Stationen

Sonntag, 7. Juni 2020

Die CDU als trojanisches Pferd der DDR

Vor einiger Zeit machte sich der Kommentator Heribert Prantl in der Süddeutschen Gedanken, was das „Alpha und Omega“ von Merkels Kanzlerschaft bilden könnte. Die Formulierung findet sich bei ihm mehrmals; sie soll den symbolischen Eingang und Ausgang ihrer Regierungszeit bedeuten, das, was für die Geschichtsbücher bleibt. Vor allem „das große Omega einer großen politischen Karriere“ liegt Prantl am Herzen. Große Journalisten lieben solche Formulierungen. Was bleibt, konzentriert sich bei Politikern in Taten, Sätzen oder beidem. In einem Satz wie Brandts „wir wollen mehr Demokratie wagen“, in Helmut Schmidts Entscheidung, die “Landshut“ stürmen zu lassen, in Helmut Kohls Griff nach der Einheit.

Bei Angela Dorothea Merkel läuft es auf zwei Äußerungen aus dem Jahr 2020 zu, die zwar nicht am Anfang und Ende der Kanzlerschaft stehen, sich aber symmetrisch zueinander verhalten und ihr politisches Erbe mehr oder weniger zusammenklammern. Eigenartigerweise ist es bisher nur wenigen aufgefallen, wie ideal sie zusammenpassen. Möglicherweise liegt es daran, dass es sich einmal um zwei Sätze handelte, das andere Mal um Schweigen, was bekanntlich unter bestimmten Umständen auch eine Äußerung sein kann. Jedenfalls ist es jetzt Zeit, da sich Blicke gerade auf die USA richten, auf das EU-Milliardenprogramm, statt der Details das Große und Ganze von Merkels Kanzlerschaft zu betrachten. Denn jetzt steht ihr politisches Vermächtnis weitgehend fest.

Ihre erste Aussage für die Geschichtsbücher fiel am 5. Februar 2020 in Pretoria, ihr mittlerweile schön öfter zitierter Kommentar zur Ministerpräsidentenwahl in Thüringen: „Da dies absehbar war in der Konstellation, wie im dritten Wahlgang gewählt wurde, muss man sagen, dass dieser Vorgang unverzeihlich ist und deshalb auch das Ergebnis wieder rückgängig gemacht werden muss.”
Zum einen bleibt das Diktum „unverzeihlich“ als Bezeichnung für eine Wahl, gesprochen von Südafrika aus, einem Land, in dem es nach Ende der Apartheid sogar den Versuch gab, zu einer Versöhnung zu finden, also zu einer wechselseitigen Verzeihung, selbst für Taten wie Folter und Mord.
Unverzeihlich: Das ist eine Vokabel, die schon wegen ihrer Totalität das Zeug für Chroniken besitzt, erst Recht angewendet auf eine Wahl in einem deutschen Landesparlament. Deren Ergebnis, so lautet der zweite Teil der historischen Aussage, muss also rückgängig gemacht werden. Eine Wahl rückgängig machen – bis zum Februar 2020 hätte eine Mehrheit im Land noch geglaubt, hier verliefe eine rote Linie, die jeder, egal in welcher Position, egal welcher Parteizugehörigkeit überschreitet, der die Abwicklung einer Wahl fordert, weil ihm das Ergebnis nicht passt. Aber möglicherweise hatte auch nur ein Teil der Gesellschaft geglaubt, eine Mehrheit würde darin eine rote Linie sehen. Proteste gegen die Neugründung der Bundesrepublik – nichts weniger als das war es nämlich – blieben weitgehend aus, teils durch politische Erpressung, teils durch „Druck der Straße“ (Saskia Esken) bekam Merkel ihren Willen. Der stellvertretende Bundestagspräsident Hans-Peter Friedrich merkte an, eine Rückgängigmachung einer Wahl sei im Grundgesetz nicht vorgesehen. Als Reaktion darauf twitterte ein Redakteur der FAZ, offenbar brauche die AfD keinen Bundestagsvizepräsidenten, diese Funktion nehme ja schon Friedrich wahr.

Wem die Feststellung der Republikneugründung zu weit und hoch gegriffen ist, der sollte in diesen Tagen nach Radebeul schauen, wo gerade die nächste Wahl rückabgewickelt wird, dieses Mal ohne besondere Anweisung durch jemanden aus der Staatsleitung. In Radebeul jedenfalls wählte eine Mehrheit der Stadtverordneten am 20. Mai den parteilosen Schriftsteller Jörg Bernig auf Vorschlag der lokalen CDU zum neuen Kulturamtsleiter. Gegen diese Entscheidung erhob sich umgehend das, wofür es das Medienwort „Proteststurm“ gibt, schon, um den Vorgang von Hass & Hetze zu unterscheiden. Bei dem Proteststurm handelte es sich in Wirklichkeit um eine routiniert angeleierte Kampagne gegen Bernig, dem ein gar nicht besonders breites Bündnis progressiver Kultur- und Medienschaffenden unter besonderer Beteiligung eines früheren Stasi-Zuträgers und der Süddeutschen Zeitung vorwirft, „neurechts“ und „völkisch-nationalistisch“ zu sein.

Dieses Urteil, gegen das es keine Berufung gibt, handelte er sich durch eine ganze Reihe von Unverzeihlichkeiten ein.
Zum einen schrieb Bernig 2015 einen Text in der Sächsischen Zeitung über die Migrationspolitik Merkels, die er für falsch hält. In einer Rede in Kamenz im gleichen Jahr kritisierte er, dass eine öffentliche Debatte beispielsweise über Fragen wie Migration von politisch-medialen Meinungsführern durch „aggressives Moralisieren“ ersetzt werde. Außerdem unterschrieb Bernig die Charta 2017, einen Aufruf, der vor einer Gesinnungsdiktatur warnte, nachdem Mitglieder eines linken Mobs auf der Frankfurter Buchmesse Bücher, die es ihrer Ansicht nach nicht geben sollte, an Messeständen entwendeten, beschmierten und zerstörten. Er gehörte auch zu den Erstunterzeichnern der „Erklärung 2018“, die sich gegen eine Einwanderung wendet, bei der geltendes Recht umgangen wird. Eine ganz ähnliche Kritik an der aktuellen Einwanderungspraxis hatte übrigens 2019 auch der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier vorgebracht. Die Süddeutsche Zeitung bezeichnete in ihrer Berichterstattung zu Bernig die „Erklärung 2018“ als „migrationsfeindlich“, eine kleine Lüge am Wegesrand: In dem Langtext zur „Petition 2018“ fordern die Unterzeichner sogar ausdrücklich ein modernes Einwanderungsrecht. Sie wenden sich nur eben gegen Migration über das dafür nicht vorgesehene Asylrecht.
Aber auf faktische Umstände kommt es in der Affäre nicht an, zumindest nicht für diejenigen, die schon in der neuen, umgegründeten Republik angekommen sind. Vor wenigen Tagen meldete die Süddeutsche den ersten Etappensieg, die Wiederholung der Wahl zum Kulturamtsleiter von Radebeul.

In den Artikel brachte das Blatt auch noch unkommentiert die Meldung unter, dass auch Schriftstellerverbands-Funktionäre sich jetzt Gedanken über ihr fälschlicherweise gewähltes Noch-Mitglied machen:
„Der Schriftstellerverband PEN, dessen Mitglied Bernig seit 2005 ist, forderte ihn inzwischen auf, ,zu prüfen, inwieweit er seine Verpflichtung gegenüber der PEN-Charta wahrnehmen kann, und gegebenenfalls die notwendigen Konsequenzen zu ziehen’”.
Die Geschichte reicht in ihrer Parabeltauglichkeit weit über Radebeul hinaus: Wie ein Schriftsteller, der sich in einem Aufruf gegen eine drohende Gesinnungsdiktatur wendet und vor einem aggressiven Moralisieren warnt, genau deshalb, weil er das tut, ein Amt trotz demokratischer Wahl nicht antreten darf, und jetzt auch noch aus dem PEN entfernt werden soll. Der Vorgang wäre literaturwürdig, wenn Johann Peter Hebel dazu nicht schon seinen Zwei-Sätze-Text für die Ewigkeit geschrieben hätte:
„Ein Büblein klagte seiner Mutter: Der Vater hat mir eine Ohrfeige gegeben! Der Vater aber kam dazu und sagte: Lügst du wieder? Willst du noch eine?“
In Radebeul kommt es also zu einer Wahlwiederholung. Dieses Mal läuft der Vorgang schon nicht mehr so ruckelig wie in Thüringen ab, sondern gut geseift. Und er setzt Maßstäbe für weitere Wahlen.
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Wenn unverzeihlich und Wahlwiederholung das Alpha von Merkels Ära darstellten, was bildet dann das Omega?
Ebenfalls im Mai fand in Schwerin die Wahl zum Landesverfassungsgericht statt. Zur Richterin gewählt wurde die Linkspartei-Politikerin Barbara Borchardt, auch mit den Stimmen der CDU. Borchardt gehört der Linkspartei-Plattform „Antikapitalistische Linke“ an, die vom Bundesamt für Verfassungsschutz als linksextremistisch eingestuft wird. Sie strebt einen „grundsätzlichen Systemwechsel“ und den „Bruch mit den kapitalistischen Eigentumsstrukturen“ an, also die Beseitigung des grundgesetzlich garantierten Eigentumsrechts. Vermutlich müssten dafür auch noch ein paar andere Grundrechte geschleift werden. Immerhin machen selbst Straßenräuber die Erfahrung, dass sich Menschen nicht immer widerstandslos von ihrem Eigentum trennen lassen, oder sich zumindest durch Flucht entziehen.
Aber dazu gibt es schon Wegweisungen von der frisch gekürten Verfassungsrichterin. Zum 50. Jahrestag des Mauerbaus unterzeichnete sie ein Manifest, das den Antifaschistischen Schutzwall („Antifaschismus ist eine Haltung“ – Saskia Esken) verteidigte.
„Die Errichtung der Mauer“, hieß es dort, „leitete eine Periode friedlicher Koexistenz in Europa ein, die unter anderem durch die weltweite Anerkennung der DDR gekennzeichnet war.“ Auch die von der SED-Parteiführung befohlenen Todesschüsse erwähnt das Papier irgendwie, allerdings unter Weglassung von SED und Todesschüssen: „Menschen verloren an der Grenze ihr Leben.“ Das Leben verlieren – das passiert eben, wenn man nicht aufpasst. Unwillkürlich denkt man an Bertold Brechts Dialogzeile: „Unvorsichtig sind die Leute.“
In einem Interview mit der bewährten Süddeutschen sagte sie dazu den schönen Satz: „Man muss sich emotionslos mit der Geschichte der DDR in einem Gesamtzusammenhang auseinandersetzen.“ In dem gleichen Gespräch beklagte sie sich über den „puren Antikommunismus“, den sie seit dreißig Jahren erlebe. Wird sie mit entsprechenden Zitaten vorsichtig auf die Positionen der „antikapitalistischen Linken“ und den angestrebten Systemwechsel angesprochen, antwortet sie, sie sei bei den letzten Diskussionen der Plattform nicht dabei gewesen. Dem Interviewer genügt das.
Seit ihrer Wahl sind einige Wochen verstrichen. Borchardt hätte die Möglichkeit gehabt, zumindest ihren Austritt aus der extremistischen Plattform bekanntzugeben und ihre Äußerungen zur DDR-Grenze zu bedauern. Sie tat es ausdrücklich nicht. Ihre Haltung läuft auf die Formel hinaus: So viel DDR wie möglich, so viel Bundesrepublik wie nötig. Damit kann jemand im Jahr 2020 Verfassungsrichterin werden. In der DDR hätte sie das übrigens nicht geschafft. Dort gab es keine Verfassungsgerichte. Es gab noch nicht einmal Verwaltungsrecht, das Bürgern erlaubt hätte, gegen den Staat zu klagen.
Zu ihrer Wahl äußerten sich bisher wenige CDU-Politiker. Nur einer, ein Parteiaußenseiter, mit grundsätzlichen Überlegungen, die anderen mit apologetischem Gebrubbel darüber, von der Linkspartei ausgerechnet diese Kandidatin vorgesetzt bekommen zu haben. Die Christdemokratie sollte froh sein, dass der Personalvorschlag der Linkspartei für das Verfassungsgericht nicht Egon Krenz hieß. Wahrscheinlich wäre auch der ins Amt gekommen, spätestens im dritten Wahlgang, nur hätte dann die CDU noch mehr Umstände beim Wegschwatzen gehabt.

Wo bleibt nun das große Omega der Angela Merkel in dieser Geschichte? Es besteht im Schweigen der Kanzlerin zu Borchardts Wahl. Der Akt an sich markiert einen tiefen Einschnitt in der Geschichte der Bundesrepublik, fast so tief wie die Rückgängigmachung der anderen Wahl in Thüringen.
Immerhin meldete sich dazu die amtierende CDU-Verweserin zu Wort, es gibt eine hohe Medienaufmerksamkeit. Wenn es ihr wichtig erscheint, äußert sich Merkel bekanntlich zu allem, auch quer über Verfassungsgrenzen hinweg zu einer Wahl in Thüringen, auch schnell, etwa, als ihr ein von anonymen Linksradikalen in Umlauf gebrachter 19-Sekunden-Videoschnipsel aus dem Internet genügte, um Hetzjagden in Chemnitz zu diagnostizieren. Merkel könnte einem Kommentar in diesem Fall sogar eine persönliche Note geben. Bei Borchardt handelt es sich um eine frühere Schulkameradin der Kanzlerin aus Templin.
Sie müsste die Wahl nicht gleich rückgängig machen, obwohl sie das zustande bringen würde. Aber überhaupt eine Äußerung von ihr wäre doch angebracht angesichts der Neuvermessung nicht nur der CDU-Grenzen, sondern der des ganzen Landes. Es geht, wohlgemerkt, nicht darum, jemanden wie Barbara Borchardt als Person und Mitglied eines Parlaments auszuhalten. Das wäre in einer intakten Demokratie keine Frage. Es geht darum, ob eine Person, die Grundrechte in wesentlichen Teilen gern abschaffen würde und in staatlich angeordneten Erschießungen von Zivilisten bedauerliche Kollateralschäden sieht, heute über Verfassungsfragen der Bundesrepublik Deutschland richten soll. Und das nicht, weil etwa die umbenannte SED in Mecklenburg-Vorpommern die absolute Mehrheit erreicht hätte, sondern mit Stimmen und Segen der früheren Partei Konrad Adenauers.

Angela Merkels Schweigen zu dieser Frage können wir als Antwort deuten: Es stört sie nicht. Beziehungsweise: Jetzt ist die Borchardt halt da.

Mit ihrem Alpha zu Thüringen schaffte es die Kanzlerin, die Doktrin von der Wahl unter Vorbehalt durchzusetzen. Eine bloße Mehrheitsentscheidung gilt erst dann etwas, wenn sie auch das moralpolitisch Richtige durchsetzt. Ansonsten eben nicht. Mit ihrem Omega, dem symmetrisch ausgebildeten Schweigen zu einer anderen Wahl, macht sie deutlich, dass die Moralpolitik nur in eine Richtung gilt, und zwar sehr rigide, während nach links überhaupt kein Limit mehr existiert. Wenn es eine imaginäre Grenze gab, dann wurde sie durch Merkels Schweigen in diesen Tagen geöffnet. Beides, ihr Unverzeihlich-Coup in Thüringen und ihr Schulterzucken zu der Wahl in Schwerin gehören in Form und Funktion zusammen wie zwei Bücherstützen in der Schrankwand.
Um es noch einmal zusammenzufassen: In Thüringen wurde die Wahl eines FDP-Politikers rückgängig gemacht, in Radebeul geschieht gerade dasselbe mit einem gewählten CDU-Kandidaten. Diejenige, die sich von den drei beschriebenen Fällen durchsetzte, ist eine Politikerin der Linkspartei, die selbst dort zum extrem linken Rand gehört.
So einfach, mit ein paar Sätzen hier und einem taktischen Schweigen dort, gelang Merkel diese Achsenverschiebung nicht. Das entsprechende Klima dafür ist das Werk ihrer langen Kanzlerschaft, besonders der Phase ab 2015. Dieses Klima zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sowohl die neue Praxis der Wahlwiederholung als auch die Bestellung einer Verfassungsfeindin zur Verfassungshüterin keine größere Aufregung im Land verursacht.

Der Nordkurier wollte in einem Interview mit Borchardt wissen: „Wie finden Sie eigentlich unser Grundgesetz? Was gefällt Ihnen? Was kritisieren Sie?“ Das ist eine schöne Frage an eine Verfassungsrichterin. Ohne Medienschaffende dieser Sorte wäre die Umgründung der Republik nie gelungen.
Und um eine Umgründung handelt es sich, um einen gesellschaftlichen Klimawandel, der nicht von gestern auf heute kam. Die Früchte dieser neuen Ordnung reifen an vielen Stellen. In der Welt etwa meldet sich eine Innenpolitikredakteurin mit einem Artikel unter der Überschrift:
„Die Aufregung über die Gender-Sprache ist undemokratisch“.
Ihr missfällt, dass laut einer Umfrage von dimap eine Mehrheit der Deutschen das Gendern in Texten und Reden ablehnt, auch 52 Prozent der Frauen. Selbst wenn sich nur eine Minderheit gegen Gendersternchen und Binnen-I aussprechen würde, wäre das nicht „undemokratisch“, Minderheitsmeinungen gehören schließlich zu einer offenen Gesellschaft. Die Welt-Redakteurin, ein Kind der Merkel-Ära, findet allerdings „undemokratisch“, was eine Mehrheit meint. Den Begriff ’demokratisch’ definiert sie wie etliche andere Meinungsschaffende um in: eine progressive Agenda durchsetzen.
Selbst dann, wenn eine Mehrheit diese Notwendigkeit nicht einsieht. Kritiker der Gendersprache sind für sie nicht Kritiker, sondern „Feinde der Sternchen und Binnen-Is“. Und diese Feinde belehrt sie: „Wer in der Diskussion gleich vor einer ‚Sprachdiktatur’ warnt, gelangt selbst an die Grenzen der demokratischen Auseinandersetzung.“ Im Grundgesetz kommt eine solche Grenze der demokratischen Auseinandersetzung zwar genau so wenig vor wie eine Wahlwiederholung, jedenfalls bis jetzt nicht. Aber die Verfassung – siehe die Wahl Borchardts und die Wahlabwicklung anderswo – hatte schon einmal bessere Zeiten gesehen. Der Artikel stammt auch nicht aus der Jungen Welt oder einem anderen sozialistischen Theorieorgan, sondern aus der neuen Welt.
Der neue DFB-Präsident Fritz Keller umriss kürzlich in einem Interview erst einmal für den Fußball, wie die neue – noch inoffizielle – Verfassung der Bundesrepublik neuen Typs aussehen könnte:
„Wer rechtes Gedankengut hat oder eine rechte Partei wählt, ist im Fußball falsch“, so Keller. „Der Fußball steht für Verständigung und nicht für Ausgrenzung.“ Ausdrücklich spricht er nicht von rechtsradikal oder rechtsextrem. Von linksextrem oder islamistisch ist bei ihm überhaupt nirgends die Rede. In größeren Landstrichen Deutschlands gibt es durchaus Mehrheiten, die nach Definition von Berliner Journalistinnen, Vereinsfunktionären und erst Recht der neuen Verfassungsrichterin im Nordosten als rechts gelten. Aber wenn es nicht so wäre, müssten ja auch Wahlen, Mehrheiten und Diskursgrenzen nicht neu definiert werden.
Die Vorbereitungsgruppe des nächsten Ökumenischen Kirchentags beschloss gerade, zu der Veranstaltung auf keinen Fall Mitglieder der AfD als Redner oder Diskutanten einzuladen. Davon, Mitglieder der Partei Borchardts auch auszuschließen, war nicht die Rede. „Das war keine kontrovers diskutierte Sache. In der Grundüberzeugung waren sich alle sehr, sehr schnell einig“, kommentierte der Sprecher des Ökumenischen Kirchentags Theodor Bolzenius den Beschluss. Er, die Katholische Kirche und die EKD setzen den neuen Kurs der Funktionselite sehr reibungsfrei um. Auch, dass sich alle sehr, sehr schnell einig sind und Diskussionen in Gremien kaum noch stattfinden, gehört zu der neuen Republik.
Zu diesem Klima haben viele beigetragen. Aber keine einzelne Person so viel wie Angela Merkel. Das bleibt für die Geschichtsbücher.
Die CDU als bürgerliche Partei fast völlig aufgerieben, die Republik umdefiniert, die Verfassung zu einer Meinung unter vielen gemacht zu haben, das hätten ihr die wenigsten zugetraut. Darin liegt sogar so etwas wie Größe.
Dabei ging es erstaunlich schnell, so schnell, dass es die meisten noch gar nicht begreifen. Aber sie können später sagen: Wir sind dabei gewesen.   Wendt

Das Schlimme an der kanzleramtsnahen Presse ist, dass sie nicht gleichgeschaltet wurde, sondern dass Merkel sich ihr durch plötzliche Annnäherung seit 2011 anglich. Seit ein ehemaliger Lektor von Klaus Wagenbach Redakteur der Welt wurde (i.e. seit Döpfner die Springer-Presse mit Grass versöhnte; und zwar nachdem Grass seine Jugendsünde gebeichtet hatte), traten die konservativen Journalisten durch Pensionierung ab und die nach ’68 dürstenden Hippies kamen in die Chefsessel. Diesem neuen linken Establishment schmiegte Merkel sich an. Mit einem Streich ruinierte sie die SPD, stellte die CDU auf den Kopf und richtet mittlerweile Deutschland (und Europa) zugrunde.



Man hat Welt und Welt am Sonntag weiland als „Kampfblätter“ der Springer-Presse bezeichnet. Das war nicht wohlwollend gemeint. Aber es traf doch den Kern der Sache insofern, als die beiden Zeitungen – Auflagenschwund hin oder her – für einen bestimmten Wertekanon einzutreten hatten. Der war vom Gründer des Springer-Konzerns – dem Verleger Axel Cäsar Springer – formuliert worden und eng mit seiner Person verbunden. Was erklärt, warum er nach Springers Tod nicht einfach aufrechterhalten wurde. Allerdings haben nur wenige damit gerechnet, daß sich das, was eben noch galt, in sein Gegenteil verkehren sollte.
Springers Zeitungen, einst der publizistische Hauptfeind der Achtundsechziger, verstehen sich heute als Sprachrohr jener Ideen, die die linken Kulturkrieger in den vergangenen Jahrzehnten Stück für Stück durchgesetzt haben. Wer eine Ausgabe aufschlägt, den wundern weder die Empfehlungen für den Seitensprung noch der penetrante Feminismus, weder die Propaganda zu Gunsten der Gesamtschule noch die Klischees der Vergangenheitsbewältigung.
Allerdings bedeutet Deniz Yücels aktuelles Bekenntnis zum „Antifaschismus“ doch ein Novum. Sicher findet seine Auffassung, daß „Antifaschismus … kein Fall für die Polizei, sondern demokratische Selbstverständlichkeit“ ist, heute Zustimmung bis in die Reihen von CDU und CSU. Aber dasselbe gilt nicht für die These, daß im „konservativ-liberalen Milieu“ „die Übergänge zur extremen Rechten mitunter fließend sind“, oder für die Behauptung, daß „sich die Mitte, von Ausnahmen abgesehen, eher mit dem Faschismus arrangiert, anstatt diesen zu bekämpfen“. Solche ideologischen Versatzstücke waren sicher für Yücels vormalige Arbeitgeber – Jungle World und taz – Selbstverständlichkeiten, aber nicht für ein immer noch als bürgerlich geltendes Blatt.
Eine denkbare Erklärung für Yücels Vorstoß ist, daß er den Zeitgeist auf seiner Seite glaubt und sicher auf Sympathisanten in der Redaktion zählt. Vielleicht kommt das Bekenntnis zum Antifaschismus noch nicht jedem über die Lippen. Aber, was den Antirassismus betrifft, ist man angesichts der Entwicklung in den USA vollkommen einig.
Mehr noch, Yücels Kollege Jacques Schuster meint, man müsse den Kampf gegen das absolute Böse auch vor Ort führen. Denn – weiße – Deutsche hätten keinen Grund, die Nase über – weiße – Amerikaner zu rümpfen: „Unsere Schwarzen sind die Türken, gefolgt von Arabern, Rumänen und Bulgaren“, denen man Probleme bei der Wohnungssuche bereitet und die zu Unrecht unter Generalverdacht gestellt werden, wenn es um Organisierte Kriminalität geht. Schusters Eideshelfer sind Gustav Heinemann und Theodor Adorno, und es fehlt auch nicht der obligate Hinweis auf den inneren Zusammenhang von Fremdenhaß und Antisemitismus.
Selbstverständlich geht es bei alldem nicht nur um die Feststellung des Ist-Zustandes, sondern auch um ein Programm, das Abhilfe schaffen soll. Wie das auszusehen hat, ist einem Interview der Welt mit der Grünen-Politikerin Aminata Touré zu entnehmen. Der devote Ton und das völlige Ausbleiben kritischer Nachfragen können im Grunde nur als Zustimmung der Redaktion zu den Auffassungen Tourés gedeutet werden. Sie verfügt nicht nur über die Kompetenz der Betroffenen – ihre Vorfahren stammen aus Mali –, sondern verlangt auch, Rassismus zu „entlernen“. Das sei aber nur möglich, wenn man noch viel mehr Geld und noch viel mehr Posten für alle möglichen Dienststellen und Nichtregierungsorganisationen zur Verfügung stelle, um der Mehrheitsgesellschaft ihre fatalen Neigungen auszutreiben.

Selbst wenn man im Hause Springer von der Wünschbarkeit solchen Vorgehens überzeugt ist, sollte man doch – journalistische Seriosität vorausgesetzt – die Erreichbarkeit des Ziels erwägen. Wen die dazu nötige intellektuelle Anstrengung überfordert, der könnte es sich ganz einfach machen und einen Blick ins eigene Archiv werfen. Was allerdings zu erheblichen Zweifeln an der Realisierung der antifaschistisch-antirassistischen Traumwelt führen dürfte. Nicht weil es von Faschisten und Rassisten wimmelt und alle außer Yücel, Schuster, Touré und ihrer community so unbußfertig und dumm und böse sind, sondern weil dem Ziel einer „farbenblinden“ Gesellschaft schlicht entgegensteht, was man das Wesen des Menschen nennt.
Das dämmerte schon Thomas Schmid – einst APO, dann Springer-Journalist, Chefredakteur der Welt, schließlich Herausgeber der „Welt-Gruppe“ von 2010 bis 2014 –, der vor zwanzig Jahren festhielt: „Wir werden die multikulturelle Gesellschaft werden, die man rechts befürchtet hat. Und sie wird überhaupt nicht so aussehen, wie man sich links erhofft hat.“ (Leitartikel „Die multikulturelle Gesellschaft“, in: Die Welt vom 26. Februar 2000).
Und dann wäre da noch der prophetische Text des Ethologen Irenäus Eibl-Eibesfeldt über die „Chancen einer multiethnischen Gesellschaft“. Er beurteilte sie schon 1989 äußerst skeptisch und hatte dafür gute Gründe. Seiner Meinung nach zeigten die Erfahrungen in den USA wie in Frankreich oder Großbritannien, daß eine „bunte“ Einwohnerschaft faktisch dazu führt, die Gesellschaft zu spalten und daß dem mit keiner Pädagogik beizukommen ist, da hier bestimmte anthropologische Faktoren im Spiel sind, die sich nicht abschaffen lassen, weder durch Überredung noch durch Zwang:
„Man muß damit rechnen, daß archaische Muster territorialer Abwehr … aktiviert werden … Jede Gruppe wird bestrebt sein, ihre Eigeninteressen zu vertreten. Ohne diese ethnozentrisch-nepotistische Einstellung wäre keiner von uns auf dieser Welt. Reaktionen dieser Art sind nicht das Ergebnis rechtsradikaler Demagogenarbeit. Hier handelt es sich um alte archaische Verhaltensmuster, die ihre Funktion erfüllten und es vielleicht sogar auch heute noch tun, denn wer seine eigene genetische Verdrängung akzeptiert, redet in den folgenden Generationen nicht mehr mit. Wir können sicher bewußt gegen die uns angeborenen Verhaltensprogramme handeln. Aber dann müssen wir damit rechnen, daß wir uns damit eventuell auch aus der Evolution verabschieden.“ („Chancen einer multiethnischen Gesellschaft aus der Sicht eines Ethologen“, in: Welt am Sonntag vom 10. Dezember 1989)   Karlheinz Weißmann


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