Gerade in aufgeheizten Situationen gilt es, genau zu differenzieren. Man
hüte sich vor voreiligen Schlüssen, die pauschale Verurteilungen
auslösen könnten.
Wir sprechen natürlich über das Massaker von
Orlando im US-Bundesstaat Florida. Im Moment werde noch darüber
gerätselt, ob der radikalislamische Täter aus religiöser Verblendung
gehandelt habe oder bloß aus reinem Schwulenhass, hieß es tagelang auf
allen Kanälen und in fast allen Zeitungen. Das scheint im Moment die
brisanteste Frage überhaupt zu sein.
Ein interessantes Rätselraten.
In derselben Logik könnten wir uns auch angestrengt fragen, ob die
Judenmörder der 1940er Jahre aus der ideologischen Verblendung des
Hitlerismus gehandelt haben oder bloß aus reinem Judenhass.
Was
diese blödsinnige Unterscheidung bitte schön soll, wollen Sie wissen?
Ja, das hätten wir auch gern erfahren. Aber jetzt heucheln wir ein
bisschen, denn die Antwort kennen wir doch: Es ist die alte „Hat alles
nichts mit dem Islam zu tun“-Platte, die hier aufgelegt wurde.
Dass
dieser mörderische Hass auf Schwule in islamischen Ländern besonders
dicht gesät ist, kann indes auch der Gutmenschlichste kaum übersehen –
ein Dilemma für die „Hat nichts mit dem Islam zu tun“-Fraktion.
In
der „Welt“ bietet eine Autorin immerhin eine elegante Lösung an: In
islamischen Ländern finde sich zwar eine besonders ausgeprägte
Homophobie. Die habe aber eigentlich keine lange Tradition.
Kenntnisreich präsentiert sie uns zum Beweis Beispiele homo-erotisch
angehauchter Literatur des muslimischen Mittelalters. Erst im 19.
Jahrhundert habe Verklemmtheit Einzug gehalten, und die sei – Sie haben
es geahnt – natürlich ein Werk der westlichen Kolonialmächte! Sprich:
Wir sind schuld. Als Beweis führt die Autorin ein Werk aus dem 13.
Jahrhundert an, das in Damaskus Ende des 19. Jahrhunderts neu aufgelegt
worden sei. Dabei habe man die einschlägigen Passagen in die letzen
Seiten des Buches verbannt, damit „der Leser sie zur Not entfernen
konnte“. Als der Band wenige Jahre später noch einmal in Beirut
herausgebracht worden sei, hätten diese Passagen ganz gefehlt. Die
„Welt“-Autorin führt das auf die „Zensurvorschriften der Kolonialmächte“
zurück, wobei der geneigte Leser, der zuvor vom unheilvollen Einfluss
des „viktorianischen“ Westens auf die zuvor so tolerante islamische Welt
gehört hatte, natürlich an Engländer, Franzosen oder Ähnliches denkt.
Wer
aber war wirklich „Kolonialmacht“ in Beirut und Damaskus Ende des 19.
Jahrhunderts? Es war das Osmanische Reich, dessen Sultan auch den Titel
„Kalif“ trug. Islamischer geht’s kaum. Oder doch: In der Mitte der
arabischen Halbinsel herrschten damals wie heute die Saudis, unter deren
Regentschaft der Wahhabismus zur religiösen Richtschnur wurde. Dabei
handelt es sich um jene radikalislamische Strömung, deren Anhänger man
außerhalb Saudi-Arabiens „Salafisten“ nennt. Das sind diese zotteligen
Koran-Verteiler, die Sie aus der Fußgängerzone kennen.
Die Saudis
hatten nie in ihrer Geschichte eine „westliche Kolonialmacht“ über sich,
zumal sich vor der Entdeckung der Ölquellen ohnehin kaum jemand für
ihre öde Heimat interessierte. Nur die Küstengebiete des heutigen
Königreichs waren fremd beherrscht, aber nicht von Europäern, sondern
wiederum von den Türken. Im staubtrockenen Hinterland blieben die Saudis
weitestgehend unbehelligt und konnten in aller Ruhe und
Abgeschiedenheit eine radikale Version des Islam ausbrüten, deren
Auswüchse heutzutage die ganze Welt in Schrecken versetzen. Also
nichts mit „Schuld des Westens“. Was treibt die „Welt“-Autorin zu solch
bemerkenswerten Verrenkungen, die dermaßen leicht zu widerlegen sind? Da
wuchert allem Anschein nach eine Zwangsvorstellung hervor, die Ihnen
auch schon des Öfteren begegnet sein dürfte.
Sie zwingt die Befallenen
dazu, in alles Unheil auf der Welt eine „Schuld des Westens“, der
Europäer, des weißen Mannes oder, im Idealfall: der Deutschen hinein zu
operieren. Wenn diese Schuld partout nicht belegt werden kann, dann wird
sie eben konstruiert, und sei das Begründungsgebilde auch noch so
schlampig zusammengeschraubt.
Was die Schuld der Deutschen angeht,
laufen die Zwangsgesteuerten gerade wieder zur Hochform auf. Grünen-Chef
Cem Özdemir wirft den Deutschen vor, „Komplizen“ des türkischen
Völkermords an den Armeniern gewesen zu sein, weshalb wir eine
„Mitverantwortlichkeit“ auf uns geladen hätten.
Kurz zur Sache:
Deutschland kämpfte damals (1915) um sein Überleben, ein Riss zwischen
Berlin und Konstantinopel hätte eine Katastrophe an der Südostflanke
auslösen können. Was also hätte das Reich machen sollen, um die Türken
zu stoppen? Genau das ist die schlaue Masche der Hypermoralisten: Sie
legen dem Angeklagten Maßstäbe an, denen er nicht ums Verrecken gerecht
werden könnte. Damit halten sie ihn unentrinnbar fest in der Falle des
Sünders.
Dass es im vorliegenden Fall ausgerechnet ein
türkischstämmiger Politiker ist, der den Zeigefinger in Richtung der
Deutschen hebt, gibt der Aufführung einen besonders schrillen Klang. Man
stelle sich vor, ein deutschstämmiger Abgeordneter im japanischen
Reichstag ... ich weiß: Den gibt es nicht. Aber angenommen, es gäbe ihn,
und er hielte den Japanern eine „Komplizenschaft“ bei Hitlers Judenmord
vor, weil sie damals Verbündete Berlins gewesen seien. Wie lange würde
es dauern, bis ihm seine Partei (egal welche) nahelegt, sein Mandat
niederzulegen und sich in aller Form beim japanischen Volk zu
entschuldigen? Eine Viertelstunde? Drei Minuten?
Überhaupt: Waren nicht
auch die Thailänder mit den Achsenmächten verbündet? Ob die wohl
Bescheid wissen über ihre damit zwingend verbundene „Komplizenschaft“
hinsichtlich Auschwitz? Ich befürchte, die haben keine Ahnung. Wird
Zeit, dass Özdemir diese fernöstlichen Pharisäer mal ins Bild setzt.
Er
wird es natürlich nicht tun, und wir wissen, warum: Das mit dem
Überall-Mitschuld-Haben wird bekanntlich nur bestimmten Gruppen und
Völkern untergejubelt. Besonders gern bei den Deutschen, weil die dann
immer so schön Männchen machen und, wenn man ein bisschen Druck ausübt,
sogar ein hübsches Sümmchen springen lassen.
Andere Völker reagieren
auf solche Nachstellereien eher bodenständig, lachen den Ankläger aus
oder ziehen ihm verbal ordentlich eins über. Wer käme auf die Idee,
Amerikaner oder Briten für die Verbrechen von Roter Armee und
Stalin-Regime an deutschen Zivilisten und etlichen osteuropäischen
Völkern mitverantwortlich zu machen, nur weil die Westmächte damals
Verbündete des Kreml waren? Niemand.
[Übrigens, unter französischem Kommando zogen fast 900000 Moroccan Goumiers durch Süditalien, nachdem die Alliierten in Sizilien gelandet waren. Diese Goumiers waren für ihre Brutalität berühmt und wurden durch die französische Heeresleitung für ihren kriegerischen Einsatz belohnt, indem man ihnen ausdrücklich erlaubte, nach Herzenslust zu plündern, zu morden und zu vergewaltigen.
Was damals geschah, war schlimmer selbst als die Repressalien durch die SS bei der Partisanenbekämpfung.
Zwischen 8 und 85 Jahren war kein weibliches Wesen vor ihnen sicher. Auch Männer, vor allem Priester kamen dran. Aber eine historische Aufarbeitung findet immer noch nicht statt. Außer im italienischen Fernsehsender RAI Tre, wo der jüdische Journalist und Historiker (und einstige Kommunist) Paolo Mieli gestern verdienstvollerweise einen Dokumentarfilm darüber vorstellte. Einen Eindruck von den Vorkommnissen kann man auch durch Vittorio De Sicas Film La ciociara gewinnen, wenngleich nicht vom massenhaften Ausmaß der Vorkommnisse].
Blitzschnell werden die Maßstäbe
danach neu aufgestellt, um welches Volk es sich handelt. So viel zur
gepriesenen „Gleichheit aller Menschen“. War wohl nicht so gemeint.
Wobei immer diese quälende Frage auftaucht, wer oder was überhaupt
„deutsch“ ist. Jahrzehntelang haben wir gelernt, dass wir im Grunde ein
buntes Mischvolk seien. Seit Cäsars Zeiten (spätestens!) hätten alle
möglichen Ethnien das Ihre hineingetragen, sodass es sowas wie
„deutsch“, gar „rein deutsch“, eigentlich nicht gäbe.
Stimmt auf
einmal nicht mehr: Mit seinem erstaunlichen Rückgriff auf die völkische
Erbguttheorie hat Wolfgang Schäuble auf einmal „Inzucht“, also ein
krank machendes Übermaß an „Reinrassigkeit“, bei uns entdeckt, das
dringend nach massiver ausländischer Blutauffrischung rufe. Was für eine sportliche Wende!
Die Demoskopen
fragen immer, wie wir Deutsche unsere Politiker finden. Vielleicht
sollten die umgekehrt mal untersuchen, was die Politiker eigentlich über
uns, die deutschen Bürger, denken? Sie scheinen uns für ausgemachte
Trottel zu halten. PAZ
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