Sonntagfrüh, neun Uhr. Es
regnet in Strömen in Paris. Boualem Sansal, 66, hat trotzdem die Metro
genommen. Wir treffen uns in meinem stillen Büro in einem Hinterhof im
Marais. "Schön haben Sie's hier", sagt er, dann setzt er sich an den
runden Tisch, um eine Welt zu beschreiben, in der es keine Schönheit
mehr gibt, nur noch Fanatismus. Seinen Pferdeschwanz, mit dem er wie ein
Indianer aussah, hat er abgeschnitten. Gestern war er in Warschau,
morgen zieht er schon wieder weiter. Noch nie, erzählt er, sei er wegen
eines Buches so lange unterwegs gewesen. Er schaffe es kaum noch nach
Hause in Algerien. "2084. Das Ende der Welt" ist der Titel seines
jüngsten Romans. Nach dem Vorbild von Orwells "1984" beschreibt Boualem
eine Glaubensdiktatur. Es ist der radikale Islam, der die Macht
übernommen und alle Erinnerungen an die Zeit davor ausgelöscht hat.
Welt am Sonntag: Monsieur Sansal, Ihr Buch ist sehr düster. Bei Orwell gibt es wenigstens eine Liebesgeschichte.
Boualem Sansal: Ich
wollte auch etwas Aufmunterndes. Aber in dieser Welt des Islamismus
wäre die Liebe unglaubwürdig gewesen. Orwell mag ein atheistischer
Kommunist gewesen sein, sein Vorstellungsvermögen war christlich
geprägt. Im Christentum strukturiert die Liebe das Leben.
Welt am Sonntag: Sie strukturiert nicht nur das Leben, sondern auch die Religion selbst.
Sansal: Die
Idee der Erlösung durch Liebe ist allgegenwärtig im christlichen
Universum. Im islamischen gibt es nur die Mutterliebe, die Liebe zu
Gott. In der Liebe verstecken sich die Frauen. Die Frau selbst spielt
keine Rolle. Die Liebe ist ja gerade das, was der Islam bekämpft.
Welt am Sonntag: Obwohl
Ihr Buch keine vergnügliche Lektüre ist, hat es sich allein in
Frankreich über 300.000-mal verkauft. Wie erklären Sie sich diesen
Erfolg?
Sansal: Die
Menschen wachen auf. Sie machen sich klar, dass die Islamisierung kein
lokales Phänomen ist, sondern ganz Europa betrifft. Wir haben alle Angst
– auch wenn es nicht alle zugeben wollen.
Welt am Sonntag: Was war es für eine Erfahrung, ein so düsteres Buch zu schreiben?
Sansal: Weder
schmerzhaft noch lustvoll. Ich bin Wissenschaftler und betrachte die
Dinge wie ein Verhaltensforscher. Hin und wieder kann mich etwas
bewegen, aber dann bringe ich mich zur Vernunft. Man muss den Dingen ins
Gesicht sehen, ohne sich etwas vorzumachen.
Welt am Sonntag: Wie liest ein Muslim dieses Buch?
Sansal: Ein
Muslim wie ich, der nicht gläubig, aber in einem muslimischen Land
aufgewachsen ist, liest es vermutlich wie Sie und ich. Sie täuschen sich
im Westen, wenn Sie glauben, die Muslime seien alle Islamisten. Sie
haben mehr Angst vorm Islamismus als die Menschen im Westen.
Welt am Sonntag: Seit den Attentaten in Paris und Brüssel fürchtet sich der Westen auch.
Sansal: Sicher. Das war ja nur der Anfang.
Welt am Sonntag: Eine Art Weckruf?
Sansal: Ja.
Nach dem Attentat auf "Charlie Hebdo" war das anders. Die Mehrheit
konnte Verständnis dafür aufbringen. Die hatten ja schließlich
Gotteslästerung betrieben. Sie sagten, es sei nicht rechtens zu töten,
aber schaut, was die gemacht haben...
Welt am Sonntag: Sie haben es provoziert wie das Mädchen im kurzen Rock seine Vergewaltigung?
Sansal: Ja,
und wegen dieser Logik haben die Attentate im Januar die Menschen nicht
wachgerüttelt. Das Bataclan hingegen war eine islamistische Attacke,
weil man den anderen angegriffen hat für das, was er war, für seine
Kultur, für seinen Lebensstil. Das war ein Ort für junge Leute, wie die
Bars, das Stadion, Orte, die den Westen ausmachen. Aber diesen Prozess
der Bewusstmachung wollen die Islamisten ja gerade provozieren. Sie
wissen, dass sie den Westen militärisch nicht besiegen können. Sie
können nicht mal die schwachen arabischen Staaten besiegen. Also müssen
sie den Westen dazu bringen, sich selbst zu zerstören. Sie wollen die
Gesellschaft spalten, und sie wissen: Wenn ihnen das gelingt, fällt sie
ganz von allein in sich zusammen.
Welt am Sonntag: Es
gibt in Frankreich rechtspopulistische Intellektuelle, die die Theorie
vom "grand remplacement" vertreten, der Verdrängung der
abendländisch-christlichen Zivilisation durch den Islam. Im Grunde sagen
Sie dasselbe. Worin besteht der Unterschied?
Sansal: Ich
finde den Ausdruck unglücklich. Es geht ja nicht darum, die Bevölkerung
zu ersetzen, sondern um eine Art Fusion: Frankreich ist dabei, sich zu
islamisieren.
Welt am Sonntag: Aber eigentlich stimmen Sie denen zu. Geht unsere Kultur unter?
Sansal: Als
Demokrat sehe ich unsere Zivilisation mit großem Bedauern untergehen,
denn sie hat die Menschheit vorangebracht – auch wenn uns ihre Exzesse
längst schaden.
Welt am Sonntag: Warum
bleiben Sie in Algerien, warum sind Sie in den Neunzigerjahren
geblieben, als Ihr Leben wegen Ihrer Kritik an den dortigen
Verhältnissen bedroht war?
Sansal: Ich leiste Widerstand.
Welt am Sonntag: Bekommt man Ihr Buch in Algerien?
Sansal: Inzwischen
schon, aber das hat mehrere Monate gedauert. Die Leute dachten anfangs,
es sei verboten. Man hat es sich unter dem Tisch weitergereicht. Ab
Januar war es plötzlich überall. Wobei überall das falsche Wort ist: in
den wenigen Buchhandlungen, die es noch gibt. Nach der Unabhängigkeit
gab es 150 Kinos und 250 Buchläden in Algerien. Heute gibt es kein
einziges Kino mehr und vielleicht vier, fünf Buchläden in Algier. Dafür
hat sich die Zahl der Moscheen vertausendfacht.
Welt am Sonntag: Wir haben eine Million vorwiegend muslimische Flüchtlinge aufgenommen. Wie ist Ihre Prognose für Deutschland?
Sansal: Deutschland war komplett naiv. Und langfristig ist Deutschland das Land, das am meisten bedroht ist.
Welt am Sonntag: Inwiefern naiv?
Sansal: Weil
sich Deutschland lange Zeit eingebildet hat, von den Problemen nicht
betroffen zu sein. Der Islam, der war in Frankreich, in Großbritannien,
aber bei uns doch nicht! Und dann ist Deutschland aufgrund der
Kriegserfahrung eine extrem tolerante Gesellschaft. Das wird ausgenutzt.
Als die algerischen Islamisten verjagt wurden, haben sie in Deutschland
Unterschlupf gefunden, da wurden sie als politische Flüchtlinge
anerkannt.
Welt am Sonntag: Welche
Belege würden Sie dafür geben, dass dieser Krieg der Kulturen bereits
in Gang ist, auch in Deutschland, dass die Islamisierung der
Gesellschaft voranschreitet?
Sansal: Der
deutlichste Beweis ist das "Bataclan". Sie haben keine Kaserne
attackiert, sondern ein Konzerthaus, weil sie keine klassische
Machtübernahme wollen, sondern einen Kampf der Kulturen
führen. Zweitens sollte man einfach mal einen Blick auf die arabische
Welt werfen, wo dieser Kampf ganz einhellig und ungestört geführt wird.
Was Deutschland betrifft, bin ich nicht so sicher, was passiert. Der
türkische Islam ist nicht mit dem maghrebinischen zu vergleichen. Die
Türken, die in den Siebzigerjahren nach Deutschland kamen, haben sofort
in der Industrie gearbeitet. In Frankreich hat man die Einwanderer sich
selbst überlassen. Man hat Algerier, Togolesen einfach vermischt, und
sie hausten anfangs unter unmenschlichen Bedingungen.
Welt am Sonntag: In der Türkei erleben wir mit Erdogan gerade die Islamisierung der Gesellschaft. Wie sehen Sie die Entwicklung?
Sansal: Die Rückkehr des Religiösen, vor allem bei den jungen Leuten, kontaminiert die ganze Gesellschaft – und das wird bald auch in Deutschland zu spüren sein.
Welt am Sonntag: Wir haben diese Einmischung und, wenn man so will, Kontaminierung gerade mit der Böhmermann-Affäre erlebt.
Sansal: Erdogan
benimmt sich wie ein Kalif, die Türken verhalten sich wie Untertanen,
und einen Palast hat er sich auch schon gebaut. Das Osmanische Reich war
zweifellos das gewalttätigste Kalifat der islamischen Welt. Derzeit
erleben wir eine Rückkehr dieser Gewalt. Erdogan will das Kalifat wieder
aufbauen, aber er weiß, dass die Araber dies niemals akzeptieren
würden. Vielleicht stellt er sich vor, sein Reich nach Europa
auszudehnen. Aus diesem Grund ist Deutschland am meisten bedroht.
Welt am Sonntag: Sie meinen wegen der Türken oder wegen der Flüchtlinge?
Sansal: Weder
noch. Weil alle Europäer Ressentiments gegen Deutschland hegen.
Deutschland ist reich, einflussreich, außerordentlich gut organisiert.
Die Leute träumen von nichts anderem als dem Absturz Deutschlands. Ein
Albtraum ergänzt den anderen. Und Erdogans Albträume teilen in Wahrheit
viele Europäer.
Welt am Sonntag: Wenn
man das zu Ende denkt, hieße das ja: Wir würden unter Erdogans Kalifat
in Deutschland leben. Das klingt vollkommen absurd. Ist Europa dermaßen
am Ende?
Sansal: Ja. Es hat keinerlei Zukunft mehr.
Welt am Sonntag: Können Sie in Europa noch sagen, was Sie denken?
Sansal: Nein.
Das ist vorbei. Auf der einen Seite lädt man mich ein, weil man das
Bedürfnis hat, auch andere Meinungen zu hören, die nicht politisch
korrekt sind. Gleichzeitig hat man Angst, dass ich Ärger mache.
Welt am Sonntag: Was dürfen Sie nicht sagen?
Sansal: Das
sagt Ihnen keiner, das ist viel subtiler. Aber alles, was den Islam
kritisiert, macht Probleme. Als ob man heute alles kritisieren darf,
sogar Gott, aber nicht den Islam.
Welt am Sonntag: Sind Sie islamophob, Monsieur Sansal?
Sansal: Nicht
in dem Sinne, wie das Wort gebraucht wird. Ich mag den Islam nicht, ich
glaube nicht daran, und ich stelle fest, dass er nicht nur eine Gefahr,
sondern eine enorme Gefahr ist. Er wird unsere Gesellschaft
aufsprengen.
Welt am Sonntag: Ihr
Kollege Kamel Daoud hat für große Aufregung gesorgt, weil er die jungen
Muslime, die in der Silvesternacht in Köln Frauen angegriffen haben,
als sexuell unterdrückt beschrieben hat. Stimmen Sie ihm zu?
Sansal: Daoud
lebt in Algerien und erlebt solche Situationen täglich. Es ist eine
Gesellschaft der Frustrationen, nicht nur der sexuellen. Ein junger
Muslim, der plötzlich mit einer freien Gesellschaft konfrontiert ist,
interpretiert eine Frau, die ihren Körper zeigt, falsch.
Welt am Sonntag: Fehlen uns die Überzeugung und der Mut, unsere Werte zu verteidigen?
Sansal: Die
Islamisten kämpfen sehr mutig für das, woran sie glauben. Allein das
muss man ihnen zugutehalten. Was uns betrifft, muss ich leider sagen: Es
gibt nichts, was uns antreibt. Für das Wort Freiheit wären wir früher
ans andere Ende der Welt gegangen. Heute ist es hohl.
Welt am Sonntag: Das stimmt nicht. Nach dem Attentat auf "Charlie Hebdo" sind Millionen für die Meinungsfreiheit auf die Straße gegangen.
Sansal: Das
war nichts weiter als eine spontane Gefühlsreaktion. Das hatte keinen
Wert außer dem, die Staatschefs in Szene zu setzen. Allen voran dieser
arme Hollande, der keiner Fliege etwas antun würde. In Algerien haben
wir gesehen, was die Menschen machen, wenn sie von den Gefühlen
überrollt werden: sinnloses, kollektives Geheule.
Welt am Sonntag: Müssen wir den Titel Ihres Buches wörtlich nehmen: "Ende der Welt", keine Hoffnung nirgends?
Sansal: Wissen
Sie, manchmal reicht eine Kleinigkeit, eine Idee, ein Satz, und die
Dinge nehmen eine andere Wendung. In Algerien waren es die Worte des
Schriftstellers Tahar Djaout, die wie ein fantastisches Lauffeuer durchs
Land gingen. Den Menschen fiel es wie Schuppen von den Augen. Er hatte
recht. Seine Worte machten Mut.
Welt am Sonntag: Was hatte er gesagt?
Sansal: Mit
seinem bescheidenen Lächeln sagte er in einem Interview: "Wenn du
redest, stirbst du. Wenn du nicht redest, stirbst du auch. Also sprich
und stirb." Eine Woche später haben sie ihn ermordet. Martina Meister
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