Stationen

Mittwoch, 24. Juni 2020

Überlegungen eines Schweißers

Die alte, gelassen-freundlich-souveräne Bundesrepublik Deutschland verblasst in den letzten Jahren für mich immer mehr zu einer wehmütigen Erinnerung. Genau wie zuvor schon die nicht so gelassene DDR, an die es bei mir auch eine verblassende Erinnerung gibt, wenn auch keine wehmütige.
Damals, in den Neunzigern lernten viele Ostdeutsche die Vorzüge von Pluralismus, Meinungsfreiheit, Demokratie kennen und durften tatsächlich die Früchte ihrer eigenen Arbeit genießen und ihr Leben weitgehend selbst dürfen. Merkwürdigerweise funktionierte das ganz gut.
Meine Erinnerung an die DDR ist, siehe oben, ganz bestimmt keine wehmütige. Sie müffelt nach Braunkohle-Rauch und Industrie-Abgasen, zu ihr gehören vor allem Absurditäten wie die öffentlichen Propagandaplakate („Frieden schaffen ohne Waffen“, „Heraus, heraus zum 1. Mai“, „Wo ein Genosse ist, da ist die Partei“, „Die Partei hat immer Recht“) oder an die Ärgernisse wie diese humorlosen, wichtigtuerischen Herren des Landes, die sich „die Genossinnen und Genossen der SED“ nannten und dir permanent vorschreiben wollten, was du zu tun, zu sagen und zu denken hattest.
Ach, die Neunziger und Nuller Jahre in der Bundesrepublik … bei diesen Erinnerungen muss ich tatsächlich oft seufzen und empfinde Dankbarkeit, dass ich diese schöne Zeit bewusst erleben durfte.

Ich musste mir zwar als Schweißer im europaweiten Montageeinsatz den Arsch abarbeiten, war nur selten zuhause bei Familie und Freunden, aber ich fühlte mich tatsächlich als freier Bürger in einer Demokratie. Citizen Votes Matter, das skandierte man zwar nicht, anders als andere Losungen der heutigen Erregungskultur. Aber es stimmte weitgehend: citizen votes did matter.
Aber ich lebe nun einmal im Hier und Jetzt, ob es mir gefällt oder nicht. Die alte, adjektivlose Demokratie, wo Politiker Argumente und Alternativen dem Bürger zur Abstimmung stellten und die Mehrheit der Wähler über den einzuschlagenden Weg entschied, ist zur „liberalen Demokratie“ geworden. Und „liberale Demokratie“ bedeutet für mich mittlerweile: Egal, wie die öffentliche Meinung (bitte nicht mit der veröffentlichten Meinung verwechseln) oder die Mehrheitsverhältnisse sind: gemacht wird in jedem Fall, was die linksliberalen Eliten und ihre medialen Sprachrohre für richtig halten“/ „man hat gelernt, die Demokratie weniger anfällig für populistische Stimmungen zu machen. (bitte je nach eigenem politischen Gusto das eine oder das andere streichen.
Was zeichnet den Unterschied zwischen Demokratie und „liberaler Demokratie“ aus? Die Freiheit der Rede gilt in der „liberalen Demokratie“ nach wie vor. Wenn man allerdings Meinungen vertritt, welche in der Zivilgesellschaft Empörung auslösen, kann die Freiheit nach der Rede leider nicht mehr garantiert werden. Oder zumindest nicht die Unversehrtheit der Hauswand, des Autos und des eigenen Kopfes.

Es gibt nach wie vor freie und geheime Wahlen. Falls dort allerdings jemand gewinnt, den die „liberalen Demokraten“ als Sieger einer freien und geheimen Wahl nicht akzeptieren wollen (zum Beispiel die Wahl des liberalen Demokraten – diesmal ohne Anführungszeichen – Thomas Kemmerich oder die Wahl des konservativen Schriftstellers Jörg Bernig zum Kulturamtsleiter von Radebeul), dann ist das „unverzeihlich“ (Angela Merkel zur Causa Kemmerich) und muss rückgängig gemacht werden wie eine Ankündigung von Horst Seehofer.
Ansonsten wird im Deutschland neuen Typs bei Wahlen eigentlich nur noch ausgeknobelt, welche Parteien den alternativlosen Pfad von den Oppositionsbänken aus beklatschen und dabei mehr Eifer und Entschlossenheit der Regierung einfordern müssen, und welche Parteien als Juniorpartner von Frau Merkel beziehungsweise dem Merkelerbebewahrer mit in die Regierung dürfen. Prinzipiell dürfen alle Parteien, außer „Diejenigen, die“ (Frank-Walter Steinmeier), und die Genossen von der SED, die sich heute die Linkspartei nennt.
… Moment …
Ich bekomme gerade die Information hereingereicht, dass diese Aussage bezüglich der SED veraltet ist. Puh, da muss man als liberaler Demokrat von heute echt genauso auf Zack sein wie in George Orwells Roman „1984“ die Bürger von Landefeld eins. Eben hast du noch laut den Verbündeten deiner Regierung, Ozeanien, gefeiert und den Feind deiner Regierung, Ostasien, verflucht, und über Nacht hat sich die Konstellation gedreht: Die umbenannte SED ist jetzt eine wichtige, unverzichtbare Stütze der Zivilgesellschaft, neuerdings auch der Verfassungsgerichtsbarkeit.




Natürlich kann man das heutige Deutschland nicht direkt mit der DDR vergleichen. Ich meine, abgesehen davon, dass es wieder eine Kaste gibt – diesmal in grün – die sich dazu berufen fühlt, ihren Mitbürgern zu erklären, was sie zu tun, zu sagen und zu denken haben, und Abweichungen von der propagierten Verzichtsideologie maximal dann tolerieren, wenn es sie selbst betrifft. Und abgesehen davon, dass nicht nur erneut der öffentliche Raum („Europa! Solidarität! Menschenrechte statt rechter Menschen!“), sondern zunehmend auch die letzten propagandafreien Nischen wie der Sport genau wie damals im Sozialismus mit Parolen zuplakatiert werden („unser Ball ist bunt“) und dass das tonangebende Milieu sowohl Politik als auch Kunst, Kultur, Bildung, Verwaltung und Justiz als ihre exklusiven Erbhöfe betrachten und wirklich jeden wegbeißt, der es wagt, sich explizit nicht-progressiv zu äußern, abgesehen davon also leben wir immer noch in einem wohlhabenden, leidlich sauberen Land, nicht in der verarmten, mausgrauen DDR („The Republic of bad taste“, wie es der Schriftsteller Jonathan Franzen in seinem Roman „Purity“ nannte).

Wenn ich die letzte Zeit Revue passieren lasse, fühle ich mich am ehesten an meinen Dreimonatstrip 2006 durch Indien erinnert. Alles hier ist mittlerweile bunt, laut, schrill, überdreht, nur auf etwas andere Weise als damals in Indien. Dort gehörte es dazu, dass ich sofort monetär bedrängt wurde und etwas kaufen sollte, sobald ich einen Fuß vor die Hoteltür setzte. Wenn ich im Gegenwartsdeutschland den Fernseher anschalte, fühle ich mich auf dieselbe unentrinnbare Weise belagert und belästigt, bestimmte politische Parolen und Frames zu übernehmen. Natürlich ist das nur ein vorurteilsgesättigtes Gefühl eines mediennutzenden Arbeiters.
Aber wenn es für unser Überleben als Menschheit und die Bewahrung des Friedens in Europa (eine oder fünf Nummern kleiner scheint in den öffentlichen Politikeräußerungen seit ein paar Jahren ausverkauft zu sein) unverzichtbar ist, dass ich in Zukunft statt in dreißig Minuten mit dem eigenen Diesel (der mich seit 14 Jahren und 350000 Kilometer begleitet – das nenne ich Nachhaltigkeit) geschlagene zwei Stunden mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu meiner Arbeit nach Leuna fahre und das geliebte Grillsteak gegen Biodinkelfladen mit fair gehandelter Guacamole zu unschlagbaren 9,99 € tausche, dann ist das halt so. Da von unseren Progressiven ein Umbau der alten, christlich geprägten, demokratischen Nationalstaaten Europas hin zu einem europäischen Superstaat mit betreutem Denken, unbegrenzter Einwanderung und Multipartyszene als neuer Staatsreligion beschlossen wurde, wird das eben auch geschehen. In der DDR gab es den schönen Volksmundkommentar zur Sinnhaftigkeit politischer Pläne: „Die Genossen werden sich schon was dabei gedacht haben.
Jetzt mal ernsthaft, wer sollte das verhindern? Etwa diejenigen, die schon panisch zusammenzucken, wenn man Ihnen entgegenhält, dass ihre Kritik an den herrschenden Zuständen „wie AfD-Parolen klingt“ (was im Grunde nichts anderes bedeutet, als dass gerade ein vorgeformter Gedanke geäußert wurde, und der Sprecher kein Mitglied der AfD ist)?
Oder vielleicht die letzten geduldeten Pseudokonservativen à la Fleischhauer im Journalismus, die eher wie Hofnarren wirken und vorsichtshalber immer erst einmal rituell einen der konservativen Frontaloppositionellen in die Pfanne hauen, um sich selbst das Recht zu erkaufen, im Grunde ungefähr das gleiche in gewählterer Sprache sagen zu dürfen? Ich bitte Sie, da lachen doch die Hühner. Diesen letzten schwachen, sterbenden Protest derjenigen, die sich einfach ihre alte Bundesrepublik Deutschland zurückwünschen, kann man ja noch nicht einmal als (+++Vorsicht! Triggerwarnung: Nazisprech+++) letztes Aufgebot bezeichnen.

Wie gesagt, als weichdiktaturerfahrener ehemaliger DDR-Bürger kann ich mich mit fast allem arrangieren. Es war tatsächlich eine verhältnismäßig weiche Diktatur, zumindest in den letzten Jahren. Die Staatssicherheit zersetzte Ewiggestrige lieber, als sie einzusperren. Die Führung sah es mit Wohlgefallen, dass zehntausende Nörgler ausreisten und damit nicht mehr störten. Es ist doch schon jetzt für die meisten Normalos so ähnlich wie damals, wenn auch auf weit höherem materiellen Niveau. Man zieht sich in seine Nische zurück und gibt seine ehrliche Meinung nur noch im kleinsten Zirkel preis, um sich keine Nachteile einzufangen. Als Schweißer habe ich sogar den kaum zu überschätzenden Vorteil, dass ich auch in anderen Ländern mein Geld verdienen könnte, netto wahrscheinlich mehr. Für die eben entlassenen Redaktionsmitglieder von Bento gilt das nicht in gleichem Maße.

Die alte Bundesrepublik der Neunziger verschwindet, in der die ’Partyszene’ die Love Parade war und nicht das Bundesscherbennächtle von Stuttgart. Dafür wird meine DDR-Erinnerung ein kleines bisschen gepflegt. Während reaktionäre Denkmäler des Westens fallen oder beschmiert werden, gab es kürzlich auch eine Denkmalsaufstellung: ein Leninmonument in Gelsenkirchen. Vielleicht sollte demnächst ein Film über die Transformationszeit gedreht werden, die wir gerade erleben? „Good Boy Lenin“ wäre ein schöner Titel. In meinem heimischen Leipzig soll bisher kein Ulbricht aus Bronze aufgestellt werden. Die örtlichen Grünen fordern nur, den Richard-Wagner-Platz in „Refugees-Welcome-Platz“ umzutaufen. Anders als Wagner ist ein Refugee nämlich per Definition weder Antisemit noch Sexist.
Natürlich mache ich mir in meinem Eigenheim, dass mich an der Ausreise hindert, Gedanken, wie man diesen ganzen Wahnsinn doch noch stoppen könnte. Dazu habe ich zwei bescheidene Vorschläge:
Erstens müsste man das mobile Telefonnetz, das Internet und die alternativen Medien abschalten, damit die Menschen in Afrika und im Orient tatsächlich nur noch unsere Mainstreammedien zu Gesicht kriegen und – genau wie wir – pausenlos um die Ohren geknallt bekommen, was für rassistische, engstirnige, gefährliche Dreckslöcher mit rassistischer Müllpolizei die Länder des Westens sind.
Zweitens, wenn man tatsächlich eine Migranten-Zwangsquote in den Stadtteilen der Metropolen einführen würde, wo die Weißen fast noch allein unter sich sind. Also in den Bionadevierteln der mehrheitlich Grünrot-Wählenden. Erst wenn dort, wo diejenigen Leute wohnen, die diese Entwicklungen befeuern, genau wie Marxloh oder Grünau oder in Gesundbrunnen an jedem zweiten, dritten Namensschild ein afrikanischer oder arabischer Name zu lesen wäre, dann würde sich vielleicht etwas hin zu mehr Realismus verändern. Die Bedingungen des täglichen Zusammenlebens würden dann endlich auch dort täglich neu ausgehandelt, wo heute Ann-Kathrin auf dem 2000-Elektrolastenfahrrad zum Wochenmarkt aufbricht. Vielleicht, wenn die Partyszene demnächst in deutschen Städten auch in den Gründerzeitviertel „aus keinem Anlass“ (Winfried Kretschmann) feiert – bei den Ann-Kathrins gibt es übrigens mehr zu holen – vielleicht nimmt die Geschichte dann doch einen anderen Lauf.

Übrigens, die multikulturellsten Plätze in Deutschland überhaupt sind vermutlich die Großbaustellen von uns Arbeitern, weswegen wir es zur allergrößten Not auch verkraften würden, in Zukunft von Belehrungen diplomierter Absolventen von Schwatzquarkfächern oder Bewohnern von reinweiß-biodeutschen Studenten-WGs verschont zu bleiben.
Eine Sache gibt es jedoch, eine einzige, mit der ich mich niemals arrangieren werde. Um diesen Punkt bildhaft deutlich zu machen, muss ich auf die erwähnte Indienreise zurückkommen. Im Wüstenstaat Rajasthan gibt es den berühmten Puschkarsee, in dem ein Teil der Asche Mahatma Gandhis verstreut wurde, nebst seiner pittoresken Tempel, die ich damals als begeisterter Hobbyfotograf unbedingt vor die Linse kriegen wollte. Schon von weitem entdeckte ich die unübersehbare Gruppe junger indischer Männer, die sich bei solchen Sehenswürdigkeiten wie die (+++ Vorsicht! Triggerwarnung: Tiervergleich+++) Geier auf die westlichen Touristen stürzen, um sich Ihnen als Fremdenführer anzudienen.
Widerstand zwecklos. Ich versuchte es trotzdem. Segel gehisst, Augen gerade aus, full speed ahead, dass vielstimmige: „Hello my friend!!’ ignorierend.
 Ich stürme die Treppe herunter, ein junger Mann rennt schnatternd neben mir her. Vor uns taucht wie ein in den Weg gerolltes Hindernis eine große Touristen-Gruppe auf, über etwa zehn Stufen dicht an dicht gedrängt die Treppe blockierend. Nur rechts und links bleibt eine schmale Gasse. Ich täusche rechts vor, während der junge Mann neben mir mit den Augen nach vorne sein Führerprogramm abzieht, lasse mich zurückfallen und versuche, gebückt im Rücken der Gruppe nach links zu schleichen, um durch diese Lücke zum See zu gelangen. Inzwischen ist Mr. Guidance Obligatory zehn Meter weiter unten am Ende der Reisegruppe angelangt, dreht sich suchend nach mir um, erkennt meinen bösen Plan und huscht nach links, um mich dort unten abzufangen. Ich mache kehrt, gehe wieder nach rechts und stürme die Treppen runter, aber ach, das gute alte: „Danke-aber-Ich-komme-alleine-zurecht’ scheint nirgendwo auf dieser Welt noch eine Option zu sein.
„Hellomyfriendhowareyou?”
Mein Geier stellt sich als Edelgeier heraus. Bramahne, höchste Kaste, Priester sozusagen. Will mit mir zusammen an diesem heiligen Ort die Blumenzeremonie durchführen.
“Ich will nur schnell ein paar Fotos schießen.”
“Dies ist ein heiliger Ort, fotografieren verboten”
“Dann gehe ich wieder.”
“Wenn du mit mir die Blumen-Zeremonie durchführst, bekommst du ein Bändchen, damit kannst du überall hingehen und fotografieren.”
Ok, verstanden. Wenn das Geld im Beutel klingt, das Bildchen in deinen Speicher springt. Kein Problem, aber:
„Kann ich nicht einfach Eintritt bezahlen?”
Heilige, backenaufpumpende Claudia-Roth-Entrüstung.
“Dies ist eine heilige Stätte, kein Museum. Hier bezahlt man keinen Eintritt. Um Zutritt zu erlangen, muss man an der Blumenzeremonie teilnehmen!”
Seufzend folgte ich ihm zum See-Ufer, wo schon die anderen westlichen Touristen mit ihren „Priestern“ saßen, und ließ den Dingen resigniert ihren Lauf.
“Im Hinduismus gibt es drei Hauptgötter. Brahma, der Erschaffer, Vishnu, der Bewahrer, Shiva, der Zerstörer … übrigens pflegen die Pilger meistens dreihundert Rupien zu spenden, einhundert für Brahma, einhundert für Shiva, einhundert für Vishnu … also wir glauben an Wiedergeburt, und daran, dass es von deinem Karma und von deinen guten und schlechten Taten abhängt … viele westliche Touristen spenden allerdings lieber Dollar oder Euro, aber das bleibt Ihnen überlassen … also es hängt von deinen Taten ab, ob du im nächsten Leben in eine höhere Kaste oder vielleicht bloß in den Körper eines Tieres hineingeboren wirst. Brahma, Sie erinnern sich, der Schöpfer, wir haben nämlich drei Hauptgötter, Brahma, Vishnu, Shiva, und für jeden pflegen die Pilger 100 Rupien zu spenden. Aber das ist keine Vorschrift. Manche geben weniger, manche geben mehr, manche geben sogar viel viel mehr.
Werfen Sie jetzt bitte diese Blumen ins Wasser und sprechen Sie das Mantra nach. Ich bitte dich, Brahma, um Gesundheit für meine Eltern. Ich bitte dich, Brahma, um Gesundheit für … wie viele Geschwister haben Sie?”
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich meine Geschwister verleugnete. Das sind nämlich drei, genau wie Brahma, Vishnu und Shiva. 


Ha, ich bin noch nicht einmal am Ende der Geschichte angelangt und sehe vor meinem geistigen Auge schon wieder überall in den sozialen Netzwerken dieses Heer leicht zu triggernder Schneeflocken ihre aufgeregten Tweets ins Handy hacken.
„Eine Schande, so etwas zu veröffentlichen!“ Future_with_Me99, Hamburg
„Ackners Text kommt vielleicht auf den ersten Blick amüsant daher, kann aber sein ihm zugrunde liegendes rassistisches Weltbild nicht wirklich verheimlichen“ the_democrat, Hannover
„Es ist ein Unding, sich über Menschen lustig zu machen, die ihren Lebensunterhalt mit einem Dollar am Tag bestreiten müssen. Der Autor ist das letzte!“ Fucksaxony, Berlin

Leute, nehmt doch mal den Stock aus dem Hintern. Kriegt ihr eigentlich noch mit, warum Menschen wie ich – die bis vor wenigen Jahren sehr wohl und aus eigenem Antrieb auf ihre Sprache achteten – inzwischen so hingebungsvoll provozieren? Weil ihr den Political-Correctness-Bogen so gnadenlos überspannt! Weil ihr uns das Gefühl gebt, dass es mit euch emsigen, antifaschistischen Bibern keinen Interessenausgleich geben kann, der nun einmal die Grundvoraussetzung des friedlichen Zusammenlebens ist. Ihr seid so von eurer eingebildeten Gutheit ergriffen, dass ihr euch überhaupt nicht mehr vorstellen könnt, das die Möglichkeit eines eigenen Irrtums immer und bei jedem Menschen eine reale Möglichkeit ist. Dass sich – genauso, wie sich auf unserer Seite des ‘Risses in der Gesellschaft’, von der immer gesprochen wird, viele in Trotz und Wut verbarrikadiert haben, sich auf eurer Seite des Risses viele in einen regelrechten Planetenrettungs-, Fernstenliebe- und Minderheitenkult geflüchtet sind. In substanzlose moralische Hoffart.

Bevor ich meine angefangene Geschichte aus Puschkar zu Ende erzähle, nehmen wir als Beispiel nur mal die Black Matters Proteste von letzter Woche. Ich will jetzt überhaupt nicht groß auf die Punkte eingehen, was davon zu halten ist, dass hier – mitten in einer kreuzgefährlichen Pandemie (wie uns ja immer wieder versichert wurde) deren Bekämpfung Millionen Menschen in Deutschland an den Rand der Existenz und darüber hinaus brachte – in den Großstädten zehn- wenn nicht hunderttausende von euch dicht an dicht gedrängelt stehen, und ob man vermeintlichen institutionellen Rassismus in Deutschland nun ausgerechnet am Fall Floyd George abhandeln muss.
Ich möchte einfach Folgendes wissen: Wenn es tatsächlich darum geht, „die Gräben in der Gesellschaft zuzuschütten“, warum kann sich dann an einem solchen Tag in meiner Stadt Leipzig, als Zeichen des guten Willens und der Versöhnungsbereitschaft, nicht einmal zur Abwechslung so eine junge schwarze Vorzeigeaktivistin wie Karimé Diallo vor den LVZ-Reporter stellen, um ihm in die Blöcke zu diktieren, wie schön sie das findet und wie sehr es sie berührt, dass sich so viele weiße Menschen zusammen mit ihr gegen Rassismus engagieren möchten? Warum muss ich in der Zeitung in diesem Kommandoton von ihr lesen, dass Leipzig die weißeste Stadt Deutschlands ist und das sich unsere Stadt ändern MUSS?! Ich meine, abgesehen davon, dass sich viele Leipziger schon kaum noch durch die offizielle „Waffenverbotszone Eisenbahnstraße“ trauen und ich mich manchmal wie in Little Damascus fühle, wenn ich im Neubauviertel Leipzig-Grünau an den Straßenbahnhaltestellen vorbeikomme. Besiedlungsprogramme? Erste Ideen dafür gibt es ja schon.

So, und jetzt bring ich endlich meine Geschichte zu Ende, bei der ihr mich unterbrochen habt …
Also, ich sitze da am Lake Pushkar auf der untersten Stufe der Ghats. Schneidersitz wie alle anderen. Natürlich. Alles andere wäre nicht spirituell genug. Mit gequältem Lächeln, weil ich diese „Blumenzeremonie“ als eine unglaubliche Charade, als eine einzige Touristenveralberung empfinde. Kein Vorwurf an die „Priester“, das war nicht mein Punkt. Der kommt jetzt. Als ich gelangweilt meine Blicke in die Runde der übrigen westlichen Touristen schweifen ließ, die vor ihren jeweiligen „Priestern“ saßen und deren aufgesetzt-feierlichen Stimmen lauschten, quollen mir fast die Augen raus. Die anderen Westler zogen alle solche unglaublich beglückten Gesichter, als ob sie gerade tatsächlich Zeugen eines zutiefst heiligen, berührenden, spirituellen Erlebnisses würden.
An genau diese entrückten Gesichter muss ich immer denken, wenn ich im hier und jetzt unsere jungen westlichen Aktivisten beobachte. Und an genau diese falschen Priester mit ihrer Abzocker-Masche muss ich immer denken, wenn unsere Politiker ihre steinmeieresken Sonntagspredigten halten.
Das klingt für mich alles wie: „Unser Planet steht vor der Zerstörung, und dieses Werk ist Mensch gemacht … übrigens bitten uns die viele Bürger, deswegen die Verbrauchersteuern zu erhöhen, um dem entgegensteuern zu können … Der hier grassierende Rassismus, all dieser rechtsextreme Hass, sind eine Schande für unser Land … übrigens, wenn du jetzt sagst, dass wir nicht die ganze Welt aufnehmen können – findest du nicht, dass du mit solchen Äußerungen letztendlich Dinge wie den NSU-Terror befeuerst … Am Ende bleibt zu hoffen, dass die europäische Union Solidarität zeigt, dem Populismus eine Abfuhr erteilt und zu einer Nation zusammenwächst … wie, du willst das nicht? Möchtest du etwa ein zweites Mal einhundert Millionen tote Kriegsopfer verantworten. 
Und genau hier ziehe ich für mich die rote Linie. Ich bin mir bewusst, das ich der in Zukunft noch verschärft angezogenen Propagandaschraube und dem komplettem Umbau Deutschlands und Europas nicht entgehen werde. Was soll’s. Wir hatten unsere Zeit in einer hoch industrialisierten, wohlhabenden, respektierten, demokratischen Heimat. Ihr habt Recht. Lasst uns kaputt machen, was ganz gut funktioniert hatte, und einfach mal was Neues probieren. Shiva der Zerstörer soll auch seine Zeit haben.
Eigentlich erwarte ich nur noch eines. Dass man es zumindest toleriert, wenn ich bei den zukünftigen „Blumenzeremonien“ unserer Priester genau wie früher in der DDR maulig neben dem Fahnenmast stehe, auf dem vermutlich wahlweise die Europa- oder die Regenbogenflagge gehisst wird, und demonstrativ gelangweilt mein: „Ja, das geloben wir“ runterleiere.
Und wenn in Zukunft in Leipzig mal wieder die Politik in trauter Eintracht mit Medien und Kultur dazu aufruft, „Courage zu zeigen“ und zu einer Demonstration gegen Faschismus/ Rassismus/ Imperialismus/ Xenophobie/ Transphobie/ Homophobie/ whatever zu erscheinen und – wie in der Vergangenheit bei Anti-Pegida-Aufrufen schon geschehen – auch mein Arbeitgeber offiziell kundtut, dass eine Teilnahme der Belegschaft „gern gesehen“ ist, werde auch ich wieder genau wie früher in der DDR am Morgen des 1. Mai am vorgeschriebenen Sammelplatz erscheinen, um mir von meinem Gruppenleiter meine Anwesenheit beim Demonstrationszug schriftlich bestätigen zu lassen. Kein Problem. Aber ich erwarte, dass es wie damals ok ist, wenn ich mich sofort nach der Registration wieder auf Zehenspitzen davonschleiche.

Nur leider beschleicht mich immer öfter der leise Verdacht, dass mich unsere Priester erst dann in Ruhe lassen werden, wenn auch ich bei der Blumenzeremonie dieses entrückte, glückselige Gesicht zeige. Doch genau da gibt es ein Problem, denn ich kann euch schon heute versichern – niemals! niemals! werde ich so tief sinken, den Kakao, durch den ihr mich zieht, mit einem Schafslächeln zu trinken.  Wolfram Ackner




Wolfram Ackner, 50, nahm 1989 an den Leipziger Montagsdemonstrationen teil, lebte einige Zeit als Punk und baute sich später eine Radikalexistenz als Schweißer, Familienvater und Hausbesitzer in Leipzig auf. Ackner schreibt auch für www.achgut.com.

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