Man könnte meinen diese Textstelle passe sehr gut zu Covid-19, nicht wahr?
Aber ich finde, dieser Eindruck entsteht, weil er aus seinem Zusammenhang gerissen ist.
Raskolnikow lag die ganze letzte Zeit der Fasten und die
Osterwoche über im Krankenhause. Als er bereits wieder in der
Genesung begriffen war, erinnerte er sich an die Träume, die er
während des Fiebers und der Bewußtlosigkeit gehabt hatte. Es
hatte ihm in der Krankheit geträumt, die ganze Welt sei dazu
verurteilt, einer schrecklichen, noch nie dagewesenen Seuche
zum Opfer zu fallen, die aus dem inneren Asien ihren Weg nach
Europa nehme. Alle Menschen sollten umkommen außer
einigen ganz wenigen Auserwählten. Es war eine Art von neuen
Trichinen erschienen, mikroskopische Wesen, die sich in den
menschlichen Körpern ansiedelten. Aber diese Wesen waren
Geister, mit Verstand und Willen begabt. Wer sie in sich
aufnahm, wurde sofort rasend und wahnsinnig. Aber noch
niemals vorher hatten sich die Menschen für so klug gehalten
und sich mit solcher Bestimmtheit im Besitze der Wahrheit
geglaubt, wie es diese Angesteckten taten. Niemals hatten sie
ihre Urteilssprüche, ihre wissenschaftlichen Resultate, ihre
moralischen Anschauungen und ihren Glauben für fester
begründet gehalten. Ganze Dörfer, ganze Städte und Völker
wurden angesteckt und verfielen dem Wahnsinn. Alle waren in
Aufregung und verstanden einander nicht mehr; jeder glaubte
im Alleinbesitze der Wahrheit zu sein und wollte verzweifeln,
wenn er die anderen ansah, schlug sich entsetzt an die Brust,
weinte und rang die Hände. Man wußte nicht, wen und wie
man richten sollte; man konnte sich nicht darüber einigen, was
als schlecht und was als gut zu betrachten sei. Man wußte
nicht, wen man verurteilen und wen man freisprechen sollte.
Die Menschen töteten einander in einer Art von unsinnigem
Grimme. Sie taten sich zu ganzen Heeren zusammen, um
einander zu bekriegen; aber die Heere fingen schon auf dem
Marsche an, sich selbst zu befehden; die Reihen lösten sich auf;
die Krieger stürzten aufeinander los, stachen und hieben,
bissen und fraßen einander. In den Städten wurde den ganzen
Tag lang die Sturmglocke geläutet; alle Einwohner wurden
zuammengerufen; wer jedoch eigentlich zusammenrief und
warum, das wußte niemand; aber alle waren in großer
Aufregung. Die gewöhnlichen Handwerke wurden nicht mehr
betrieben; denn jeder trug seine Ideen, seine
Reformvorschläge vor, aber es kam zu keiner Einigung; die
Bodenbestellung hörte auf. Hier und da sammelten sich die
Menschen zu einzelnen Haufen; sie einigten sich über dies und
das, schwuren, einander nicht zu verlassen; aber gleich darauf
begannen sie etwas ganz anderes zu tun als das, was sie
soeben selbst angeregt hatten, beschuldigten sich gegenseitig,
prügelten und mordeten sich. Feuersbrünste wüteten; es brach
Hungersnot aus. Alle Menschen, alle Habe ging zugrunde. Die
Seuche wuchs und verbreitete sich immer weiter. Es entgingen
dem Verderben in der ganzen Welt nur sehr wenige Menschen;
dies waren die Reinen und Auserwählten, die dazu bestimmt
waren, ein neues Menschengeschlecht und ein neues Leben zu
begründen und die Erde zu erneuern und zu reinigen; aber
diese Menschen hatte niemand erkannt, niemand hatte ihre
Worte und ihre Stimme beachtet.
Es war für Raskolnikow eine Qual, daß dieser sinnlose Traum
so fest in seinem Gedächtnis haftete und daß der Eindruck
dieser Fieberphantasien so lange nicht schwinden wollte.
Schon war die zweite Woche nach Ostern herangekommen; es
waren warme, heitere Frühlingstage; im Gefangenensaale des
Krankenhauses waren die Fenster geöffnet (sie waren
vergittert und davor ging eine Schildwache auf und ab). Sonja
hatte ihn während seiner ganzen Krankheit nur zweimal im
Krankenhause besuchen können. Es war dazu jedesmal erst die
Einholung einer besonderen Erlaubnis erforderlich, und das
machte Schwierigkeiten.
Nichtsdestoweniger ist es erstaunlich, welch maßlose Verwirrung der Gemüter die Eskalation der Angst vor einer mittelschweren Grippe unter der Bevölkerung und infolgedessen unter Politikern und Experten ausgelöst hat.
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