Stationen

Mittwoch, 10. Juni 2020

Klonovsky über sich selbst

Die Gemahlin rechnet mir vor, was ich mit A. Hüttler gemeinsam habe:
Ich lebe in München, mag die Berge, trage bisweilen eine Lederhose, tafle gern in der Osteria Italiana, weiland Osteria Bavaria – wenn auch weder vegetarisch noch abstinent, soviel Differenzierung muss sein –, bin eine verbummelte, unseriöse Künstlertype mit Hang zum Rodomontieren und Bramarbasieren, halte mich für einen Schriftsteller, habe kein Verhältnis zum Geld, besitze keinen Führerschein, mag Richard Wagner und kenne seine Opern über weite Strecken auswendig, liebe die Kunst und die Architektur Italiens, betrachte Rassen resp. Ethnien nicht als "Konstrukte", sondern als Grundformen des Menschseins mit recht hoher Halbwertszeit (wobei ich nicht für deren Kampf, sondern für die friedliche Koexistenz plädiere), halte den Marxismus für ein schlimmes Übel und die Religionen für Budenzauber*.
Reicht das?


                                 ***


* Ich setze sicherheitshalber hinzu: Selbstverständlich hätte die Menschheit ohne Gott nicht überlebt.

Eventuell wäre ich gern ein guter Christ, doch ich werde nie einer sein. Ich glaube daran, dass Kulturen Organismen sind, dass wir Menschen niemals wissen können, was es mit uns auf sich hat, und dass es Dinge gibt, die man einfach nicht tun darf, ohne Letztbegründung, aber ich glaube weder an Gott noch an die Auferstehung noch an Seelenwanderung. Ich halte Niederknien für eine sinnvolle Beschäftigung, aber ich spreche kein Gebet. Ich bin einfach kein religiöser oder spiritueller Mensch.
Ich bin jedoch jederzeit bereit, für die Leistungen der Religion eine Lanze zu brechen. Wir Luxusweltenbewohner der Neuzeit sollten niemals vergessen, was für ein mächtiger Verbündeter Gott für unsere Altvordern war. Wie anders hätten sie das Elend der frühen Jahrhunderte ertragen sollen: Seuchen, Kriege, Kindersterben, Naturkatastrophen, Parasiten, chronische Krankheiten, Operationen ohne Narkose, Geburten ohne PDA und die ständige Anwesenheit des Teufels in den finsteren Nächten? Es gäbe uns nicht ohne diesen Gott. "Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen": dieser Satz ist möglicherweise nicht zutreffend – doch wer weiß einen zutreffenderen?
Noch mehr bewundere ich die ästhetischen Leistungen der Religion. Der vulgären, infantilen, zügellosen, brutalen Masse Mensch haben vor allem ihre Riten und Gebote eine erträglichere, mitunter sogar ansprechende Form aufgezwungen. Dass der westliche Mensch nicht mehr niederkniet, sich nicht mehr bekreuzigt, nicht mehr in die Kirche geht, wird allgemein als ein der Aufklärung zu dankender Fortschritt betrachtet. Ästhetisch ist es ein Verlust. Man kann der Kirche viel vorwerfen, sie hat in 2000 Jahren bestimmt fast so viele Menschen umbringen lassen wie Stalin oder Mao in jeweils einem ihrer besonders erfolgreichen, doch entfernte man alle Werke vom Planeten, die aus dem Christentum wuchsen, alle Architektur, alle Malerei, alle Literatur, alle Musik, was bliebe in unserem Weltteil übrig? Und warum sollte etwas grundsätzlich überwindenswert sein, das die Musik Bachs, die Fresken der italienischen Renaissance und den schönen Jahresrhythmus der Feste hervorgebracht hat?

(Diese versöhnlichen Sätze stehen übrigens im Original hier.)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.