auch aus dem sonstigen öffentlichen Leben in
Betracht, die sich in ihrem Wirken um dauerhaft zukunftsfähige
Lebensweisen verdient gemacht haben.“
Für einen Posten in dem
Gerechtigkeitsgremium kann jedenfalls niemand kandidieren. Die Personen
sollen von den Bundestagsfraktionen und den Bundesratsländern
ausgesucht werden – faktisch also von den Parteien. Personen aus Politik
und Verbänden also, ausgesucht von Parteien, aber natürlich strikt
politisch neutral. Und wer entscheidet eigentlich, was „dauerhaft zukunftsfähige Lebensweisen“
sind? Offensichtlich fällt weder der SRU-Mehrheit noch der
Bundesumweltministerin auf, wie wirr und inkonsistent das
200-Seiten-Papier zusammengeschrieben wurde. Wer sich in das Papier
vertieft, den beschleicht das Gefühl: Die Autoren hoffen, dass möglichst
niemand außer den kleinen politischen Kreisen ihren Anschlag auf die
Verfassung wirklich durchliest, der auch noch im Schulaufsatzstil
daherkommt.
Neu ist die Idee jedenfalls nicht, den Parlamentarismus „weiterzuentwickeln“, weil angeblich nur so eine globale Katastrophe gestoppt werden kann. Die gleiche Idee findet sich schon im einem Papier des „Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung globale Umweltveränderungen“
(WBGU) von 2016, erstellt unter Leitung des Physikers und
Klimaaktivisten Hans Joachim Schellnhuber. Dort schlägt das Gremium zur
Förderung der „großen Transformation“ vor, „das
parlamentarische Gesetzgebungsverfahren um eine deliberative
’Zukunftskammer’ zu erweitern, die in den relevanten Politikagenden
gehört werden muss und gegebenenfalls ein aufschiebendes Veto einlegen
kann.“
Die Mitglieder dieses „Zukunftsrats“ sollen nach Schellnhubers Vorstellungen nicht gewählt, sondern „ausgelost“, dann aber entsprechend „beraten“ werden. Unter der „großen Transformation“ versteht der Wissenschaftler übrigens die globale „Dekarbonisierung“, die „bis Mitte des Jahrhunderts weitgehend abgeschlossen sein muss“.
Bei dem SRU-Vorschlag handelt es sich also nur um eine leicht
veränderte Kopie einer älteren Idee für eine Räterepublik. Die Idee
irgendwie ausgeloster Sonderräte mit Sondervollmachten vertritt auch die
FFF-Aktivistin und Grüne Luisa Neubauer.
Und eben auch fast der gesamte Sachverständigenrat für Umweltfragen. Bis auf Lamia Messari-Becker. „Ich bin zwar keine Verfassungsjuristin“, sagt sie (die anderen Ratsmitglieder übrigens auch nicht), „aber ich habe mich in die Materie eingelesen“, sagt die Professorin. „Und bin zu dem Schluss gekommen, dass das, was der SRU da vorschlägt, nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist.“
In Messari-Beckers Sondervotum heißt es: „Ich
spreche mich gegen die Ausstattung des vorgeschlagenen Rates für
Generationengerechtigkeit mit einem suspensiven Vetorecht aus, da der
Eingriff meines Erachtens nicht legitimierbar und demokratieschwächend
wäre. Ich rate der Bundesregierung daher ausdrücklich davon ab, ein
suspensives Vetorecht für den vorgeschlagenen Rat für
Generationengerechtigkeit einzurichten. […] Im Grundgesetz ist eine
parlamentarische Demokratie verankert. Auch darf das Parlament seine
Verantwortung nicht delegieren.“ Mit dem „Gerechtigkeitsrat“, schreibt sie weiter, „ist
meiner Einschätzung nach die große Gefahr verbunden, demokratische
Strukturen, hier das Parlament, in seiner legitimierten Funktion und
auch in der Wahrnehmung in der Gesellschaft zu schwächen. Andererseits
ist es fraglich, ob eine vertiefte Öffentlichkeitsdebatte, wie im
Gutachten zu lesen, realistisch ist. Gerade eine öffentliche Diskussion
kann in Zeiten der ‘social media’ mit ihrem hohen Potenzial für
emotionale Aufladung populäre bis populistische Richtungen annehmen.
Dies halte ich für […] eine auf Fakten basierten Politik in sehr
komplexen Fragen am Ende nicht förderlich.“
Und: „Bei der
Zusammensetzung des Rates können parteipolitische und auch partikulare
Interessen nicht ausgeschlossen werden. Ein suspensives Vetorecht halte
ich darüber hinaus für ein solches Organ für unverhältnismäßig.“
An
ihrem Sondervotum fällt auf, dass sie deutlich konziser argumentiert
als die Autoren des eigentlichen Gutachtens, das eigentlich kein
Gutachten darstellt, sondern ein politisches Thesenpapier. Einzelheiten
der Debatte im Rat möchte Messari-Becker nicht öffentlich nennen.
Jedenfalls muss es heftig zugegangen sein, auch mit Druck auf die
Abweichlerin. Das Ergebnis lässt sich allerdings nachlesen: Am Schluss
stand die Siegener Professorin allein gegen sechs Kollegen.
Eine
Dissidentin könnte sich der SRU also spielend leisten. Offensichtlich
ging es der Umweltministerin und einigen Ratsmitgliedern aber um ein
Exempel: Die Abweichlerin muss entfernt werden. Da ihr keine politische
Unkorrektheit nachgesagt werden kann, zumal als einziges Ratsmitglied
mit Migrationshintergrund, geschieht es praktisch lautlos.
„Mich wundert das nicht“, meint der Düsseldorfer Ökonom Justus Haucap im Gespräch mit Publico. „Ich
habe nicht den Eindruck, dass der SRU dazu dient, wissenschaftliche
Diskussionen zu fördern, sondern politische Munition für die
Umweltministerin Schulze zu liefern.“ Im SRU sei das besonders ausgeprägt:
„Dass man im Rat der Wirtschaftsweisen beispielsweise versucht hätte,
Peter Bofinger wegen seiner abweichenden Voten herauszudrängen – das
wäre unvorstellbar.“
Den Fall Messari-Becker kommentierte
kaum jemand in der Bundespolitik, von dem Unionsabgeordneten Georg
Nüßlein abgesehen, der ein wenig Kritik anmeldete.
Hätte sie sich
etwas geschmeidiger verhalten, wäre Messari-Becker höchstwahrscheinlich
von Ministerin Schulze wieder berufen worden. „Ich bin sehr froh, dass ich bei meiner Position geblieben bin“, meint die Wissenschaftlerin heute. „Ich kann nicht unterstützen, was ich für falsch halte.“
Mit
dem geplanten Generationengerechtigkeits-Rat dürfte es weitergehen wie
bei diesen Projekten üblich: Engagierte Artikel in diversen Medien unter
der Überschrift „warum wir einen Rat der Jungen brauchen“, dann eine so
genannte große gesellschaftliche Debatte in Presse und Talkshows, an
der praktisch nur Befürworter teilnehmen. Und irgendwann die
Einrichtung, wenn die politischen Mehrheiten passen. Vielleicht finden
sich dann Verfassungsrichter, die eine Räterepublik auch für falsch
halten und bei ihrer Haltung bleiben.
Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU):
• Umweltgutachten, Kapitel 5: Verkehrslärm
• Umweltgutachten, Kapitel 6: Stadtmobilität
Dieser Text erscheint auch auf Tichys Einblick.
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