Wer sich als britischer Historiker dieser Tage politisch äussert,
scheint gar nicht vorsichtig genug sein zu können: Einen Reporter von Le
Devoir aus Montreal hat David Abulafia am Morgen empfangen, am Tag
zuvor jemanden von der deutschen ARD, doch einer Zeitung, deren Namen er
nicht nennen mag, hat er dann doch lieber abgesagt: «Ich spürte, dass
diese Leute mir etwas in den Mund legen wollten.»
Abulafia, 66, denkt wie viele seiner Landsleute, doch wie nur wenige
seiner Fachkollegen: Der Europäischen Union steht der
Cambridge-Professor skeptisch gegenüber. Wie er selbst sich am 23. Juni
entscheiden wird, wenn die Briten darüber abstimmen, ob ihr Land
EU-Mitglied bleiben soll oder nicht, will er nicht sagen: «Mir geht es
darum, eine Debatte anzustossen, ich möchte niemanden indoktrinieren.»
An diesem Nachmittag hat Abulafia nur wenig Zeit zu verlieren. In der
Bibliothek seines Colleges, Gonville and Caius, betreten wir einen
schmucklosen Nebenraum. Den Kleiderbügel, an dem ich meinen Mantel
aufhänge, habe auch der Herzog von Edinburgh schon benutzt. An diesem
Tisch habe er sich jeweils auf seine Reden vorbereitet, die er während
seiner Amtszeit als Kanzler der Universität gehalten habe. Prinz Philip,
der Ehemann der Königin? «Ja, ja, eben der», murmelt Abulafia. «Und in
diesem Spiegel hat er sich vor seinen Auftritten jeweils noch einmal
betrachtet.» Jetzt aber zum Thema!, scheint der Professor sagen zu
wollen.
David Abulafia, dem in Deutschland oder auch in Frankreich manche
wohl das Etikett eines Anti-Europäers anhängen würden, ist ein
hervorragender Kenner Europas: Seine monumentale Geschichte des
Mittelmeerraums gilt längst als Standardwerk, gefeiert von der Kritik
auf beiden Seiten des Kanals.
Was, so frage ich ihn, macht Grossbritannien zum Sonderfall? «Ich
könnte mit einer ganz einfachen Beobachtung beginnen», antwortet
Abulafia: «Wenn Sie in London Picadilly entlanglaufen, werden Sie nur
eine einzige europäische Flagge sehen. Und die hängt an der maltesischen
Botschaft.»
Keiner britischen Institution käme es dagegen in den Sinn, etwas
anderes als den Union Jack aufzuhängen. Anders auf dem Kontinent. Eben
erst sei er in Venedig gewesen, wo am Dogenpalast neben der
italienischen Trikolore ganz selbstverständlich auch der Sternenkranz
der EU hänge.
Dem Dogen wären wohl beide Konzepte gleichermassen fremd gewesen, das
eines italienischen Nationalstaats und jenes einer Europäischen Union,
wende ich ein. Doch Abulafia will auf etwas anderes hinaus: Auf dem
Kontinent identifizierten sich sowohl die Eliten als auch die
Bevölkerung mit dem europäischen Projekt. «Das war hierzulande nie so.
Auch viele von denen, die nun gegen den Brexit stimmen, sind eigentlich
zutiefst euroskeptisch.»
Das gelte auch für David Cameron und George
Osborne, den Premierminister und seinen Schatzkanzler, die derzeit
vehement für einen Verbleib in der EU streiten. «Cameron und Osborne
würden nie so hart kämpfen, wenn er nicht einen Deal ausgehandelt hätte,
der uns – falls er denn funktionieren sollte – von weiterer politischer
Integration ausnimmt», glaubt Abulafia.
Jedes Land in Europa, so lautet ein oft wiederholtes Bonmot, sei ja
auf seine Weise ein Sonderfall. Das mag auch David Abulafia nicht
bestreiten, doch Grossbritannien ist für ihn eben ein «spezieller
Spezialfall». Das politische System des Königreichs habe sich über viele
Jahrhunderte evolutionär entwickelt, erklärt er: «Wir haben eine
ungebrochene politische Tradition, die zurückgeht bis zu den Parlamenten
des Mittelalters, auch wenn es sich dabei natürlich nicht um
demokratische Parlamente im heutigen Sinn handelte.»
Auf die Souveränität ihres Parlaments legten die Briten bis heute
grossen Wert. «Wir wollen nicht, dass diese von anderen europäischen
Gremien unterminiert wird.» Natürlich habe es auch auf der Insel Brüche
und Konflikte gegeben, etwa die Rosenkriege des 15. Jahrhunderts, als
die Adelshäuser York und Lancaster um die Macht kämpften, oder den
Bürgerkrieg zwischen König und Parlament im 17. Jahrhundert, der damit
endete, dass Karl I. geköpft wurde. Doch von da an sei England, anders
als etwa Frankreich, von massiven Umwälzungen und Revolten verschont
geblieben.
Dem Konzept einer europäischen Identität kann Abulafia wenig
abgewinnen. Es werde viel von einem gemeinsamen Erbe geredet, doch worin
dieses bestehen solle, könne ihm keiner überzeugend erklären: «Das mit
den Römern funktioniert schon einmal nicht.» Diese hätten zwar weite
Teile Europas erobert, doch eben nie den gesamten Kontinent: «Es gab
keine römischen Kastelle im heutigen Polen, in Irland oder
Skandinavien.»
Auch das Christentum dränge sich als verbindendes Element nicht
unbedingt auf: «In religiöser Hinsicht ist Europa gespalten: Es gibt
hier Protestanten, Katholiken und Orthodoxe. Abgesehen davon leben wir
heute in einer post-christlichen Ära. Zudem gibt es auch Europäer, die
keine Christen sind, sondern Juden oder Muslime.»
Die Anglosphäre als ideelle Heimat hat für David Abulafia
offensichtlich weit mehr Sinn: «Die britische Kultur ist eine
weltweite.» Am ähnlichsten seien den Briten wohl die Neuseeländer, die
in einer Art altmodischem Grossbritannien lebten. «Das Empire war bis in
die Fünfzigerjahre hinein für das britische Bewusstsein sehr wichtig.»
Manche fühlten noch immer eine spezielle Verbindung zu Nationen des
Commonwealth wie Kanada oder Australien.
Nicht einmal eine Meile liegt zwischen David Abulafias Büro und jenem
von Renaud Morieux im Jesus-College, doch sind es Welten, welche die
beiden Historiker trennen: Morieux ist Franzose, gut zwanzig Jahre
jünger als Abulafia und geprägt vom akademischen Jargon seiner Heimat:
«Britisch», sagt er, sei ein Wort, das dekonstruiert werden müsse: «Eine
Idee, die gerade einmal 300 Jahre alt ist und vielleicht, wenn
Schottland eigene Wege geht, bald irrelevant sein wird.»
Noch im 18. Jahrhundert, der Epoche, auf die sich Morieux
spezialisiert hat, seien lokale Identitäten entscheidend gewesen. Ein
Fischer aus Harwich habe sich zunächst einmal als Fischer gesehen,
zweitens als einer aus Harwich, und dann erst, wenn überhaupt, auch noch
als Engländer.
Immerhin, so ganz mag auch Morieux den Briten ihre Sonderrolle nicht
absprechen: Die Rechte des Individuums seien hier schon stärker
ausgeprägt gewesen als etwa in Frankreich. Die Habeas-Corpus-Akte von
1679 habe die Briten vor willkürlichen Verhaftungen geschützt und dem
König sei ein relativ mächtiges Parlament gegenübergestanden. Doch noch
im 18. Jahrhundert habe der Monarch ganz allein über Krieg und Frieden
entschieden, genau wie überall sonst in Europa.
Sonderfall oder doch Normalfall? Wer die Schweizer Geschichtsdebatten
der letzten Jahrzehnte verfolgt hat, erlebt ein Déjà-vu: Die Rolle, die
für Schweizer Historiker Napoleon spielt, die des Herrschers von
aussen, der dem Land einen Modernisierungsschub wider Willen verordnete,
spielt für Morieux Wilhelm von Oranien. Erst dieser, der Statthalter
der Niederlande, der 1689 englischer König wurde, habe einen Ausgleich
zwischen Thron und Parlament herbeigeführt. «Dass dafür eine Invasion
von aussen notwendig war, wird von den Engländern gerne vergessen.»
Geschichte ist die Politik von gestern. Die Frage, wer die
Deutungshoheit über sie hat, kann unter Umständen zur Machtfrage werden.
Manchmal wird der Historiker gar zum Souffleur der Mächtigen.
Wolfgang
Schäuble, der deutsche Finanzminister, sei ein regelrechter Fan des
irischen Historikers Brendan Simms, heisst es unter Historikerkollegen.
Schäubles Mantra, wonach Europa durch jede Krise weiter zusammenwachse,
sei nicht zuletzt auch in Simms‘ Studierstube erdacht worden.
Dort, im Peterhouse-College, erklärt Simms mir seine Sicht der Dinge.
Die EU, sagt er, sei ein Projekt, um die Probleme des Kontinents zu
lösen, nicht diejenigen Grossbritanniens. «Grossbritannien ist eine
funktionierende politische Einheit.» Was der Kontinent brauche, sei die
volle politische Integration. Anders sei Herausforderungen wie der
Euro-Krise nicht zu begegnen.
Was Grossbritanniens Rolle in Europa betrifft, unterscheidet sich
Brendan Simms nicht einmal so sehr von britischen EU-Skeptikern:
Längerfristig kann auch er sich das Land ausserhalb der EU vorstellen.
Das Vereinigte Königreich, so glaubt er, werde einem europäischen
Bundesstaat, wie er ihn wolle, niemals beitreten. «Die Euro-Zone müsste
die EU verlassen und zu einem einzigen Staat verschmelzen. Das nenne ich
Euro-Exit», sagt Simms. Erst wenn ein solcher Staat entstanden sei,
könne Grossbritannien guten Gewissens aus der EU austreten.
Gehe das Königreich hingegen bereits vorher eigene Wege, würde dies
Europa als Ganzes destabilisieren. «Derzeit ist die Entstehung einer
vollen politischen Union nicht abzusehen. Also ist es für
Grossbritannien im Moment auch gar nicht notwendig, zu gehen. Das
Referendum kommt daher zum völlig falschen Zeitpunkt.»
Nun würden die Briten über Europa befragt, obwohl gar nicht klar sei,
wohin sich dieses entwickle. «Wenn es am 23. Juni ein Ja zur EU gäbe
und der Prozess der europäischen Integration weiterginge, würde
unweigerlich die Forderung nach einem neuen Referendum auftauchen»,
glaubt Simms.
Warum aber wäre der Brexit so schlimm für ein Europa, wie Simms es
sich vorstellt? Würde mit Grossbritannien nicht ein Bremsklotz auf dem
Weg zur immer engeren Union verschwinden? Wahrscheinlicher sei, dass der
Brexit zumindest kurz- und mittelfristig einen katastrophalen
politischen und psychologischen Effekt auf die EU hätte. «Wenn
Griechenland ginge oder gehen müsste, dann wäre dies ein Urteil über
Griechenland. Wenn aber Grossbritannien gehen würde, wäre es ein Urteil
über die EU und würde auch als solches verstanden werden.»
Für Brendan Simms ist die EU eine Antwort auf Probleme, die
Grossbritannien nie hatte. Im 20. Jahrhundert sei das Königreich der
einzige grössere Staat in Europa gewesen, der alle totalitären Stürme
überstanden habe. Auf dem Kontinent dagegen sei jedes Land vor 1945
entweder Aggressor oder Opfer gewesen. Die EU sei als Reaktion darauf
entstanden.
In seinem neuesten Buch, «Britain’s Europe», erzählt Brendan Simms
die Geschichte von tausend Jahren Konflikt und Kooperation zwischen der
Insel und dem Kontinent. Heute, so schreibt er im Schlusskapitel,
befinde sich Europa in Not und brauche Grossbritanniens Hilfe. Ein
stabiles Europa ohne Grossbritannien ist für Simms nicht möglich: «Die
europäische Ordnung war immer eine britische», sagt er. «Es ist ein
Fehler, zu glauben, man könne eine stabile europäische Ordnung haben,
die allein dem Willen der Kontinentaleuropäer selbst entspringt.»
Die Geschichte habe gezeigt, dass die Europäer zwar die Ambition
hätten, eine solche zu verwirklichen, aber nicht die Kapazität. Das
gesamte europäische Projekt sei ja nicht umsonst immer von aussen
unterstützt worden, nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst von Winston
Churchill, vor allem aber von den Amerikanern. «Anstatt die EU als Feind
zu begreifen, sollte Grossbritannien sie als Raum ansehen, den es zu
ordnen gilt. Die Welt, in der wir heute leben, ist schliesslich eine
Kreation der angelsächsischen Demokratien.»
Europas Rettung als Grossbritanniens Bürde: Wenn das Königreich der
EU helfen muss, damit auf dem Kontinent nicht das Chaos ausbricht, ist
das Land dann nicht eine Geisel Europas? «Alle europäischen Staaten sind
Geiseln Europas, die einen mehr, die anderen weniger», sagt Simms. Die
Zukunft jedes Landes sei gebunden an die des gesamten Kontinents.
Grossbritannien aber sei wohl der Staat, der noch am wenigsten von der
EU abhängig sei.
Blickt man derzeit auf Europa, so scheint sich alles in eine Richtung
zu entwickeln, welche die Verwirklichung von Simms‘ Traum von den
Vereinigten Staaten von Europa ferner und ferner erscheinen lässt: Ob
Euro- oder Flüchtlingskrise, die Mitgliedstaaten der EU driften immer
weiter auseinander: Uneinigkeit, wohin man schaut; EU-Gegner oder
-Skeptiker befinden sich in vielen Ländern im Aufwind.
Für Simms kein Grund zu zweifeln: «Wenn Sie nun sagen, vielleicht
zerbricht die EU auch, dann denke ich nicht, dass die Völker Europas
dafür stimmen würden», sagt er. «Denn damit würden sie zum Status quo
ante zurückkehren, also zu eben der Unordnung, die durch die EU beendet
werden sollte. Die EU versagt zwar noch immer, aber sie versagt besser.»
Selbst im wirtschaftlich gebeutelten Griechenland würde sich eine
Mehrheit für die Mitgliedschaft entscheiden, wenn man das Volk denn
befragen würde, glaubt Simms.
Eine Frage, die wichtigste, bleibt: Wie geht es aus am 23. Juni?
«Wenn morgen abgestimmt würde, gäbe es sicher eine Mehrheit für die EU»,
sagt Simms. Aber es könne noch so viel passieren: «Wir hängen an der
Gnade der Ereignisse.» Ein Terroranschlag oder eine Zuspitzung der
Flüchtlingskrise könnten alles ändern. Abulafia und Morieux mögen sich
nicht festlegen.
Das Geschäft der Historiker ist und bleibt die Vergangenheit, nicht
die Zukunft. Und das selbst dann, wenn eine Nation vor einer
historischen Entscheidung steht. Hansjörg Müller
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