Stationen

Mittwoch, 10. Juni 2020

White life matters

Bisher steht sie noch, die berühmte Statue Winston Churchills gegenüber dem Parlamentsgebäude von Westminster. Man sieht ihn als eindrucksvolle Gestalt, der Gesichtsausdruck entschlossen, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, den Mantelkragen hochgeschlagen und auf einen Stock gestützt.
Aber bei den jüngsten Demonstrationen hat man Churchills Namen am Sockel durchgestrichen, „Rassist“ daruntergeschrieben und den Abriß verlangt. Das ist kein isolierter Vorgang, sondern ein neuer Höhepunkt jenes Kulturkampfs, den die Linke seit Jahren gegen die Erinnerung an einen Mann führt, der aus der Sicht der meisten Briten ein, wenn nicht der Heros ihrer Geschichte ist.
Es gibt kaum eine historische Stätte im Vereinigten Königreich – ganz gleich, ob sie mit der Person Churchills in Verbindung stand oder nicht –, die auf das Angebot von Churchill-Devotionalien verzichtet. Churchill auf Postkarten oder auf dem Mousepad, auf der Teekanne oder dem Button, Churchill als Premier oder Churchill als Bulldogge. Der Grund dafür ist leicht zu nennen: Churchills Name ist für die Briten unlöslich mit dem verbunden, was sie als letzte Glanzzeit ihrer Nation betrachten.
Der Erfolg von Filmen wie jüngst Dunkirk oder Darkest Hour (beide 2017) oder die zahllosen Reenactment-Veranstaltungen, die den einsamen Kampf gegen Deutschland während des Zweiten Weltkriegs zum Thema haben, das alles erklärt sich wesentlich aus der Tatsache, daß auf der Leinwand oder dem Bildschirm oder in der Verkleidung vor nostalgischer Kulisse Großbritannien noch einmal als groß erscheint und Churchill als Repräsentant einer Epoche in goldbraunem Sepia.
Kritik daran hat es immer gegeben. Von rechts, da Churchill letztlich für den Untergang des Empire verantwortlich war, von links, weil er als Repräsentant der Oberschicht nicht nur die Klassengesellschaft aufrechterhalten wollte, sondern auch die dauernde Unterdrückung und Ausbeutung fremder Völker rechtfertigte. Beide Seiten haben ihre Argumente.
Churchills Fixierung auf das „Sieg, Sieg um jeden Preis“ als Kriegsziel ist ebenso unbestreitbar wie die Grundierung seiner Weltanschauung durch den Sozialdarwinismus. Man kann auch eine Menge abfälliger Aussagen über Araber, Inder, Pakistanis oder Deutsche zitieren oder auf die Tatsache hinweisen, daß er 1955 als Slogan für den Wahlkampf der Tories „Keep England White!“ vorgeschlagen hatte, um die Bio-Briten gegen die wachsende Zahl der „farbigen“ Einwanderer zu mobilisieren.
Letzteres werden jene, die sein Denkmal schleifen möchten, voller Genugtuung zur Kenntnis nehmen. Und angesichts der gegenwärtigen Stimmungslage ist nicht auszuschließen, daß sie Erfolg mit ihrem Bildersturm haben und sich danach ein neues Ziel suchen.
Man könnte ihrer Aufmerksamkeit das Monument eines weiteren Premiers empfehlen, das gleichfalls im Herzen Londons gegenüber dem Parlamentsgebäude steht. Gemeint ist die imposante Bronzestatue Benjamin Disraelis. Disraeli gehörte zu jenen „Ausnahmejuden“ (Hannah Arendt), die im 19. Jahrhundert Zugang zur britischen Führungsschicht fanden.
Bevor seine politische Karriere in Schwung kam, hoffte Disraeli ein bedeutender Schriftsteller zu werden. Echter Erfolg blieb seinen Romanen aber versagt, zumal die in ihnen auftretenden Personen vor allem dem Zweck dienten, bestimmte Sichtweisen Disraelis zu transportieren. Das gilt auch für das Buch Tancred (1847), in dem sich die Sätze finden: „Rasse ist alles. Es gibt keine andere Wahrheit. Und jede Rasse geht unter, die es achtlos leidet, daß ihr Blut sich vermischt.“
Disraeli war, nach dem Urteil eines Biographen, „besessen“ (Edgar Feuchtwanger) von seiner Herkunft, aber auch fasziniert von dem, was er als prägendes Element in der Geschichte seiner britischen Heimat ansah. Das brachte ihn zu der Auffassung, daß Juden und Germanen als Zweige der „Kaukasischen Rasse“ berufen seien, die Welt neu zu ordnen.
Seine Vorstellungen speisten sich unverkennbar aus der Romantik und einem eher traditionellen Reichsgedanken. Was aber nicht verhindern konnte, daß Antisemiten seine Aussagen über die Rasse mit Genuß zitierten, um sie gegen ihren Urheber zu wenden und sonstigen ideologischen Nutzen daraus zu ziehen. Ein Muster, dem Antirassisten unschwer folgen könnten, wenn sie ihre Säuberungsmaßnahmen fortsetzen, um das Andenken all derer zu tilgen, die sie als „Rassisten“ markieren.
Wer diesen Feldzug mit wachsendem Unbehagen verfolgt, wird sich nicht auf den Hinweis beschränken dürfen, daß Disraeli oder Churchill aus ihrer Zeit verstanden werden müssen. Entscheidend wäre vielmehr, klar zu stellen, daß es bei dem Anerkennungskampf, der gegenwärtig unter dem Banner des Antirassismus geführt wird, nicht um moralische, sondern um Machtfragen geht, nicht darum, daß viele Wohlmeinende den Planeten zu einem besseren Ort machen wollen, sondern darum, daß einige Entschlossene die Absicht haben, eine „Ideokratie“ (Heinrich Leo) zu errichten, die alle unter das Gesetz ihrer Anschauungen beugt, – sie mögen so absurd sein wie sie wollen.    Karlheinz Weißmann




Obwohl in den vergangenen 50 Jahren die Schwarzen und andere nichtweiße Ethnien in der westlichen Welt rechtlich in jeder Hinsicht gleichgestellt und gesellschaftlich akzeptiert, ja hofiert wurden, belehrt uns ein Blick in eine beliebige amerikanische oder westeuropäische Universität oder jede Oscar-Verleihung, dass Rassismus und Diskriminierungen aller Art offenbar noch nie so extrem waren wie heute. Es ist wie mit dem Feinstaub: Je niedrigere Grenzwerte man festlegt und je genauer man misst, desto schlimmer wird es, auch wenn die gemessenen Werte ständig sinken. Wenn der Rassismus nur noch in homöopathischen Dosen feststellbar ist, wird wohl die Klage über Rassismus einen unerträglichen Lautstärkepegel erreichen.

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