Stationen

Dienstag, 7. Juni 2016

Pfadfindung



Das Hamburger Viertel St. Georg, zwischen Hauptbahnhof und Außenalster gelegen, hat seit seiner Gründung 1194 einen zweifelhaften Ruf. Alles, was man nicht so gern mitten in der Stadt hat, siedelte man vor den Toren an, so etwa das Pest- und Leprosenhaus, den Armenfriedhof sowie die Hinrichtungsstätte.
In der Koppel, parallel zur Langen Reihe, wohnte rund fünfzig Jahre lang meine Urgroßtante Emmy in einem altertümlichen Mietshaus. Zehn Zentimeter hinter der Haustür verblüffte eine Art Hühnerleiter den Eintretenden. Eine echt holländische Treppe mit einem Neigungswinkel von etwa sechzig Grad. Ich hatte als kleines Mädchen keine Angst, auf hohe Bäume zu klettern, aber vor dieser Treppe hatte ich Respekt. Auf der sicheren Seite war man, wenn man sich an den Stufen festhielt. Dann ging es vier Stockwerke hinauf.
Urgroßtante Emmy wohnte unterm Dachjucheh in zwei Zimmern und einer Küche mit Oberlicht. Faszinierenderweise war da noch eine kleine Kammer, die sich durch ein Fenster zum Treppenhaus auszeichnete. Ein Bad gab es nicht. Auch kein heißes Wasser. Wie gesagt, sie wohnte fünfzig Jahre dort. Berührungsängste, zum Beispiel mit den vielen Straßenhuren, die fraglos die hässlichsten von ganz Hamburg sind, hatte Tante Emmy nicht. Ich erinnere mich noch an freundliche kleine Konversationen, die meine Tante mit den Bordsteinschwalben führte: Magst denn noch, Erna? Näääh, Tante Emmy…

Dann, irgendwann in den Achtzigern, begann die Gentrifizierung. Das Haus mit der gemeingefährlichen Treppe wurde, wie viele andere, zu schickem Eigentumswohnungsbestand, und wo früher Arbeiter, Handwerker und kleine Angestellte wohnten, zog die urbane Tofu-Elite ein. Mittlerweile ist das Viertel durch zwei Bevölkerungsschichten geprägt, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Mit der Langen Reihe hat St. Georg das Schwulenviertel der Stadt, eine beliebte Touristenmeile mit vielen Cafés, kleinen, guten Restaurants, Boutiquen und Touristenschnickschnackläden und Biosupermärkten, deren Ausdünstungen einem jeden Lebensmut nehmen können. Ein oder zwei uralte Fachwerkhäuser stehen hier noch, auch das Haus, in dem Hans Albers geboren wurde. Und in der Apotheke zum Ritter St. Georg trifft man gelegentlich Peggy Parnass.

Fünf Gehminuten später am Steindamm ist man mitten in der Hamburger Islamistenszene. Mit anderen Worten, es siedelt in St. Georg immer noch das Volk, das man nicht so gern mitten in der Stadt hat. Nicht weniger als elf Gebetsstätten gibt es hier, davon eine sogar seit neuerem mit Muezzinruf. Die Tatsache, dass sie offiziell eingetragene Vereine mit der Bezeichnung „Bildungsstätte“ oder „Kulturverein“ sind, ändert nichts an der Tatsache, dass es sich um Moscheen handelt. Einige davon werden seit etlichen Jahren vom Verfassungsschutz beobachtet, die Terroristen der Anschläge auf das World Trade Center gingen hier ein und aus, in manchen fand man Schlagwaffen wie Knüppel und Eisenstangen, denn, ja, durchaus gehen auf St. Georgs Straßen auch mal Salafisten auf Kurden los oder umgekehrt.

Geschäfte mit Riesenauswahl an hervorragendem Obst und Gemüse säumen die Straße, orientalische Restaurants und Kebabschmieden. Nirgendwo außer in Harbug sieht man soviel Männer mit Rauschebart, Häkelkäppi und Pluderhosen, so viele schwarz verschleierte Frauen, von denen nur mehr die Augen zu sehen sind. Meine Frauenärztin habe ich mal gefragt, ob es sie nicht stören würde, wenn solche Patientinnen in ihrem Wartezimmer säßen. Mich störe es nämlich sehr, so sehr, dass ich einen Praxiswechsel erwogen hätte. Irgendwo müssten sie ja hin, war ihre Antwort. Und häufig seien es deutsche Konvertitinnen, die so herumliefen. Ich entgegnete, dass dieses Irgendwo-müssen sie-ja-hin diesen Frauen einen Opferstatus zuspreche, der ihnen nicht zustünde. Denn ihr Äußeres sei ein bewusst gesetzter, gezielter Schlag in mein Gesicht. Und in das Gesicht meiner Ärztin sowie aller Frauen, die nicht im Hijab herumlaufen.

Hast du keinen, kauf dir einen: Der Steindamm macht’s möglich, sich ganzkörperlich salafistisch auszustaffieren. Läden sind genug vorhanden. Schon seit Jahren. Seit Beginn des Flüchtlingszuflusses sieht es in St. Georg aus wie im englischen Bradford. Wo früher nachmittags um drei Uhr ein paar von jeglicher Arbeit offenbar unbelastete muslimische Männer herumhingen, sieht man heute aberhunderte. Wo früher mal hier und dort ein schwarzer Drogendealer stand, sieht man heute Dutzende. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, dem Augenschein nach aus Eritrea und Somalia, streifen gruppenweise durch das Viertel. Man fragt sich, wie lange diese Koexistenz zweier Parallelwelten noch gut gehen wird.

Denn sicher fühlen können sich Homosexuelle weder in „ihrem“ Viertel noch im Rest der Stadt. 2013 wurde in St. Georg ein junger Mann krankenhausreif geschlagen, nachdem ihn Unbekannte gefragt hatten, ob er schwul sei. Anwohner berichten von zunehmender Schwulenfeindlichkeit besonders bei der zweiten und dritten Generation von Deutschtürken. Am Jungfernstieg machen Gangs von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ganz gezielt Jagd auf Schwule, ohne das die Polizei irgendeinen Handlungsbedarf sieht. In der muslimischen Kultur ist Homosexualität eine Todsünde – allerdings nur für den passiven Partner. Derjenige, der mit dem Penis eindringt, gilt in dieser nicht vorhandenen Logik nicht als schwul.
Deutschland wird sich verändern, und das sei gut so, hat man uns versprochen. Das erinnert mich an den alten jiddischen Witz, wo zwei Freunde sich auf der Straße begegnen und der eine auf die Frage, wie es ihm so gehe, antwortet: Gut. Fragt der andere: Was heißt gut? Antwortet der Erste: Nu, ich bin gut arm und das Weib ist gut krank.  Antje Sievers
 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.