Stationen

Dienstag, 10. Januar 2017

Paragraph 58a


„Von Staatsversagen kann überhaupt gar keine Rede sein“: O-Ton der Journalistin Mariam Lau von der Zeit im „Presseclub" der ARD; Die Wochenzeitschrift titelt aktuell nach dem Anschlag in Israel: "Ein Anschlag, der die Rechten stärkt.“ Ein Leserkommentar dazu: „Da finden grausame Attentate auf Menschen statt…Und dann ist das wieder die einzige Sorge. Das ist unerträglich.“ Und eine Leser-Antwort darauf:
„Absolut! Anscheinend ist hier jeglicher Anstand und die Fähigkeit zu sachlicher Berichterstattung abhanden gekommen, wenn feige Morde dafür instrumentalisiert werden, seine eigene politische Sicht zu verbreiten, wo nun ‚die Rechten in Israel‘ (was soll das überhaupt sein) gestärkt werden sollen. Man kann nur fassungslos lesen und den Kopf schütteln.“ 
Immerhin: Georg Mascolo von der Recherchekooperation NDR äußerte in der zitierten Sendung eine vernunftbegabte Einschätzung zur Lage nach dem Berliner Anschlag: Es bestünden keine Gesetzes-, sondern Vollzugslücken, verwies er auf Paragraph 58a Aufenthaltsgesetz. Auf Nachfrage bei Behörden bekomme man zu hören, dieses Gesetz sei untauglich und nie angewendet worden. Das ist skurril. Der Paragraph liest sich, als sei er exakt für Situationen, wie sie im Vorfeld des Anschlags in Berlin anzutreffen waren, formuliert worden. 
In Absatz 1 § 58a heißt es:
„Die oberste Landesbehörde kann gegen einen Ausländer auf Grund einer auf Tatsachen gestützten Prognose zur Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ohne vorhergehende Ausweisung eine Abschiebungsanordnung erlassen. Die Abschiebungsanordnung ist sofort vollziehbar; einer Abschiebungsandrohung bedarf es nicht.“
Und Absatz 2 besagt:
„Das Bundesministerium des Innern kann die Übernahme der Zuständigkeit erklären, wenn ein besonderes Interesse des Bundes besteht. Die oberste Landesbehörde ist hierüber zu unterrichten. Abschiebungsanordnungen des Bundes werden von der Bundespolizei vollzogen.“
Was oder besser wer ist hier untauglich?
Im Rahmen der Partnerschaft mit Tunesien verlange dieses Land und bekomme auch sehr viel von Deutschland, so Mascolo weiter. Das Mindeste müsse sein, dass Tunesien gefährliche Personen wie Anis Amri zurücknimmt. Warum ist das Auswärtige Amt im Rahmen seiner diplomatischen Arbeit diesbezüglich nicht schon längst tätig geworden? Oder Thomas de Maizière, der bereits zum zweiten Mal den Posten des Innenministers inne hat? Konsequentes Handeln sei nötig, so Mascolo.
Ob nun die aktuelle Handlung des Innenministers in irgendeiner Weise zielführend ist, bleibt fraglich: „De Maizière plant seit Oktober, als neuen Haftgrund eine ‚Gefahr für die öffentliche Sicherheit‘ ins Aufenthaltsgesetz schreiben zu lassen“, berichtet Spiegel Online. Würde der oben zitierte § 58a ernst genommen, dann wäre diese – seit drei Monaten (!) in Planung befindliche Aktion – so überflüssig wie ein Kropf. Denn in § 62 Absatz 3 Aufenthaltsgesetz steht: „Ein Ausländer ist zur Sicherung der Abschiebung auf richterliche Anordnung in Haft zu nehmen (Sicherungshaft), wenn…eine Abschiebungsanordnung nach § 58a ergangen ist, diese aber nicht unmittelbar vollzogen werden kann.“ Was also soll der zeitvergeudende politische Eiertanz?

In punkto Staatsversagen respektive „Zerfallende Staaten“ gibt es übrigens eine treffsichere Beschreibung in der Schriftenreihe „Aus Politik und Zeitgeschehen“ vom Juli 2005:
„Die Ursachen sind vielfältig: korrupte Eliten, schlechte Regierungsführung, verfehlte wirtschaftliche Entwicklungskonzepte, keinerlei Rechenschaftspflicht gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, mangelnde Wohlfahrt und wenig Rechtssicherheit sowie ahistorische Nation-building-Konzepte.“
Im gleichen Stil weiter regiert ist der beschriebene Zustand auch hierzulande absehbar.  Susanne Baumstark   (Jahrgang 1967, ist freie Redakteurin und Diplom-Sozialpädagogin. Ihren Blog finden Sie hier)




2016: Ein klarer Blick ist ein klarer Blick

„Weshalb heißen besorgte Bürger nicht einfach Mischpoke, Pack, Spinner, Rechtspopulisten oder Pöbel“, dachten die Leute im Scheinwerferlicht und lächelten stolz über ihren Einfall. Also sagten sie von da an zu den besorgten Bürgern wahlweise Mischpoke, Pack, Spinner, Rechtspopulisten oder Pöbel, machten ihre Hassbotschaften überall bekannt und hofften, dass die besorgten Bürger dann keine Sorgen mehr aussprechen. Und weil das recht gut funktionierte, benannten sie bald auch andere Wörter um.

So beschloss man, unbequeme Sachinformationen künftig rassistische Hetze zu nennen. Zur Kulturpflege sagten sie Nationalismus und zur Empörung künftig Hass. Aufklärung nannten sie Verschwörungstheorie und aus dem Wort interessant wurde das Wort krude, während lustig nun anstelle von niveaulos stand. Die Vereinsvetterleswirtschaft hieß jetzt Kampf gegen Rechts. Aus konservativ wurde rechtsextrem, aus linksextrem wurde autonom, aus der Heuchelei der Anstand und aus der Autokratie die Demokratie. Zwangsmoral bezeichneten sie als Freiheit, das Diktat als Debatte, die Ausrede als Verantwortung und die Agitation als Journalismus. Wer etwas auf den Punkt brachte der spaltete jetzt, wer tatsächlich spaltete war mutig, während Mutige als verantwortungslos galten.

Sie übten viele Tage sich die neuen Bezeichnungen einzuprägen und sie überall zu verbreiten. Ihre neue Sprache hegten und pflegten sie. Manch einer träumte gar schon in ihr. Jenen wurde sie wie eine zweite Haut, ohne die sie kaum noch atmen konnten.

Die unbesorgten Bürger indessen wollten von den Leuten im Scheinwerferlicht alles annehmen, weil sie sich damit im Schein der Anständigen wähnten. Daher nahmen sie auch die neue Sprachregelung für die besorgten Bürger an und setzten sich eine rosafarbene Brille auf, damit ein klarer Blick die Harmonie nicht störe.

Da trug es sich aber zu, dass die Realität gewaltig einschlug. Die rosafarbenen Brillen beschlugen sich dadurch hartnäckig. Manche ließen ihre Brille trotzdem weiterhin auf und waren fortan fast blind. Doch es gab auch welche, die sie absetzten und den klaren Blick riskierten. Jene werden erkennen und eines Tages vielleicht auch kämpfen, für eine möglichst gewaltfreie Welt…  Susanne Baumstark

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