Mittwoch, 24. Juni 2020
Man muss den Symbolen ihre Unschuld lassen oder zurückgeben
„Es regnet wie an Johanni“. Das lettische Sprichwort hat sich in diesem Jahr nicht bewahrheitet. Das Wetter war den Tag über heiter, und niemand mußte Sorge haben, daß ein Guß von oben das Johannisfeuer auslöschen würde. „Jani“, das lettische Wort für Johannes, ist allerdings die weniger übliche Bezeichnung für das wichtigste Datum im Jahr der Letten.
Wer im späten Frühjahr nach Lettland kommt, kann den Plakaten oder Bannern, Zeitschriften oder YouTube-Filmchen nicht entgehen, auf denen für „Ligo“ geworben wird. Gemeint ist der Doppelfeiertag am 23. / 24. Juni, der von manchen als feucht-fröhliches Zusammensein mit Kirmescharakter, von anderen als Massenevent und von dritten als familiäres Treffen begangen wird, bei dem man im Vorfeld mit großem Aufwand kocht, backt und brät und vielleicht sogar Tracht anlegt.
Der Überlieferung gemäß zeigen sich die Frauen zu diesem Anlaß mit prächtigen Kränzen aus (sieben verschiedenen) Wiesenblumen, die Männer mit solchen aus Eichenlaub. In jedem Fall wird man ein Feuer anbrennen, Lieder singen, vielleicht im Kreis um die Flammen tanzen, möglichst bis zum Morgen durchhalten und vielleicht mit der Liebsten oder dem Liebsten die Blüte des Farns suchen.
Wenn sonst nichts, dann würden diese Hinweise ausreichen, um deutlich zu machen, daß Ligo ein Fest zur Sonnenwende ist. Die wurde im Baltikum (wie im übrigen Abendland) nach der Christianisierung mit dem Johannistag verknüpft, hat aber ihren heidnischen Charakter nie ganz verloren.
Bezeichnend ist schon, daß die Kirche, dann der Staat das Datum von Ligo und Jani zwar vom Datum der Sonnenwende getrennt haben, aber die Minderheit der Liven, das kleine baltische Brudervolk der Letten, bis heute darauf beharrt, alles Entscheidende am 21. Juni zu tun. Der archaische Zug vieler livischer Bräuche erklärt auch die Selbstverständlichkeit, mit der man an Vorstellungen festhält, die zwar nicht mehr ganz verstanden, aber trotzdem überliefert werden*. So antwortet eine Livin auf die Frage, warum sie den Kümmelkäse, der zu Ligo verzehrt wird, in eine runde Form bringe, achselzuckend mit „Der Käse ist rund, wir tanzen im Rund um das Feuer, der Kranz auf unserem Kopf ist rund, die Sonne ist rund.“
Diese assoziative Kette erscheint dem modernen Menschen seltsam. Sie ist aber nicht untypisch für eine traditionelle Denkweise. Und zweifellos hat die zentrale Bedeutung der Sonnenwende für Letten und Liven – auch die der Wintersonnenwende kurz vor Weihnachten – wie die Allgegenwart der Sonnensymbole in ihrem Land – eine aufgehende Sonne bildet das Schildhaupt des Nationalwappens – sehr alte Ursprünge.
Als man sich mit solchen Ursprüngen wissenschaftlich zu beschäftigen anfing, hat der Volkskundler Wilhelm Mannhardt 1875 eine Abhandlung über die „Sonnenmythen der Letten“ veröffentlicht. Die Grundlage bildeten zahlreiche Lieder, in denen es um die Sonne ging. Bemerkenswerter Weise erschien die Sonne in den Texten regelmäßig als Person, und zwar als weibliche (ähnlich wie im Deutschen).
Die Sonne wurde als „Mutter“ angesprochen, auch mit Maria gleichgesetzt. Gleichzeitig trat die Sonne als „Gottes Tochter“ auf und hatte ihrerseits Töchter, die wahrscheinlich die Sonnenstrahlen versinnbildlichten, aber auch Söhne, die auf „Sonnenrossen“ ritten, die manchmal die Sonne wie ein Gefährt über den Glasberg des Himmels oder den Himmelsozean zogen.
Man darf sicher sein, daß den eigentlichen religiösen Gehalt der Lieder schon zu dem Zeitpunkt, als Mannhardt seine Abhandlung verfaßte, niemand mehr verstand. Was blieb, war das, was man früher „Brauchtum“ nannte und eine bestimmte Atmosphäre, die das Singen der Lieder auslöste und fallweise bis heute auslöst. Das erklärt sicher viel von der Popularität des Ligo-Festes, das den sowjetischen Besatzern Lettlands nach dem Zweiten Weltkrieg als „nationalistische“ Demonstration verdächtig war.
Gefeiert wurde trotzdem. Aber ganz unrecht hatte Moskau mit der Sorge nicht, daß die Letten, an Mittsommer auch sich selbst feiern, als Volk, das sich mit der Natur, aber auch mit der Geschichte und der eigenen Kultur und Sprache auf das engste verbunden weiß. Karlheinz Weißmann
*Etwas Ähnliches geschah im alten Rom mit den Saliern. Das Carmen Saliare war ein altes Lied, das in historischer Zeit nicht mehr verstanden wurde, aber weiterhin jedes Jahr gesungen wurde.
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