Stationen

Mittwoch, 29. Juni 2016

Urushalim

Zu den absonderlichen Ritualen dieses Landes gehört, dass sich die wenigen konservativen Publizisten, die inmitten ihrer meist sozialistischen, rotgrünen, staatsfrommen Kollegen ein so kärgliches wie verdienstvolles, wenngleich womöglich alibihaftes Dasein, wie man sagt, fristen, unfehlbar und mit einer gewissen Regelmäßigkeit irgendein Abgrenzungsritual gegen „rechts“ zu verrichten gezwungen sehen. Sie tun dies, um es sich nicht ganz mit den Guten zu verscherzen und von deren Partyeinladungslisten zu verschwinden. Seht her, rufen sie, so schlimm bin ich doch gar nicht, immerhin distanziere ich mich vom Bösen (Putinrussland, Brexitengland, Orbanungarn, Dunkeldeutschland, Trump, katholische Kirche, SVP etc. pp.), ich bin ein letztlich milieukonformer Dissident, ich veranstalte mein subversives Tänzchen auf dem rutschigen diskursiven Parkett, ohne auch nur eine der roten Linien zu berühren, von denen es heißt, dass verflucht und verstoßen sei, wer sie übertrete.

Dieser Tage meldete sich der moderate Quertreiber Harald Martenstein mit seiner bislang eindrucksvollsten Version temporären Wiederliebseinwollens zu Wort. In einem Tagesspiegel-Kommentar unter der Überschrift „Die AfD ist tot - sie weiß es nur noch nicht“ schrieb er, die AfD sei Geschichte. „Denn was im heutigen Deutschland nicht geht, und darauf darf man ruhig stolz sein, ist eine Antisemitenpartei. Und die AfD ist antisemitisch.“

Das ist starker Rauschtrank. Die AfD ist antisemitisch. Nicht ein paar Platt- und Wirrköpfe in ihr. Man kennt die Diktion: Die Juden sind unser Unglück. Wer sich schon mal in die deutsche und österreichische Parteiengeschichte des spätesten 19. Jahrhunderts verirrt hat, weiß ungefähr, was unter einer Antisemitenpartei zu verstehen wäre. Vereine wie die Deutsche Reformpartei (DRP), gegründet als Antisemitische Volkspartei (AVP), organisierten sich weit obsessiver um ihr zentrales Aversionsthema als die frühe AfD gegen den Euro. Keine dieser Parteien erlangte eine erwähnenswerte politische Bedeutung. Bleibt zum Vergleich also wohl nur die NSDAP. Was für ein Zirkelschluss des Zeitgeistes: In der AfD findet sich ein Mensch namens Wolfgang Gedeon, der vor ein paar Sündenjährchen ein unverdauliches und komplett unbeachtetes Buch über den Weltlauf geschrieben hat, dessen offenbar struktureller oder jedenfalls inhärenter Antisemitismus nun zu einer Diskussion über seinen Parteiausschluss führte – begleitet von zugegeben etwas ungeschickten Versuchen, jenen in die Tat umzusetzen –, und schon bringt ein absolutionssehnsüchtiger Teilzeit-Mutiger die gesamte Partei mit dem übelsten politischen Gelichter in Verbindung. Aufgemerkt nun also und Trommelwirbel: Es betritt die erste Antisemitenpartei die Manege, die raffinierterweise Antisemiten ausschließen will.

„Er (Gedeon) hat ein Buch geschrieben, in dem sich Sätze wie diese finden: ‚Die Versklavung des Restes der Menschheit im messianischen Reich der Juden ist also das eschatologische Ziel der talmudischen Religion.’“ Wenn das kein Antisemitismus sei, so Martenstein, dann sei A. Hüttler auch kein Antisemit gewesen. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Herr Gedeon, der Ex-Maoist, der sich selbst Antizionist nennt, hat in der AfD nichts zu suchen, er hat in keiner konservativ-freiheitlichen Partei etwas zu suchen, für seinesgleichen hat der Verfassungsschutz die NPD auserkoren wenn nicht gar miterschaffen. Was an Gedeons Büchern antisemitisch ist und warum sich die AfD seiner Mitgliedschaft entledigen muss, hat der stellvertretende AfD-Sprecher von Baden-Württemberg, der Philosoph Marc Jongen, hier ausführlich dargelegt; mehr ist dazu nicht zu sagen. Wer sich freilich bei der allzu plakativen und allzu allgemeinen Aburteilung des Gegners in zeitgeistgeschützter Innerlichkeit allzu sicher fühlt und meint, eine genauere Kenntnis des Streitgegenstandes sei entbehrlich, es genüge, irgendeinen Passus zu zitieren, wo einem selber ein Hui! durchs Gekröse fährt, gibt den Antisemiten nur Futter. Wie verhält es sich mit der Aussage, die Martenstein so eminent hitleresk dünkt?

„Die jüdische Tradition setzt voraus, daß unter der Messias-Herrschaft bzw. Gottesherrschaft die Völker ihre angestammten Kulte preisgeben (müssen) und zur Anerkennung der Autorität der Torah gezwungen sein werden, ohne die Torah selber zu studieren oder gar halten zu dürfen. Sie haben vielmehr unter Anerkennung des Gottes Israels als des alleinigen Gottes und der Torah als höchster Offenbarungsautorität unter Androhung der Todesstrafe sich auf die Praktizierung der sieben ‚noachidischen Gebote’ zu beschränken und erwerben sich so den ihnen geziemenden Anteil am endgültigen Heilszustand.“ Schreibt Gedeon? Nein, das steht so bei Johann Maier, „Geschichte der jüdischen Religion“, Herder Verlag 1992. Maier war Gründer und Direktor des Martin-Buber-Instituts der Universität Köln, an der er von 1966 bis 1996 als Professor für Judaistik lehrte.

Die Texte liegen nun mal vor, die Tradition existiert, aber nur Narren oder Fundamentalisten nehmen das alles noch wörtlich, und der Politischen Korrektheit schaudert’s an der falschen Stelle. In Rede stehen Phantasien eines kleinen, von den damaligen Großmächten an die Peripherie gedrängten und teilweise versklavten Völkchens, die natürlich von Vergeltungsgelüsten und Kompensationsbedürfnissen durchsetzt sind (hier sind sowohl Nietzsches schöpferisches Ressentiment als auch Odo Marquards Homo compensator am Wirken), eines Volkes, dessen heilsgeschichtlichen Optimismus man übrigens nur bestaunen kann, das sich mit bewundernswerter Beharrlichkeit seit mehr als zweieinhalbtausend Jahren in der Geschichte hält, obwohl ihm die Umstände zwischen (evtl.) Nebukadnezar II., Titus und Hitler mehrfach den Garaus hätten bereitet müssen und das, weil es dem Boden entrissen wurde, in dem es wurzelte, stattdessen im Himmel der Gottesfurcht und der Verheißung Luftwurzeln schlug, um ein Bild Heinrich Heines zu plagiieren.

Und genauso wie Krone und Wurzel hat sich auch die Richtung des Ressentiments umgekehrt – die Juden verwandelten sich in dessen Zielscheibe. Dass dieses unbedeutende, in alle Welt zerstreute, permanenter Verfolgung ausgesetzte Völkchen heute einen Staat besitzt und Einfluss und  Atomwaffen im Megatonnenbereich – Geist und Geld besitzt es ja seit Olims Zeiten –, dass es jenes Jerusalem wiedererobert hat, welches ihm in Zeiten der Demütigung als Verheißung immer vor Augen stand – „Und nächstes Jahr in Jerusalem!“ lautete der uralte Abschiedsgruß –, das gilt den Antisemiten natürlich als Beweis für seine weltherrschaftsplanende Teufelsbündnerei, während es für unsereinen bloß ein Beleg dafür ist, was ein intelligentes, Intelligenz gezielt produzierendes und förderndes, starkes, an sich glaubendes Kollektiv – eine „Rasse“ im Sinne Spenglers, Rasse hat man, Rasse ist man nicht – gegen alle Widerstände zuwege bringen kann, mögen auch viele seiner Angehörigen an Diabetis und Unmanierlichkeit und manche an einer grässlichen Chuzpe leiden. 

Apropos Atomwaffen und Wehrhaftigkeit: Zusammen mit meiner Frau besuchte ich einmal ihren alten Klavierlehrer, der am Rande Jerusalems – oder, wie ich lieber sage: Urushalims – ein Grundstück besitzt, auf dem er einen kleinen Konzertsaal mit zwei Flügeln und Porträts der großen Komponisten an den Wänden gebaut hat. Der alte Mann kam begleitet von einem respektgebietenden Pitbull an das Tor, und als er es öffnete, erblickte ich die Auschwitz-Häftlingsnummer an seinem Unterarm. Die Tätowierung, der Zaun und der Kampfhund: Was für ein rundes, stimmiges, schönes Bild!

Zurück zu dem „Antizionisten“ Gedeon, der niemandem in Israel, aber einigen Leuten in Deutschland den Schlaf raubt. „In einer neuen Partei suchen auch Wirrköpfe eine Heimat, das ist normal. Bei den Grünen war es auch so. Die schließt man dann aus, fertig“, schreibt Martenstein. „Dass ein Parteimitglied menschenfeindliche Thesen verzapft, lässt sich bei tausenden Mitgliedern nicht vermeiden, so etwas kommt bei jeder Partei hin und wieder vor. In der AfD aber halten nicht Einzelne, sondern viele die jüdische Weltverschwörung für eine Idee, die man ernsthaft diskutieren sollte.“

Soso, da hat der Herr Martenstein wohl persönlich nachgezählt. Wie viele mögen „viele“ sein? Fünf? Achtundachtzig? Ab wann ist die kritische Masse erreicht? Und wo befindet sich diese Masse? Nein, der Punkt ist ein anderer, die AfD ist sehr dünnhäutig, wenn es um die Meinungsfreiheit geht, denn man sieht ja, wohin fehlende Dünnhäutigkeit führt, wenn man sich die anderen Parteien anschaut.

Das umständliche, politisch naiv wirkende Prozedere um Herrn Gedeon und dessen unappetitliche Thesen gilt der Suche nach einem Verfahrensmodus, der der Öffentlichkeit zweierlei zeigt: Wir schließen Judenfeinde aus, aber wir tun dies nicht auf Knopfdruck und pawlowschen Reflex, wir sind und bleiben als Partei ein Schutzraum der freien Rede, die mit einer gewissen Notwendigkeit die dumme, bösartige Rede einschließt.
Besser eine freie dumme Rede als die gemaßregelte, limitierte, in spanische Stiefel geschnürte dumme Rede der Etablierten. Besser ein ungeschickter Parteiausschluss als ein allzu geölter.

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