Stationen

Sonntag, 7. November 2021

Aus Dostojewskis "Schuld und Sühne" (heutiger Titel "Verbrechen und Strafe")

 


Man könnte meinen diese Textstelle passe sehr gut zu Covid-19, nicht wahr?

Aber ich finde, dieser Eindruck entsteht, weil er aus seinem Zusammenhang gerissen ist.

Raskolnikow  lag  die  ganze  letzte  Zeit  der  Fasten  und  die  
Osterwoche über im Krankenhause. Als er bereits wieder in der
Genesung begriffen war, erinnerte er sich an die Träume, die er
während des Fiebers und der Bewußtlosigkeit gehabt hatte. Es
hatte  ihm  in  der  Krankheit  geträumt,  die  ganze  Welt  sei  dazu  
verurteilt,  einer  schrecklichen,  noch  nie  dagewesenen  Seuche  
zum Opfer zu fallen, die aus dem inneren Asien ihren Weg nach
Europa nehme. Alle Menschen sollten umkommen außer
einigen ganz wenigen Auserwählten. Es war eine Art von neuen
Trichinen  erschienen,  mikroskopische  Wesen,  die  sich  in  den  
menschlichen  Körpern  ansiedelten.  Aber  diese  Wesen  waren  
Geister, mit Verstand und Willen begabt. Wer sie in sich
aufnahm, wurde sofort rasend und wahnsinnig. Aber noch
niemals  vorher  hatten  sich  die  Menschen  für  so  klug  gehalten  
und  sich  mit  solcher  Bestimmtheit  im  Besitze  der  Wahrheit  
geglaubt,  wie  es  diese  Angesteckten  taten.  Niemals  hatten  sie  
ihre Urteilssprüche, ihre wissenschaftlichen Resultate, ihre
moralischen Anschauungen und ihren Glauben für fester
begründet  gehalten.  Ganze  Dörfer,  ganze  Städte  und  Völker  
wurden angesteckt und verfielen dem Wahnsinn. Alle waren in
Aufregung  und  verstanden  einander  nicht  mehr;  jeder  glaubte  
im  Alleinbesitze  der  Wahrheit  zu  sein  und  wollte  verzweifeln,  
wenn  er  die  anderen  ansah,  schlug  sich  entsetzt  an  die  Brust,  
weinte  und  rang  die  Hände.  Man  wußte  nicht,  wen  und  wie  
man richten sollte; man konnte sich nicht darüber einigen, was
als  schlecht  und  was  als  gut  zu  betrachten  sei.  Man  wußte  
nicht,  wen  man  verurteilen  und  wen  man  freisprechen  sollte.  
Die  Menschen  töteten  einander  in  einer  Art  von  unsinnigem  
Grimme. Sie taten sich zu ganzen Heeren zusammen, um
einander  zu  bekriegen;  aber  die  Heere  fingen  schon  auf  dem  
Marsche an, sich selbst zu befehden; die Reihen lösten sich auf;
die Krieger stürzten aufeinander los, stachen und hieben,
bissen  und  fraßen  einander.  In  den Städten wurde den ganzen
Tag lang die Sturmglocke geläutet; alle Einwohner wurden
zuammengerufen; wer jedoch eigentlich zusammenrief und
warum, das wußte niemand; aber alle waren in großer
Aufregung.  Die  gewöhnlichen  Handwerke  wurden  nicht  mehr  
betrieben; denn jeder trug seine Ideen, seine
Reformvorschläge  vor,  aber  es  kam  zu  keiner  Einigung;  die  
Bodenbestellung  hörte  auf.  Hier  und  da  sammelten  sich  die  
Menschen zu einzelnen Haufen; sie einigten sich über dies und
das,  schwuren,  einander  nicht  zu  verlassen;  aber  gleich  darauf  
begannen sie etwas ganz anderes zu tun als das, was sie
soeben selbst angeregt hatten, beschuldigten sich gegenseitig,
prügelten und mordeten sich. Feuersbrünste wüteten; es brach
Hungersnot  aus.  Alle  Menschen,  alle  Habe  ging  zugrunde.  Die  
Seuche wuchs und verbreitete sich immer weiter. Es entgingen
dem Verderben in der ganzen Welt nur sehr wenige Menschen;
dies  waren  die  Reinen  und  Auserwählten,  die  dazu  bestimmt  
waren, ein neues Menschengeschlecht und ein neues Leben zu
begründen  und  die  Erde  zu  erneuern  und  zu  reinigen;  aber  
diese  Menschen  hatte  niemand  erkannt,  niemand  hatte  ihre  
Worte und ihre Stimme beachtet.
Es war für Raskolnikow eine Qual, daß dieser sinnlose Traum
so  fest  in  seinem  Gedächtnis  haftete  und  daß  der  Eindruck  
dieser Fieberphantasien so lange nicht schwinden wollte.
Schon war die zweite Woche nach Ostern herangekommen; es
waren  warme,  heitere  Frühlingstage;  im  Gefangenensaale  des  
Krankenhauses waren die Fenster geöffnet (sie waren
vergittert  und  davor  ging  eine  Schildwache  auf  und  ab).  Sonja  
hatte  ihn  während  seiner  ganzen  Krankheit  nur  zweimal  im  
Krankenhause besuchen können. Es war dazu jedesmal erst die
Einholung einer besonderen Erlaubnis erforderlich, und das
machte Schwierigkeiten. 


Nichtsdestoweniger ist es erstaunlich, welch maßlose Verwirrung der Gemüter die Eskalation der Angst vor einer mittelschweren Grippe unter der Bevölkerung und infolgedessen unter Politikern und Experten ausgelöst hat.

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