Im Erzgebirge ticken die Uhren anders als in den Metropolen des
Landes. In Annaberg-Buchholz werben Auslagen in den Geschäften damit,
noch Anker für die DDR-Bohrmaschine HBM480 am Lager zu haben oder bieten
Klöppelpappen feil, selbst eine Plisseebrennerei ist hier noch zu
finden.
Auf Heckscheibenaufklebern örtlicher Kleinwagen liest man:
„Deitsch un frei wolln mr sei, weil mr Arzgebirger sei!“ oder schlicht:
„Saurkrauts“. An den Masten der Straßenlaternen kleben statt »FCK
NZS«-Aufklebern kopierte Zettel, die zum gemeinsamen Bibelstudium
einladen.
Hier, wo Dunkeldeutschland am finstersten ist, hatte „Pro Choice
Sachsen“, laut Selbstbeschreibung ein Bündnis feministischer und
antirassistischer Gruppen, für den vergangenen Montag zur
Entscheidungsschlacht gerufen: Mit Bussen aus Berlin, Dresden und
Leipzig wurden zwei- bis dreihundert Demonstranten in das beschauliche
Städtchen gefahren, um – so die Zielsetzung der Veranstalter – den 7.
„Schweigemarsch für das Leben“ eines sächsischen Lebensrechtsverbandes
zu stören und „mit allen Mitteln“ zu verhindern.
Immerhin: Die Sache war
so hoch priorisiert, daß man dafür sogar den rituellen Protest gegen
die gleichzeitige Legida-Demonstration in Leipzig fahrenließ.
„Hilfe zum Leben statt Hilfe zum Töten“ und „Willkommenskultur auch
für Ungeborene“ forderten die Lebensrechtler; für die linken Gruppen der
Gegenseite offensichtlich eine unerträgliche Provokation. Etwa sechs-
bis achthundert Teilnehmer aller Alterskohorten hatten sich zum
Schweigemarsch am Erzgebirgsklinikum eingefunden, sie rekrutierten sich
hauptsächlich aus den pietistischen Gruppen des sächsischen „Bible
Belts“.
Und auch wenn die Aktivisten der Gegenseite nichts unversucht ließen,
die Lebensrechtler unter der Klammer „reaktionäre und rechte
Bewegungen“ irgendwie in die Nähe von Flüchtlingsheimanzündern zu
rücken: hier lief buchstäblich die Mitte der Gesellschaft.
Langsam schob
sich der Zug durch die Straßen und Gäßchen zur Annenkirche, nur zweimal
gelang es kleinen Stoßtrupps der Gegendemonstranten, aus Nebenstraßen
zu brechen und in die Nähe zu gelangen: Die Polizei, die beide
Demonstrationen mit großem Aufgebot absicherte, hatte die Störer
innerhalb von Sekunden isoliert, kaum konnten sie im gesamten Zug
wahrgenommen werden.
Zur Abschlußkundgebung der Lebensrechtler standen sich beide Gruppen
schließlich auf Rufweite gegenüber. Der rheinische Publizist Martin Lohmann sprach über die Heuchelei einer Gesellschaft, die dem Shreddern
von Küken mit mehr Empörung begegnet als dem Zerstückeln des eigenen
Nachwuchses und forderte Solidarität mit den Schwächsten der
Gesellschaft, den Kranken, den Alten, Behinderten und eben auch den
Ungeborenen; eine Ungeheuerlichkeit, die von der Gegenseite mit „Halt
die Fresse“-Rufen quittiert wurde.
Es war nicht leicht, aus der Kakophonie der autonomistisch
unkoordinierten Sprechchöre der Linken Inhalte zu separieren, soviel
aber doch: „Deutschland ist Scheiße, ihr seid die Beweise“ und: „Wir
ham’ Spaß und ihr habt nur Jesus“, „Make feminism a thread“ forderte die
„Interventionistische Linke“ auf einem Transparent, die „Linksjugend
Solid Berlin“ warb für „Periods against patriarchy“. Obstreste und
gebrauchte, vielleicht auch nur rotgefärbte Tampons wurden in Richtung
der Lebensrechtler geworfen, freilich landeten sie im Polizeikordon, der
die Gruppen trennte.
Ernsthaft behindern konnten die Gegendemonstranten weder den
Schweigemarsch noch dessen Abschlußkundgebung; das Erzgebirge ist nicht
Berlin, ist nicht Wackersdorf, und ohne organisierten
Demonstrationstourismus hätte es hier überhaupt keinen Widerstand gegen
die Lebensrechtler gegeben. Aber man hat wohl doch ein wenig Gefallen
aneinander gefunden: Beide Gruppen wollen sich am 17. September in
Berlin wiedersehen.
Nach Ende der Lebensrechtskundgebung zog die Linke zum Markt weiter,
um ihrerseits noch eine Schlußversammlung abzuhalten, richtiger wohl:
ihre Abschlußparty. Man hatte einen Lautsprecherwagen dabei und
natürlich die coolere Musik als die Lebensrechtler und zur Gaudi der
Passanten wurden Grußworte in Englisch und Polnisch verlesen.
Langsam geht die Sonne unter, die Antifa ist nur noch mäßig
motiviert. Heiser macht man sich auf den Heimweg, wie Tumbleweeds durch
die Prärie rollen noch ein paar einsame Luftballons über den Annaberger
Markt. „Keep your rosaries off my ovaries“ ist mit Filzstift auf den
einen geschrieben, „Sexisten gibt’s in jeder Stadt, bildet Banden, macht
sie platt“ auf den anderen. Dann ist der Spuk vorbei. JF
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