In seinem Klassiker "Die Verschwörung der Flakhelfer" notierte Günter
Maschke vor mehr als drei Jahrzehnten: "Da niemandem eine auch nur
notdürftig verbindliche Definition der Verfassung möglich ist, wird sie,
anstatt der Boden zu sein, auf dem die (Rest-)Nation ihre Kräfte
zusammenfaßt, der Boden, auf dem sie ihre Bürgerkriege austrägt." Die
Verfassung der zweiten deutschen Republik sei "bereits in ihrer
Entstehungsphase eine Verfassung gegen Deutschland" gewesen. Typisch
dafür, fügte der bundesrepublikanische Dissident sui generis in einer Fußnote an,
sei die Diskussion, "ob die Bundesrepublik ein 'Rechtsstaat' sei oder
ein 'sozialer Rechtsstaat'" (andere Beispiele sind der leicht
überdehnbare Asylanspruch und das zur moralischen Erpressung einladende
Pathos von Artikel 1).
In einem glänzenden Interview in der aktuellen Jungen Freiheit
nimmt der Publizist Dimitrios Kisoudis den Faden auf. Er erinnert an
die Verfassungsdiskussion zwischen Ernst Forsthoff und Wolfgang
Abendroth Mitte der 1950er Jahre über die Frage, ob die Bundesrepublik
ein Rechtsstaat oder ein Sozialstaat sein soll. Bekanntlich haben sich
die Sozialstaatspropagandisten schließlich auf ganzer Linie durchgesetzt
und den heute herrschenden betrüblichen Zustand herbeigeführt, in dem
das Recht immer mehr relativiert wird, der Staat immer mehr in das
Privatleben der Bürger eingreift, während die Ansprüche von
Beutegemeinschaften auf das Eigentum oder die Leistungen anderer täglich
zunehmen. In Kisoudis' Worten: "Der Rechtsstaat versteht Grundrechte
als Abwehrrechte, die den Bürger und dessen Privatleben vor dem Zugriff
des Staates schützen. Der Sozialstaat dagegen versteht Grundrechte als
Ansprüche – nämlich des Bürgers gegenüber anderen Bürgern. Natürlich
kann nur der Staat diese Ansprüche durchsetzen, weil er das
Gewaltmonopol hat. Der Staat wurde vom strengen Vater zur fürsorglichen
Mutter. Damit war er fein raus." Denn: "Anstatt dem Staat zu misstrauen,
weil er seine Macht missbraucht, sollen wir dem Staatsbürger
misstrauen." Deshalb ist der Sozialstaat auch der Austragungsort
geistig-politischer Bürgerkriege um die richtige Gesinnung und
produziert ganze Kohorten von ehrenamtlichen Verfassungsschützern. "Die
Grundrechte des Rechtsstaates sind Normen – und bleiben Normen. Die
Grundrechte des Sozialstaates dagegen werden zu 'Werten' verklärt."
Während das Recht bloß verteidigt wird, haben "Werte" einen Tendenz zur
Aggression.
Im Sozialstaat ist das Recht bloß ein relatives Ding,
sozusagen ein "Wert" unter anderen, der von anderen "Werten" –
"Menschenrechte", "Würde des Menschen", "soziale Gerechtigkeit",
"Antidiskriminierung", "Gleichstellung", "Willkommenskultur",
"Klimarettung" – jederzeit überboten werden kann. Der Spott über die
Rechtsgläubigkeit – den Rechtsfundamentalismus –, der immer
unverhohlener die einschlägigen Gazetten durchrauscht, ist ein Beleg: Es
muss Wichtigeres, Größeres, Edleres, Herzerwärmenderes geben als das
nüchterne Recht, "sonst ist das nicht mehr mein Land".
Da der
Sozialstaat die Ansprüche von Gruppenegoismen bedienen muss, schafft er
ein Klima permanenten Streits um die Beute. Auf diese Weise, so
Kisoudis, "sprengt er die Grenzen zwischen Staat und Gesellschaft,
zwischen öffentlich und privat" und entpuppt sich schließlich als "eine
Form des 'totalen Staates'". Am Beispiel der
Antidiskriminierungs-Aktivisten, der Gender-Lobby und der
Einwandererverbände könne man studieren, dass Grundrechte wie
Gleichberechtigung oder Religionsfreiheit privatrechtliche Ansprüche
begründen. "Wir erleben das bei den Moslems: Je mehr es sind, desto
selbstbewusster stellen sie ihre Vertreter politische Forderungen, und
zwar im Jargon des Sozialstaates. Sie sagen nicht: Wir wollen Macht.
Sondern: Wir fühlen uns diskriminiert. Damit das aufhört, müsst ihr uns
in bestimmte Machtpositionen heben. Und die deutschen Eliten spielen
dieses Spiel genüsslich mit." Bis, ja bis es zu Ende gespielt ist und
der eigentliche Charakter des Sozialstaates unverhüllt zutage tritt.
Es
gibt Sätze, die eine Situation so beschreiben, wie ein greller
Scheinwerferstrahl die Dunkelheit erhellt. Mit einem solchen großartigen
Satz schließt das Interview: "In letzter Konsequenz ist der Sozialstaat
ein rechtsfreier Raum." MK
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