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Freitag, 19. Juni 2020

Man kommt aus dem Staunen einfach nicht mehr raus, obwohl man sich über nichts mehr wundert

Heute in der Debatte darüber, ob die Antifa verboten werden sollte (ich hätte einen Antrag besser gefunden, der sie zur kriminellen Vereinigung erklärt), lernten Millionen Zuschauer an ihren Volksempfängern nicht nur, dass eine feststellbare Struktur oder Organisation namens "Antifa" gar nicht existiere – ganz im Gegensatz zu einer Struktur namens "Flügel" in der Schwefelpartei –, sondern auch, dass die SPD "seit 157 Jahren antifaschistisch" sei, wie einer der Sozenredner, ein Oberpfälzer namens Uli Grötsch, versicherte.

Wer jetzt spontan an Frans Timmermans denkt, den ehemaligen EU-Vizepräsidenten und Spitzenkandidaten der niederländischen Sozialdemokraten, der vor einem Jahr lächelnd erklärt hatte, der Islam gehöre seit 2000 Jahren zu Europa, begibt sich vor die richtige Schmiede. Beziehungsweise Sonderschule. Immerhin rüffelte Gevatter Grötsch die Grantler und Greiner zur Rechten mit den Worten: "Sie hätten in der Schule besser aufpassen sollen, Antifaschismus hat nichts mit Linksextremismus zu tun." Und in seiner Debütantenzeit hatte er noch nicht mal etwas mit Faschismus zu tun! Mancher wird sich noch entsinnen, dass ein großer sozialdemokratischer Theoretiker angelegentlich der G20-Kirmes 2017 zu Hamburg Ähnliches zu Papier und Gehör brachte:



Indem sie versuchen, den "Antifaschismus" als Grundkonsens eines Milieus zu etablieren, das sich als konkurrenzlos demokratisch empfindet, nehmen die Sozis einen Kampfbegriff in ihr rhetorisches Arsenal auf, der von den noch Roteren viele Jahre lang gegen sie selber verwendet wurde. Mitte der 1920 Jahre erfand Grigori Sinowjew den "Sozialfaschismus". Ihr eigenes Land hatten die Bolschewisten damals bereits hinreichend gesäubert, um auf "Sozialfaschisten" fast nurmehr noch im Ausland zu stoßen. Mit dem Etikett wurde alles auf der Linken stigmatisiert, was nicht auf stalinistische Komintern-Linie einschwenkte. Ganz oben auf der Proskriptionsliste standen die deutschen Sozialdemokraten. Thälmanns KPD tat folgsam mit bei der Schmähung der hellroten Brüder. Aus Sicht der Kommunisten fungierte die Sozialdemokratie als linker Flügel der bürgerlichen oder, in Marx'scher Terminologie, der von der Bourgeoisie beherrschten kapitalistischen Gesellschaft, die als äußerste Reaktion auf den Siegeszug des Kommunismus den Faschisten die Macht übergab. Erst später in der DDR sollte die Zwangsvereinigung mit den Kommunisten die Sozis von ihrem sozialfaschistischem Kainsmal befreien.

Nachdem Sinowjew ihn auf die Idee gebracht hatte, nannte Stalin Sozialdemokratie und Faschismus "Zwillingsbrüder". (Später ließ er Sinowjew hinrichten)

Wir kommen jetzt zu der im Kontext des bisher Ausgeführten nicht leicht zu beantwortenden Frage, ob Honecker Antifaschist war. Er saß unter Hitler im Zuchthaus, als Kommunist, also als Mitglied einer Truppe, die vorher gegen die Sozialfaschisten und die Nationalsozialisten gleichermaßen Rot Front gemacht hatte. Die Armee des Faschisten Stalin hat ihn schließlich befreit. Warum sollte der Faschist Stalin einen Antifaschisten befreien?

Fragen über Fragen...


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Ernst beiseite: Der Antifaschismus war die Staatsdoktrin und der Staatsmythos der DDR. Auf nichts beriefen sich die Genossen öfter und inniger. Nur die Amalgamisierung mit dem Antifaschismus hat den Kommunismus in Mitteldeutschland legitimieren können. (Dass sie immer vom "Faschismus" redeten, wenn sie eigentlich den Nationalsozialismus meinten, hatte mit einer Art sozialistischem Inzesttabu zu tun.) Ohne die Nazis hätten die Genossen völlig nackt dagestanden, denn sie hatten ja, außer ein paar rasch platzenden Illusionen, den Menschen weder politisch noch wirtschaftlich noch kulturell etwas anzubieten. Zeit ihrer Existenz stand die DDR unter diesen ambivalenten Sternen. Derzeit erleben wir, wie die BRD sich anschickt, diese Konstellation wiederzuentdecken.

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