Wenn
von Politikern Texte veröffentlicht werden, ist nie ganz klar, wer sie
geschrieben hat. Wahrscheinlich nicht sie selbst, sondern ein Profi, der
dafür angestellt und bezahlt wird. Das darf man auch im Fall des
Beitrags vermuten, den die Frankfurter Allgemeine Zeitung in der vergangenen Woche unter dem Namen des Bundestagspräsidenten Norbert Lammert abdruckte.
Nicht daß bezweifelt würde, daß das, was da steht, die Überzeugung
Lammerts wiedergibt, aber viele Indizien sprechen gegen eine gründliche
Auseinandersetzung mit der einschlägigen Literatur und für den
Zettelkasten eines Redenschreibers. Ein Hinweis ist der Mix aus
aktuellen Bezugnahmen und grundsätzlichen Erwägungen.
Konzentrieren wir uns auf das Grundsätzliche. Dazu gehört zuerst
einmal die Behauptung, daß der Staat keine konkrete Größe ist –
klassischerweise definiert über Staatsvolk, Staatsterritorium, Staatsgewalt –, sondern auf formalen Regeln und „gemeinsamen
Bekenntnissen“ beruht.
Diese „gemeinsamen Bekenntnisse“ beziehen sich auch nicht auf irgend
etwas Konkretes, sondern auf das, was man gemeinhin die „westlichen
Werte“ nennt; bei Lammert geht es um die „Verfassung der Freiheit“. In
der Konsequenz hält Lammert die Rede vom Volk, gar von
„Volkssouveränität“, für eine Fiktion. Was das Volk im Sinne des
Grundgesetzes sei, stehe jederzeit zur Disposition und könne demgemäß
auch jederzeit umdefiniert werden.
Bei wohlwollender Deutung könnte man sagen, daß Lammert meint, die
bestehende Ordnung rechtfertige sich durch ihr Funktionieren. Das Volk
hat seine Schuldigkeit als „pouvoir constituant“ getan, als jene Größe
nämlich, die die Verfassung schuf und dann beiseite trat, um den
politischen Profis das Feld zu überlassen und Ruhe zu geben.
Diese Argumentation ist an sich nicht neu, hat allerdings im
deutschen Fall schon den Schönheitsfehler, daß hier das Volk nach dem
Zweiten Weltkrieg niemals über seine Verfassung abgestimmt hat, auch
dann nicht, als das in Folge der Wiedervereinigung zwingend geboten
schien (Artikel 146 GG, ursprüngliche Fassung).
Aber sehen wir von solchen Kleinigkeiten ab: Denn ein größeres
Problem liegt darin, daß, wenn dem Volk schon zugestanden wird, daß es
die Verfassung „konstituiert“, ein Volk da sein muß, bevor die
Verfassung in Kraft tritt. Das heißt, es muß ein Ganzes bestehen, das
als handelnde Einheit auftreten kann, weil sich die Zugehörigen als
zugehörig erkennen.
Die Kriterien für die Zugehörigkeit mögen schwanken, aber die
Gesinnung, die „gemeinsamen Bekenntnisse“, von denen Lammert spricht,
sind kaum ausschlaggebend. Anders dagegen dieselbe Sprache, dasselbe
Herkommen, dieselbe historische Erfahrung.
Von alldem findet sich bei Lammert nichts. Kann sich nichts finden,
weil er die faktische „Multikulturalität“ anerkennt und Demokratie nicht
mehr als Volksherrschaft begreifen will, sondern als Ordnungsrahmen für
„konkurrierende Interessen und Ideen, die in einem Wettstreit nach
Mehrheiten streben“. Woher dieser Formalismus stammt, ist unschwer zu
erkennen an dem Hinweis auf Hans Kelsen in Lammerts Text.
Kelsen war der bedeutendste Vertreter des Rechtspositivismus im 20.
Jahrhundert. Sehr verkürzt könnte man sagen, daß sich für den
Rechtspositivismus die Geltung des Rechts aus seinem faktischen
Vorhandensein ergibt. Diese inhaltliche Leere ist unschwer als Problem
zu erkennen, auch wenn man sie mit irgendwelchen Werten zu füllen sucht.
Ein Schwachpunkt, auf den Kelsens Kontrahent Carl Schmitt immer wieder
hingewiesen hat.
Der kommt bei Lammert nicht vor, aber bei Claus Leggewie, dessen Text den des Bundestagspräsidenten in der FAZ
flankierte. Von Lammerts Bemühen um eine gewisse Sachlichkeit ist bei
Leggewie nichts zu spüren. Bei ihm geht es gleich mit „Faschismus“ los.
Dessen Fratze zeige sich heute in dreierlei Gestalt: „dschihadistischer
Terror“, „Cyberwar“ und „völkisch-autoritäre Revision von innen“. Dem
ersten Angreifer wird etwas, dem zweiten kaum, dem dritten besondere
Aufmerksamkeit zuteil.
Das erklärt sich daraus, daß der Politikwissenschaftler Leggewie sehr
genau weiß, welche Dynamik im Appell an „das Volk“ liegt, wie deutlich
die von Schmitt analysierten Bruchlinien zwischen demokratischem und
parlamentarischem Prinzip hervortreten, wenn eine politische Ordnung
unter Druck gerät und sich nicht die übliche Frage nach der Legalität –
der Gesetzmäßigkeit –, sondern die nach der Legitimität – der
Rechtmäßigkeit – stellt.
Dieses Wissen hat bei Leggewie aber nicht nur mit Kenntnis der
theoretischen Staatsrechtslehre zu tun, sondern auch mit persönlicher
Erfahrung. Die „offene Gesellschaft“ war nicht seine erste politische
Liebe. Die keimte und wuchs nur Stück für Stück, nachdem der
Altachtundsechziger sich zu etablieren wußte und Aufnahme fand in jene
Kreise, die er früher als Establishment verachtete. Aber die Erinnerung
an „damals“ hat das nicht ausgelöscht.
Das heißt, Leggewie erinnert sich noch sehr genau, wie mächtig das Prinzip
der „militant democracy“ wirken kann, wenn eine hinreichend
entschlossene Gruppe mit einer gewissen Aussicht auf Erfolg den
Herrschenden vorhält, die verfassungsmäßige Ordnung beseitigen zu
wollen, indem sie den Volkswillen übergeht. Gar nicht zu reden davon,
was geschehen kann, wenn die Populisten von heute anders als die von
damals tatsächlich einen erheblichen Teil des realexistierenden
deutschen Volkes auf ihre Seite bringen könnten. Karlheinz Weißmann
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