Stationen

Freitag, 3. Juni 2016

Boualem Sansal

Sonntagfrüh, neun Uhr. Es regnet in Strömen in Paris. Boualem Sansal, 66, hat trotzdem die Metro genommen. Wir treffen uns in meinem stillen Büro in einem Hinterhof im Marais. "Schön haben Sie's hier", sagt er, dann setzt er sich an den runden Tisch, um eine Welt zu beschreiben, in der es keine Schönheit mehr gibt, nur noch Fanatismus. Seinen Pferdeschwanz, mit dem er wie ein Indianer aussah, hat er abgeschnitten. Gestern war er in Warschau, morgen zieht er schon wieder weiter. Noch nie, erzählt er, sei er wegen eines Buches so lange unterwegs gewesen. Er schaffe es kaum noch nach Hause in Algerien. "2084. Das Ende der Welt" ist der Titel seines jüngsten Romans. Nach dem Vorbild von Orwells "1984" beschreibt Boualem eine Glaubensdiktatur. Es ist der radikale Islam, der die Macht übernommen und alle Erinnerungen an die Zeit davor ausgelöscht hat.
Welt am Sonntag: Monsieur Sansal, Ihr Buch ist sehr düster. Bei Orwell gibt es wenigstens eine Liebesgeschichte.
Boualem Sansal: Ich wollte auch etwas Aufmunterndes. Aber in dieser Welt des Islamismus wäre die Liebe unglaubwürdig gewesen. Orwell mag ein atheistischer Kommunist gewesen sein, sein Vorstellungsvermögen war christlich geprägt. Im Christentum strukturiert die Liebe das Leben.
Welt am Sonntag: Sie strukturiert nicht nur das Leben, sondern auch die Religion selbst.
Sansal: Die Idee der Erlösung durch Liebe ist allgegenwärtig im christlichen Universum. Im islamischen gibt es nur die Mutterliebe, die Liebe zu Gott. In der Liebe verstecken sich die Frauen. Die Frau selbst spielt keine Rolle. Die Liebe ist ja gerade das, was der Islam bekämpft.
Welt am Sonntag: Obwohl Ihr Buch keine vergnügliche Lektüre ist, hat es sich allein in Frankreich über 300.000-mal verkauft. Wie erklären Sie sich diesen Erfolg?
Sansal: Die Menschen wachen auf. Sie machen sich klar, dass die Islamisierung kein lokales Phänomen ist, sondern ganz Europa betrifft. Wir haben alle Angst – auch wenn es nicht alle zugeben wollen.
Welt am Sonntag: Was war es für eine Erfahrung, ein so düsteres Buch zu schreiben?
Sansal: Weder schmerzhaft noch lustvoll. Ich bin Wissenschaftler und betrachte die Dinge wie ein Verhaltensforscher. Hin und wieder kann mich etwas bewegen, aber dann bringe ich mich zur Vernunft. Man muss den Dingen ins Gesicht sehen, ohne sich etwas vorzumachen.
Welt am Sonntag: Wie liest ein Muslim dieses Buch?
Sansal: Ein Muslim wie ich, der nicht gläubig, aber in einem muslimischen Land aufgewachsen ist, liest es vermutlich wie Sie und ich. Sie täuschen sich im Westen, wenn Sie glauben, die Muslime seien alle Islamisten. Sie haben mehr Angst vorm Islamismus als die Menschen im Westen.
Welt am Sonntag: Seit den Attentaten in Paris und Brüssel fürchtet sich der Westen auch.
Sansal: Sicher. Das war ja nur der Anfang.
Welt am Sonntag: Eine Art Weckruf?
Sansal: Ja. Nach dem Attentat auf "Charlie Hebdo" war das anders. Die Mehrheit konnte Verständnis dafür aufbringen. Die hatten ja schließlich Gotteslästerung betrieben. Sie sagten, es sei nicht rechtens zu töten, aber schaut, was die gemacht haben...
Welt am Sonntag: Sie haben es provoziert wie das Mädchen im kurzen Rock seine Vergewaltigung?
Sansal: Ja, und wegen dieser Logik haben die Attentate im Januar die Menschen nicht wachgerüttelt. Das Bataclan hingegen war eine islamistische Attacke, weil man den anderen angegriffen hat für das, was er war, für seine Kultur, für seinen Lebensstil. Das war ein Ort für junge Leute, wie die Bars, das Stadion, Orte, die den Westen ausmachen. Aber diesen Prozess der Bewusstmachung wollen die Islamisten ja gerade provozieren. Sie wissen, dass sie den Westen militärisch nicht besiegen können. Sie können nicht mal die schwachen arabischen Staaten besiegen. Also müssen sie den Westen dazu bringen, sich selbst zu zerstören. Sie wollen die Gesellschaft spalten, und sie wissen: Wenn ihnen das gelingt, fällt sie ganz von allein in sich zusammen.
Welt am Sonntag: Es gibt in Frankreich rechtspopulistische Intellektuelle, die die Theorie vom "grand remplacement" vertreten, der Verdrängung der abendländisch-christlichen Zivilisation durch den Islam. Im Grunde sagen Sie dasselbe. Worin besteht der Unterschied?
Sansal: Ich finde den Ausdruck unglücklich. Es geht ja nicht darum, die Bevölkerung zu ersetzen, sondern um eine Art Fusion: Frankreich ist dabei, sich zu islamisieren.
Welt am Sonntag: Aber eigentlich stimmen Sie denen zu. Geht unsere Kultur unter?
Sansal: Als Demokrat sehe ich unsere Zivilisation mit großem Bedauern untergehen, denn sie hat die Menschheit vorangebracht – auch wenn uns ihre Exzesse längst schaden.
Welt am Sonntag: Warum bleiben Sie in Algerien, warum sind Sie in den Neunzigerjahren geblieben, als Ihr Leben wegen Ihrer Kritik an den dortigen Verhältnissen bedroht war?
Sansal: Ich leiste Widerstand.
Welt am Sonntag: Bekommt man Ihr Buch in Algerien?
Sansal: Inzwischen schon, aber das hat mehrere Monate gedauert. Die Leute dachten anfangs, es sei verboten. Man hat es sich unter dem Tisch weitergereicht. Ab Januar war es plötzlich überall. Wobei überall das falsche Wort ist: in den wenigen Buchhandlungen, die es noch gibt. Nach der Unabhängigkeit gab es 150 Kinos und 250 Buchläden in Algerien. Heute gibt es kein einziges Kino mehr und vielleicht vier, fünf Buchläden in Algier. Dafür hat sich die Zahl der Moscheen vertausendfacht.
Welt am Sonntag: Wir haben eine Million vorwiegend muslimische Flüchtlinge aufgenommen. Wie ist Ihre Prognose für Deutschland?
Sansal: Deutschland war komplett naiv. Und langfristig ist Deutschland das Land, das am meisten bedroht ist.
Welt am Sonntag: Inwiefern naiv?
Sansal: Weil sich Deutschland lange Zeit eingebildet hat, von den Problemen nicht betroffen zu sein. Der Islam, der war in Frankreich, in Großbritannien, aber bei uns doch nicht! Und dann ist Deutschland aufgrund der Kriegserfahrung eine extrem tolerante Gesellschaft. Das wird ausgenutzt. Als die algerischen Islamisten verjagt wurden, haben sie in Deutschland Unterschlupf gefunden, da wurden sie als politische Flüchtlinge anerkannt.
Welt am Sonntag: Welche Belege würden Sie dafür geben, dass dieser Krieg der Kulturen bereits in Gang ist, auch in Deutschland, dass die Islamisierung der Gesellschaft voranschreitet?
Sansal: Der deutlichste Beweis ist das "Bataclan". Sie haben keine Kaserne attackiert, sondern ein Konzerthaus, weil sie keine klassische Machtübernahme wollen, sondern einen Kampf der Kulturen führen. Zweitens sollte man einfach mal einen Blick auf die arabische Welt werfen, wo dieser Kampf ganz einhellig und ungestört geführt wird. Was Deutschland betrifft, bin ich nicht so sicher, was passiert. Der türkische Islam ist nicht mit dem maghrebinischen zu vergleichen. Die Türken, die in den Siebzigerjahren nach Deutschland kamen, haben sofort in der Industrie gearbeitet. In Frankreich hat man die Einwanderer sich selbst überlassen. Man hat Algerier, Togolesen einfach vermischt, und sie hausten anfangs unter unmenschlichen Bedingungen.
Welt am Sonntag: In der Türkei erleben wir mit Erdogan gerade die Islamisierung der Gesellschaft. Wie sehen Sie die Entwicklung?
Sansal: Die Rückkehr des Religiösen, vor allem bei den jungen Leuten, kontaminiert die ganze Gesellschaft – und das wird bald auch in Deutschland zu spüren sein.
Welt am Sonntag: Wir haben diese Einmischung und, wenn man so will, Kontaminierung gerade mit der Böhmermann-Affäre erlebt.
Sansal: Erdogan benimmt sich wie ein Kalif, die Türken verhalten sich wie Untertanen, und einen Palast hat er sich auch schon gebaut. Das Osmanische Reich war zweifellos das gewalttätigste Kalifat der islamischen Welt. Derzeit erleben wir eine Rückkehr dieser Gewalt. Erdogan will das Kalifat wieder aufbauen, aber er weiß, dass die Araber dies niemals akzeptieren würden. Vielleicht stellt er sich vor, sein Reich nach Europa auszudehnen. Aus diesem Grund ist Deutschland am meisten bedroht.
Welt am Sonntag: Sie meinen wegen der Türken oder wegen der Flüchtlinge?
Sansal: Weder noch. Weil alle Europäer Ressentiments gegen Deutschland hegen. Deutschland ist reich, einflussreich, außerordentlich gut organisiert. Die Leute träumen von nichts anderem als dem Absturz Deutschlands. Ein Albtraum ergänzt den anderen. Und Erdogans Albträume teilen in Wahrheit viele Europäer.
Welt am Sonntag: Wenn man das zu Ende denkt, hieße das ja: Wir würden unter Erdogans Kalifat in Deutschland leben. Das klingt vollkommen absurd. Ist Europa dermaßen am Ende?
Sansal: Ja. Es hat keinerlei Zukunft mehr.
Welt am Sonntag: Können Sie in Europa noch sagen, was Sie denken?
Sansal: Nein. Das ist vorbei. Auf der einen Seite lädt man mich ein, weil man das Bedürfnis hat, auch andere Meinungen zu hören, die nicht politisch korrekt sind. Gleichzeitig hat man Angst, dass ich Ärger mache.
Welt am Sonntag: Was dürfen Sie nicht sagen?
Sansal: Das sagt Ihnen keiner, das ist viel subtiler. Aber alles, was den Islam kritisiert, macht Probleme. Als ob man heute alles kritisieren darf, sogar Gott, aber nicht den Islam.
Welt am Sonntag: Sind Sie islamophob, Monsieur Sansal?
Sansal: Nicht in dem Sinne, wie das Wort gebraucht wird. Ich mag den Islam nicht, ich glaube nicht daran, und ich stelle fest, dass er nicht nur eine Gefahr, sondern eine enorme Gefahr ist. Er wird unsere Gesellschaft aufsprengen.
Welt am Sonntag: Ihr Kollege Kamel Daoud hat für große Aufregung gesorgt, weil er die jungen Muslime, die in der Silvesternacht in Köln Frauen angegriffen haben, als sexuell unterdrückt beschrieben hat. Stimmen Sie ihm zu?
Sansal: Daoud lebt in Algerien und erlebt solche Situationen täglich. Es ist eine Gesellschaft der Frustrationen, nicht nur der sexuellen. Ein junger Muslim, der plötzlich mit einer freien Gesellschaft konfrontiert ist, interpretiert eine Frau, die ihren Körper zeigt, falsch.
Welt am Sonntag: Fehlen uns die Überzeugung und der Mut, unsere Werte zu verteidigen?
Sansal: Die Islamisten kämpfen sehr mutig für das, woran sie glauben. Allein das muss man ihnen zugutehalten. Was uns betrifft, muss ich leider sagen: Es gibt nichts, was uns antreibt. Für das Wort Freiheit wären wir früher ans andere Ende der Welt gegangen. Heute ist es hohl.
Welt am Sonntag: Das stimmt nicht. Nach dem Attentat auf "Charlie Hebdo" sind Millionen für die Meinungsfreiheit auf die Straße gegangen.
Sansal: Das war nichts weiter als eine spontane Gefühlsreaktion. Das hatte keinen Wert außer dem, die Staatschefs in Szene zu setzen. Allen voran dieser arme Hollande, der keiner Fliege etwas antun würde. In Algerien haben wir gesehen, was die Menschen machen, wenn sie von den Gefühlen überrollt werden: sinnloses, kollektives Geheule.
Welt am Sonntag: Müssen wir den Titel Ihres Buches wörtlich nehmen: "Ende der Welt", keine Hoffnung nirgends?
Sansal: Wissen Sie, manchmal reicht eine Kleinigkeit, eine Idee, ein Satz, und die Dinge nehmen eine andere Wendung. In Algerien waren es die Worte des Schriftstellers Tahar Djaout, die wie ein fantastisches Lauffeuer durchs Land gingen. Den Menschen fiel es wie Schuppen von den Augen. Er hatte recht. Seine Worte machten Mut.
Welt am Sonntag: Was hatte er gesagt?
Sansal: Mit seinem bescheidenen Lächeln sagte er in einem Interview: "Wenn du redest, stirbst du. Wenn du nicht redest, stirbst du auch. Also sprich und stirb." Eine Woche später haben sie ihn ermordet.   Martina Meister

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