Beim Anschlag auf die Diskothek „Reina“ in Istanbul offenbarte die
türkische Regierung nicht nur eklatante Sicherheitslücken, sondern auch
ihre geistige Komplizenschaft mit dem Täter. In der Türkei wird ein
regelrechter Kreuzzug gegen vermeintlich „unislamische“ Feste und
Traditionen geführt.
Die Terroropfer von Silvester im
Nachtklub „Reina“ in Istanbul gelten, anders als bei sonstigen
Terroranschlägen in der Türkei, nicht als Märtyrer. Nach der amtlichen
Sprachregelung heißt es zu der Gräueltat: „Beim Terrorangriff auf das
‚Reina‘ ist ein Polizist, der an der Tür Wache stand, als Märtyrer
gefallen; 38 weitere Menschen kamen ums Leben.“ Für die Regierung stehen
die Opfer der Silvesterfeier in der Diskothek demnach nicht auf
derselben Stufe wie andere Terroropfer. Bisher wurden auch zivile
Terroropfer als „Märtyrer“ bezeichnet, was Folgen für die etwaige
staatliche Unterstützung für Hinterbliebene hat. Grund für die Änderung
ist, dass Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und die Regierung von
Ministerpräsident Binali Yildirim schon vor dem Terroranschlag gegen die
Silvesterfeiern als „unislamisches“ Fest gehetzt hatten. Es gab also
aus Sicht der Regierung gar keinen Grund zum Feiern in der Diskothek.
Nicht
nur den Terroristen des IS ist die westliche Feierkultur mit Tanz,
Musik und „unislamisch“ gekleideten Frauen ein Dorn im Auge, auch für
die fundamentalislamische Ideologie der türkischen Regierungspartei AKP
bedeutet das Feiern von Weihnachten und Silvester schon seit Langem
einen Rückfall in nichtislamische Sitten. Dementsprechend werden diese
Feiern und Gebräuche seit Jahren mehr und mehr bekämpft. Viele türkische
Zeitungen führten auf Geheiß der Regierung im Dezember einen
regelrechten Propaganda-Krieg gegen das Neujahrsfeiern und gegen den
türkischen „Papa Noël“, der an diesem Tag vielen Kindern in der Türkei
die Geschenke bringt.
In früheren Jahren hatte man diese seit den
1950er Jahren aufgekommene Tradition noch geduldet, aber in letzter Zeit
wird der Angriff der AKP auf die angeblich unislamischen Gewohnheiten
in der türkisch-säkularen Gesellschaft immer stärker. In einer
systematischen Stimmungsmache gegen die allzu abendländische gute Laune
wird schon seit Jahren von Stadtverwaltungen, die von der
Regierungspartei AKP getragen werden, darauf hingewiesen, dass dies
christlich-europäische und nicht türkische Traditionen seien.
Silvester
erfreut sich jedoch bei säkularen Türken, bei Kindern und in der
Geschäftswelt großer Beliebtheit, man macht sich Geschenke, es gibt
bereits türkische „Papa Noël“-Lieder und man feiert ausgelassen. Deshalb
haben vor allem die Schulbehörden in den letzten Jahren die Schulen
angewiesen, jegliche Weihnachts- oder Silvesterfeiern zu untersagen.
Auch das Präsidium des Amtes für Religionsangelegenheiten, Ditib, das
für sämtliche Moscheen des Landes sowie auch für die Ditib-Imame im
Ausland – darunter knapp 1000 in Deutschland – die Freitagspredigten
vorformuliert, macht immer mehr gegen die angebliche Verchristlichung
des türkischen Islam mobil und biegt sich den Koran zu diesem Zweck so
zurecht, wie man ihn haben will.
Der Kreuzzug gegen die
„unislamischen“ Feste geht in den sozialen Netzwerken der
Erdogan-Adepten noch weiter. Dort machte vor den Tagen des Attentats
eine gestellte „Hinrichtung des Weihnachtsmannes“ die Runde. Für viele
war das ein Omen für das, was im „Reina Club“ dann tatsächlich
passierte. Die anfangs kursierende Behauptung, der 38-fache Todesschütze
sei als Weihnachtsmann verkleidet gewesen, passte so gesehen in die
Antiweihnachtshetze in der Türkei. In Istanbuls Innenstadt und am
Bosporus-Ufer waren die Folgen dieser Hetze an Silvester bereits
spürbar. Die beliebte Fußgängermeile Istiklal mit ihren vielen Bars und
Musikschuppen und der Taksim-Platz waren nicht viel voller als an
anderen Tagen. Dennoch war die Polizei hier viel präsenter als im
„Reina“, dem größten Nachtclub des Landes mit fast 1000 Besuchern, der
nur von einem Polizisten bewacht wurde. Warum die Schutzmaßnahmen hier
so lasch waren, liegt auf der Hand.
Aber nicht nur in der Türkei hat
das Silvester-Massaker eines vermutlich aus Zentralasien stammenden
Terroristen eine seltsame Reaktion hervorgerufen. Die meisten Opfer des
Attentats stammten neben der Türkei aus Saudi-Arabien. In den Medien der
Halbinsel wurden die fünf saudischen Toten geflissentlich übergangen,
nicht nur, weil auch in der Lehre des staatlich verordneten Wahhabismus
Silvester und alle anderen westlichen Feste ein Unding sind. Übergangen
wurde auch die Tatsache, dass erstmals bei einem fundamentalislamischen
Attentat unter den Opfern Araber und eine Israelin waren. Das durfte
nach saudischer Lesart überhaupt nicht sein. Juden und Israelis haben
kein Einreiserecht in Saudi-Arabien und dürfen noch nicht einmal
Kontakte nach dort haben.
Ganz anders ist der Libanon, der letzte
laizistische Staat des Nahen Ostens, mit seinen drei Opfern umgegangen.
Sie wurden in den libanesischen Medien als wahre Nationalhelden
hervorgehoben und ins Gedächtnis der Menschen gerufen. Dabei handelte es
sich um zwei christliche und ein muslimisches Opfer. Bodo Bost
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