Die alte, gelassen-freundlich-souveräne
Bundesrepublik Deutschland verblasst in den letzten Jahren für mich
immer mehr zu einer wehmütigen Erinnerung. Genau wie zuvor schon die
nicht so gelassene DDR, an die es bei mir auch eine verblassende
Erinnerung gibt, wenn auch keine wehmütige.
Damals,
in den Neunzigern lernten viele Ostdeutsche die Vorzüge von
Pluralismus, Meinungsfreiheit, Demokratie kennen und durften tatsächlich
die Früchte ihrer eigenen Arbeit genießen und ihr Leben weitgehend
selbst dürfen. Merkwürdigerweise funktionierte das ganz gut.
Meine
Erinnerung an die DDR ist, siehe oben, ganz bestimmt keine wehmütige.
Sie müffelt nach Braunkohle-Rauch und Industrie-Abgasen, zu ihr gehören
vor allem Absurditäten wie die öffentlichen Propagandaplakate („Frieden
schaffen ohne Waffen“, „Heraus, heraus zum 1. Mai“, „Wo ein Genosse ist,
da ist die Partei“, „Die Partei hat immer Recht“) oder an die
Ärgernisse wie diese humorlosen, wichtigtuerischen Herren des Landes,
die sich „die Genossinnen und Genossen der SED“ nannten und dir permanent vorschreiben wollten, was du zu tun, zu sagen und zu denken hattest.
Ach,
die Neunziger und Nuller Jahre in der Bundesrepublik … bei diesen
Erinnerungen muss ich tatsächlich oft seufzen und empfinde Dankbarkeit,
dass ich diese schöne Zeit bewusst erleben durfte.
Ich musste mir zwar
als Schweißer im europaweiten Montageeinsatz den Arsch abarbeiten, war
nur selten zuhause bei Familie und Freunden, aber ich fühlte mich
tatsächlich als freier Bürger in einer Demokratie. Citizen Votes Matter,
das skandierte man zwar nicht, anders als andere Losungen der heutigen
Erregungskultur. Aber es stimmte weitgehend: citizen votes did matter.
Aber
ich lebe nun einmal im Hier und Jetzt, ob es mir gefällt oder nicht.
Die alte, adjektivlose Demokratie, wo Politiker Argumente und
Alternativen dem Bürger zur Abstimmung stellten und die Mehrheit der
Wähler über den einzuschlagenden Weg entschied, ist zur „liberalen
Demokratie“ geworden. Und „liberale Demokratie“ bedeutet für mich
mittlerweile: Egal, wie die öffentliche Meinung (bitte nicht mit der veröffentlichten Meinung verwechseln) oder die Mehrheitsverhältnisse sind:
„gemacht wird in jedem Fall, was die linksliberalen Eliten und ihre
medialen Sprachrohre für richtig halten“/ „man hat gelernt, die
Demokratie weniger anfällig für populistische Stimmungen zu machen“. (bitte je nach eigenem politischen Gusto das eine oder das andere streichen.
Was
zeichnet den Unterschied zwischen Demokratie und „liberaler Demokratie“
aus? Die Freiheit der Rede gilt in der „liberalen Demokratie“ nach wie
vor. Wenn man allerdings Meinungen vertritt, welche in der Zivilgesellschaft Empörung auslösen, kann die
Freiheit nach der Rede leider nicht mehr garantiert werden. Oder
zumindest nicht die Unversehrtheit der Hauswand, des Autos und des
eigenen Kopfes.
Es gibt nach wie vor freie und geheime Wahlen.
Falls dort allerdings jemand gewinnt, den die „liberalen Demokraten“ als
Sieger einer freien und geheimen Wahl nicht akzeptieren wollen (zum
Beispiel die Wahl des liberalen Demokraten – diesmal ohne
Anführungszeichen – Thomas Kemmerich oder die Wahl des konservativen Schriftstellers Jörg Bernig zum Kulturamtsleiter von Radebeul), dann ist das „unverzeihlich“ (Angela Merkel zur Causa Kemmerich) und muss rückgängig gemacht werden wie eine Ankündigung von Horst Seehofer.
Ansonsten wird im Deutschland neuen Typs bei Wahlen eigentlich nur noch ausgeknobelt, welche Parteien den alternativlosen Pfad
von den Oppositionsbänken aus beklatschen und dabei mehr Eifer und
Entschlossenheit der Regierung einfordern müssen, und welche Parteien
als Juniorpartner von Frau Merkel beziehungsweise dem Merkelerbebewahrer
mit in die Regierung dürfen. Prinzipiell dürfen alle Parteien, außer „Diejenigen, die“ (Frank-Walter Steinmeier), und die Genossen von der SED, die sich heute die Linkspartei nennt.
… Moment …
Ich bekomme gerade die Information hereingereicht, dass diese Aussage bezüglich der SED veraltet ist. Puh, da muss man als liberaler Demokrat
von heute echt genauso auf Zack sein wie in George Orwells Roman „1984“
die Bürger von Landefeld eins. Eben hast du noch laut den Verbündeten
deiner Regierung, Ozeanien, gefeiert und den Feind deiner Regierung,
Ostasien, verflucht, und über Nacht hat sich die Konstellation gedreht:
Die umbenannte SED ist jetzt eine wichtige, unverzichtbare Stütze der
Zivilgesellschaft, neuerdings auch der Verfassungsgerichtsbarkeit.
Natürlich
kann man das heutige Deutschland nicht direkt mit der DDR vergleichen.
Ich meine, abgesehen davon, dass es wieder eine Kaste gibt – diesmal in
grün – die sich dazu berufen fühlt, ihren Mitbürgern zu erklären, was
sie zu tun, zu sagen und zu denken haben, und Abweichungen von der
propagierten Verzichtsideologie maximal dann tolerieren, wenn es sie
selbst betrifft. Und abgesehen davon, dass nicht nur erneut der
öffentliche Raum („Europa! Solidarität! Menschenrechte statt rechter
Menschen!“), sondern zunehmend auch die letzten propagandafreien Nischen
wie der Sport genau wie damals im Sozialismus mit Parolen zuplakatiert
werden („unser Ball ist bunt“) und dass das tonangebende Milieu sowohl
Politik als auch Kunst, Kultur, Bildung, Verwaltung und Justiz als ihre
exklusiven Erbhöfe betrachten und wirklich jeden wegbeißt, der es wagt,
sich explizit nicht-progressiv zu äußern, abgesehen davon also leben wir
immer noch in einem wohlhabenden, leidlich sauberen Land, nicht in der
verarmten, mausgrauen DDR („The Republic of bad taste“, wie es der Schriftsteller Jonathan Franzen in seinem Roman „Purity“ nannte).
Wenn
ich die letzte Zeit Revue passieren lasse, fühle ich mich am ehesten an
meinen Dreimonatstrip 2006 durch Indien erinnert. Alles hier ist
mittlerweile bunt, laut, schrill, überdreht, nur auf etwas andere Weise
als damals in Indien. Dort gehörte es dazu, dass ich sofort monetär
bedrängt wurde und etwas kaufen sollte, sobald ich einen Fuß vor die
Hoteltür setzte. Wenn ich im Gegenwartsdeutschland den Fernseher
anschalte, fühle ich mich auf dieselbe unentrinnbare Weise belagert und
belästigt, bestimmte politische Parolen und Frames zu übernehmen.
Natürlich ist das nur ein vorurteilsgesättigtes Gefühl eines
mediennutzenden Arbeiters.
Aber wenn es für unser Überleben als
Menschheit und die Bewahrung des Friedens in Europa (eine oder fünf
Nummern kleiner scheint in den öffentlichen Politikeräußerungen seit ein
paar Jahren ausverkauft zu sein) unverzichtbar ist, dass ich in Zukunft
statt in dreißig Minuten mit dem eigenen Diesel (der mich seit 14
Jahren und 350000 Kilometer begleitet – das nenne ich
Nachhaltigkeit) geschlagene zwei Stunden mit den öffentlichen
Verkehrsmitteln zu meiner Arbeit nach Leuna fahre und das geliebte
Grillsteak gegen Biodinkelfladen mit fair gehandelter Guacamole zu
unschlagbaren 9,99 € tausche, dann ist das halt so. Da von unseren
Progressiven ein Umbau der alten, christlich geprägten, demokratischen
Nationalstaaten Europas hin zu einem europäischen Superstaat mit
betreutem Denken, unbegrenzter Einwanderung und Multipartyszene als
neuer Staatsreligion beschlossen wurde, wird das eben auch geschehen. In
der DDR gab es den schönen Volksmundkommentar zur Sinnhaftigkeit
politischer Pläne: „Die Genossen werden sich schon was dabei gedacht
haben.“
Jetzt mal ernsthaft, wer sollte das verhindern? Etwa
diejenigen, die schon panisch zusammenzucken, wenn man Ihnen
entgegenhält, dass ihre Kritik an den herrschenden Zuständen „wie
AfD-Parolen klingt“ (was im Grunde nichts anderes bedeutet, als dass
gerade ein vorgeformter Gedanke geäußert wurde, und der Sprecher kein
Mitglied der AfD ist)?
Oder vielleicht die letzten geduldeten
Pseudokonservativen à la Fleischhauer im Journalismus, die eher wie
Hofnarren wirken und vorsichtshalber immer erst einmal rituell einen der konservativen Frontaloppositionellen in die Pfanne hauen, um sich
selbst das Recht zu erkaufen, im Grunde ungefähr das gleiche in
gewählterer Sprache sagen zu dürfen? Ich bitte Sie, da lachen doch die
Hühner. Diesen letzten schwachen, sterbenden Protest derjenigen, die
sich einfach ihre alte Bundesrepublik Deutschland zurückwünschen, kann
man ja noch nicht einmal als (+++Vorsicht! Triggerwarnung:
Nazisprech+++) letztes Aufgebot bezeichnen.
Wie gesagt, als
weichdiktaturerfahrener ehemaliger DDR-Bürger kann ich mich mit fast
allem arrangieren. Es war tatsächlich eine verhältnismäßig weiche
Diktatur, zumindest in den letzten Jahren. Die Staatssicherheit
zersetzte Ewiggestrige lieber, als sie einzusperren. Die Führung sah es
mit Wohlgefallen, dass zehntausende Nörgler ausreisten und damit nicht
mehr störten. Es ist doch schon jetzt für die meisten Normalos so
ähnlich wie damals, wenn auch auf weit höherem materiellen Niveau. Man
zieht sich in seine Nische zurück und gibt seine ehrliche Meinung nur
noch im kleinsten Zirkel preis, um sich keine Nachteile einzufangen. Als
Schweißer habe ich sogar den kaum zu überschätzenden Vorteil, dass ich
auch in anderen Ländern mein Geld verdienen könnte, netto wahrscheinlich
mehr. Für die eben entlassenen Redaktionsmitglieder von Bento gilt das
nicht in gleichem Maße.
Die alte Bundesrepublik der Neunziger
verschwindet, in der die ’Partyszene’ die Love Parade war und nicht das
Bundesscherbennächtle von Stuttgart. Dafür wird meine DDR-Erinnerung ein
kleines bisschen gepflegt. Während reaktionäre Denkmäler des Westens
fallen oder beschmiert werden, gab es kürzlich auch eine
Denkmalsaufstellung: ein Leninmonument in Gelsenkirchen. Vielleicht
sollte demnächst ein Film über die Transformationszeit gedreht werden,
die wir gerade erleben? „Good Boy Lenin“ wäre ein schöner Titel. In
meinem heimischen Leipzig soll bisher kein Ulbricht aus Bronze
aufgestellt werden. Die örtlichen Grünen fordern nur, den
Richard-Wagner-Platz in „Refugees-Welcome-Platz“ umzutaufen. Anders als
Wagner ist ein Refugee nämlich per Definition weder Antisemit noch
Sexist.
Natürlich mache ich mir in meinem Eigenheim, dass mich an
der Ausreise hindert, Gedanken, wie man diesen ganzen Wahnsinn doch noch
stoppen könnte. Dazu habe ich zwei bescheidene Vorschläge:
Erstens
müsste man das mobile Telefonnetz, das Internet und die alternativen
Medien abschalten, damit die Menschen in Afrika und im Orient
tatsächlich nur noch unsere Mainstreammedien zu Gesicht kriegen und –
genau wie wir – pausenlos um die Ohren geknallt bekommen, was für
rassistische, engstirnige, gefährliche Dreckslöcher mit rassistischer
Müllpolizei die Länder des Westens sind.
Zweitens, wenn man
tatsächlich eine Migranten-Zwangsquote in den Stadtteilen der Metropolen
einführen würde, wo die Weißen fast noch allein unter sich sind. Also
in den Bionadevierteln der mehrheitlich Grünrot-Wählenden. Erst wenn
dort, wo diejenigen Leute wohnen, die diese Entwicklungen befeuern,
genau wie Marxloh oder Grünau oder in Gesundbrunnen an jedem zweiten,
dritten Namensschild ein afrikanischer oder arabischer Name zu lesen
wäre, dann würde sich vielleicht etwas hin zu mehr Realismus verändern.
Die Bedingungen des täglichen Zusammenlebens würden dann endlich auch
dort täglich neu ausgehandelt, wo heute Ann-Kathrin auf dem
2000-Elektrolastenfahrrad zum Wochenmarkt aufbricht. Vielleicht, wenn
die Partyszene demnächst in deutschen Städten auch in den
Gründerzeitviertel „aus keinem Anlass“ (Winfried Kretschmann)
feiert – bei den Ann-Kathrins gibt es übrigens mehr zu holen –
vielleicht nimmt die Geschichte dann doch einen anderen Lauf.
Übrigens,
die multikulturellsten Plätze in Deutschland überhaupt sind vermutlich
die Großbaustellen von uns Arbeitern, weswegen wir es zur allergrößten
Not auch verkraften würden, in Zukunft von Belehrungen diplomierter
Absolventen von Schwatzquarkfächern oder Bewohnern von
reinweiß-biodeutschen Studenten-WGs verschont zu bleiben.
Eine
Sache gibt es jedoch, eine einzige, mit der ich mich niemals arrangieren
werde. Um diesen Punkt bildhaft deutlich zu machen, muss ich auf die
erwähnte Indienreise zurückkommen. Im Wüstenstaat Rajasthan gibt es den
berühmten Puschkarsee, in dem ein Teil der Asche Mahatma Gandhis
verstreut wurde, nebst seiner pittoresken Tempel, die ich damals als
begeisterter Hobbyfotograf unbedingt vor die Linse kriegen wollte. Schon
von weitem entdeckte ich die unübersehbare Gruppe junger indischer
Männer, die sich bei solchen Sehenswürdigkeiten wie die (+++ Vorsicht!
Triggerwarnung: Tiervergleich+++) Geier auf die westlichen Touristen
stürzen, um sich Ihnen als Fremdenführer anzudienen.
Widerstand
zwecklos. Ich versuchte es trotzdem. Segel gehisst, Augen gerade aus,
full speed ahead, dass vielstimmige: „Hello my friend!!’
ignorierend.
Ich stürme die Treppe herunter, ein junger Mann rennt
schnatternd neben mir her. Vor uns taucht wie ein in den Weg gerolltes
Hindernis eine große Touristen-Gruppe auf, über etwa zehn Stufen dicht
an dicht gedrängt die Treppe blockierend. Nur rechts und links bleibt
eine schmale Gasse. Ich täusche rechts vor, während der junge Mann neben
mir mit den Augen nach vorne sein Führerprogramm abzieht, lasse mich
zurückfallen und versuche, gebückt im Rücken der Gruppe nach links zu
schleichen, um durch diese Lücke zum See zu gelangen. Inzwischen ist Mr.
Guidance Obligatory zehn Meter weiter unten am Ende der Reisegruppe
angelangt, dreht sich suchend nach mir um, erkennt meinen bösen Plan und
huscht nach links, um mich dort unten abzufangen. Ich mache kehrt, gehe
wieder nach rechts und stürme die Treppen runter, aber ach, das gute
alte: „Danke-aber-Ich-komme-alleine-zurecht’ scheint nirgendwo auf
dieser Welt noch eine Option zu sein.
„Hellomyfriendhowareyou?”
Mein
Geier stellt sich als Edelgeier heraus. Bramahne, höchste Kaste,
Priester sozusagen. Will mit mir zusammen an diesem heiligen Ort die
Blumenzeremonie durchführen.
“Ich will nur schnell ein paar Fotos schießen.”
“Dies ist ein heiliger Ort, fotografieren verboten”
“Dann gehe ich wieder.”
“Wenn du mit mir die Blumen-Zeremonie durchführst, bekommst du ein
Bändchen, damit kannst du überall hingehen und fotografieren.”
Ok, verstanden. Wenn das Geld im Beutel klingt, das Bildchen in deinen Speicher springt. Kein Problem, aber:
„Kann ich nicht einfach Eintritt bezahlen?”
Heilige, backenaufpumpende Claudia-Roth-Entrüstung.
“Dies ist eine heilige Stätte, kein Museum. Hier bezahlt man keinen
Eintritt. Um Zutritt zu erlangen, muss man an der Blumenzeremonie
teilnehmen!”
Seufzend folgte ich ihm zum See-Ufer, wo schon die
anderen westlichen Touristen mit ihren „Priestern“ saßen, und ließ den
Dingen resigniert ihren Lauf.
“Im Hinduismus gibt es drei
Hauptgötter. Brahma, der Erschaffer, Vishnu, der Bewahrer, Shiva, der
Zerstörer … übrigens pflegen die Pilger meistens dreihundert Rupien zu
spenden, einhundert für Brahma, einhundert für Shiva, einhundert für
Vishnu … also wir glauben an Wiedergeburt, und daran, dass es von deinem
Karma und von deinen guten und schlechten Taten abhängt … viele
westliche Touristen spenden allerdings lieber Dollar oder Euro, aber das
bleibt Ihnen überlassen … also es hängt von deinen Taten ab, ob du im
nächsten Leben in eine höhere Kaste oder vielleicht bloß in den Körper
eines Tieres hineingeboren wirst. Brahma, Sie erinnern sich, der
Schöpfer, wir haben nämlich drei Hauptgötter, Brahma, Vishnu, Shiva, und
für jeden pflegen die Pilger 100 Rupien zu spenden. Aber das ist keine
Vorschrift. Manche geben weniger, manche geben mehr, manche geben sogar
viel viel mehr.
Werfen Sie jetzt bitte diese Blumen ins Wasser und
sprechen Sie das Mantra nach. Ich bitte dich, Brahma, um Gesundheit für
meine Eltern. Ich bitte dich, Brahma, um Gesundheit für … wie viele
Geschwister haben Sie?”
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass
ich meine Geschwister verleugnete. Das sind nämlich drei, genau wie
Brahma, Vishnu und Shiva.
Ha, ich bin noch nicht einmal am Ende der
Geschichte angelangt und sehe vor meinem geistigen Auge schon wieder
überall in den sozialen Netzwerken dieses Heer leicht zu triggernder
Schneeflocken ihre aufgeregten Tweets ins Handy hacken.
„Eine Schande, so etwas zu veröffentlichen!“ Future_with_Me99, Hamburg
„Ackners
Text kommt vielleicht auf den ersten Blick amüsant daher, kann aber
sein ihm zugrunde liegendes rassistisches Weltbild nicht wirklich
verheimlichen“ the_democrat, Hannover
„Es ist ein
Unding, sich über Menschen lustig zu machen, die ihren Lebensunterhalt
mit einem Dollar am Tag bestreiten müssen. Der Autor ist das letzte!“ Fucksaxony, Berlin
Leute,
nehmt doch mal den Stock aus dem Hintern. Kriegt ihr eigentlich noch
mit, warum Menschen wie ich – die bis vor wenigen Jahren sehr wohl und
aus eigenem Antrieb auf ihre Sprache achteten – inzwischen so
hingebungsvoll provozieren? Weil ihr den Political-Correctness-Bogen so
gnadenlos überspannt! Weil ihr uns das Gefühl gebt, dass es mit euch
emsigen, antifaschistischen Bibern keinen Interessenausgleich geben
kann, der nun einmal die Grundvoraussetzung des friedlichen
Zusammenlebens ist. Ihr seid so von eurer eingebildeten Gutheit
ergriffen, dass ihr euch überhaupt nicht mehr vorstellen könnt, das die
Möglichkeit eines eigenen Irrtums immer und bei jedem Menschen eine
reale Möglichkeit ist. Dass sich – genauso, wie sich auf unserer Seite
des ‘Risses in der Gesellschaft’, von der immer gesprochen wird, viele
in Trotz und Wut verbarrikadiert haben, sich auf eurer Seite des Risses
viele in einen regelrechten Planetenrettungs-, Fernstenliebe- und
Minderheitenkult geflüchtet sind. In substanzlose moralische Hoffart.
Bevor ich meine angefangene Geschichte aus Puschkar zu Ende erzähle,
nehmen wir als Beispiel nur mal die Black Matters Proteste von letzter
Woche. Ich will jetzt überhaupt nicht groß auf die Punkte eingehen, was
davon zu halten ist, dass hier – mitten in einer kreuzgefährlichen
Pandemie (wie uns ja immer wieder versichert wurde) deren Bekämpfung
Millionen Menschen in Deutschland an den Rand der Existenz und darüber
hinaus brachte – in den Großstädten zehn- wenn nicht hunderttausende von
euch dicht an dicht gedrängelt stehen, und ob man vermeintlichen
institutionellen Rassismus in Deutschland nun ausgerechnet am Fall Floyd
George abhandeln muss.
Ich möchte einfach Folgendes wissen: Wenn
es tatsächlich darum geht, „die Gräben in der Gesellschaft zuzuschütten“,
warum kann sich dann an einem solchen Tag in meiner Stadt Leipzig, als
Zeichen des guten Willens und der Versöhnungsbereitschaft, nicht einmal
zur Abwechslung so eine junge schwarze Vorzeigeaktivistin wie Karimé
Diallo vor den LVZ-Reporter stellen, um ihm in die Blöcke zu diktieren,
wie schön sie das findet und wie sehr es sie berührt, dass sich so viele
weiße Menschen zusammen mit ihr gegen Rassismus engagieren möchten?
Warum muss ich in der Zeitung in diesem Kommandoton von ihr lesen, dass
Leipzig die weißeste Stadt Deutschlands ist und das sich unsere Stadt
ändern MUSS?! Ich meine, abgesehen davon, dass sich viele Leipziger
schon kaum noch durch die offizielle „Waffenverbotszone Eisenbahnstraße“
trauen und ich mich manchmal wie in Little Damascus fühle, wenn ich im
Neubauviertel Leipzig-Grünau an den Straßenbahnhaltestellen vorbeikomme.
Besiedlungsprogramme? Erste Ideen dafür gibt es ja schon.
So, und jetzt bring ich endlich meine Geschichte zu Ende, bei der ihr mich unterbrochen habt …
Also, ich sitze da am Lake Pushkar auf der untersten Stufe der Ghats.
Schneidersitz wie alle anderen. Natürlich. Alles andere wäre nicht
spirituell genug. Mit gequältem Lächeln, weil ich diese
„Blumenzeremonie“ als eine unglaubliche Charade, als eine einzige
Touristenveralberung empfinde. Kein Vorwurf an die „Priester“, das war
nicht mein Punkt. Der kommt jetzt. Als ich gelangweilt meine Blicke in
die Runde der übrigen westlichen Touristen schweifen ließ, die vor ihren
jeweiligen „Priestern“ saßen und deren aufgesetzt-feierlichen Stimmen
lauschten, quollen mir fast die Augen raus. Die anderen Westler zogen
alle solche unglaublich beglückten Gesichter, als ob sie gerade
tatsächlich Zeugen eines zutiefst heiligen, berührenden, spirituellen
Erlebnisses würden.
An genau diese entrückten Gesichter muss ich
immer denken, wenn ich im hier und jetzt unsere jungen westlichen
Aktivisten beobachte. Und an genau diese falschen Priester mit ihrer
Abzocker-Masche muss ich immer denken, wenn unsere Politiker ihre
steinmeieresken Sonntagspredigten halten.
Das klingt für mich alles wie: „Unser
Planet steht vor der Zerstörung, und dieses Werk ist Mensch gemacht …
übrigens bitten uns die viele Bürger, deswegen die Verbrauchersteuern zu
erhöhen, um dem entgegensteuern zu können … Der hier grassierende
Rassismus, all dieser rechtsextreme Hass, sind eine Schande für unser
Land … übrigens, wenn du jetzt sagst, dass wir nicht die ganze Welt
aufnehmen können – findest du nicht, dass du mit solchen Äußerungen
letztendlich Dinge wie den NSU-Terror befeuerst … Am Ende bleibt zu
hoffen, dass die europäische Union Solidarität zeigt, dem Populismus
eine Abfuhr erteilt und zu einer Nation zusammenwächst … wie, du willst
das nicht? Möchtest du etwa ein zweites Mal einhundert Millionen tote
Kriegsopfer verantworten.
Und genau hier ziehe ich für mich
die rote Linie. Ich bin mir bewusst, das ich der in Zukunft noch
verschärft angezogenen Propagandaschraube und dem komplettem Umbau
Deutschlands und Europas nicht entgehen werde. Was soll’s. Wir hatten
unsere Zeit in einer hoch industrialisierten, wohlhabenden,
respektierten, demokratischen Heimat. Ihr habt Recht. Lasst uns kaputt
machen, was ganz gut funktioniert hatte, und einfach mal was Neues
probieren. Shiva der Zerstörer soll auch seine Zeit haben.
Eigentlich erwarte ich nur noch eines. Dass man es
zumindest toleriert, wenn ich bei den zukünftigen „Blumenzeremonien“
unserer Priester genau wie früher in der DDR maulig neben dem Fahnenmast
stehe, auf dem vermutlich wahlweise die Europa- oder die
Regenbogenflagge gehisst wird, und demonstrativ gelangweilt mein: „Ja,
das geloben wir“ runterleiere.
Und wenn in Zukunft in Leipzig mal
wieder die Politik in trauter Eintracht mit Medien und Kultur dazu
aufruft, „Courage zu zeigen“ und zu einer Demonstration gegen
Faschismus/ Rassismus/ Imperialismus/ Xenophobie/ Transphobie/
Homophobie/ whatever zu erscheinen und – wie in der Vergangenheit bei
Anti-Pegida-Aufrufen schon geschehen – auch mein Arbeitgeber offiziell
kundtut, dass eine Teilnahme der Belegschaft „gern gesehen“ ist, werde
auch ich wieder genau wie früher in der DDR am Morgen des 1. Mai am
vorgeschriebenen Sammelplatz erscheinen, um mir von meinem Gruppenleiter
meine Anwesenheit beim Demonstrationszug schriftlich bestätigen zu
lassen. Kein Problem. Aber ich erwarte, dass es wie damals ok ist, wenn
ich mich sofort nach der Registration wieder auf Zehenspitzen
davonschleiche.
Nur leider beschleicht mich immer öfter der leise
Verdacht, dass mich unsere Priester erst dann in Ruhe lassen werden,
wenn auch ich bei der Blumenzeremonie dieses entrückte, glückselige
Gesicht zeige. Doch genau da gibt es ein Problem, denn ich kann euch
schon heute versichern – niemals! niemals! werde ich so tief sinken, den
Kakao, durch den ihr mich zieht, mit einem Schafslächeln zu trinken. Wolfram Ackner
Wolfram
Ackner, 50, nahm 1989 an den Leipziger Montagsdemonstrationen teil,
lebte einige Zeit als Punk und baute sich später eine Radikalexistenz
als Schweißer, Familienvater und Hausbesitzer in Leipzig auf. Ackner
schreibt auch für www.achgut.com.
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