Politik ist das Zusammenspiel und der Ausgleich verschiedenster
Interessen. Noch immer steht die unbeantwortete Frage im Raum, welche
Interessen die deutsche Bundeskanzlerin eigentlich verfolgte, als sie
sich weigerte, die deutschen Außengrenzen zu schließen. Nach fast neun
Monaten Schweigen darf man getrost unterstellen, dass Frau Merkel völlig
interesselos handelte. Hier ging es halt um Höheres als um schnöde
Politik.
Dass wir Deutschen einen göttlichen Auftrag haben, ist ja durchaus
ein verbindendes Element zwischen den Linken, die uns Deutsche die Rolle
des ewigen Vorreiters des Guten, Schönen und Wahren zugewiesen haben,
und den Rechten, für die Deutschland der Gral einer höheren Kultur sein
soll. Vom heiligen römischen Reich deutscher Nationen bis zu Angela
Merkel führt eine fast ununterbrochene Linie, im Auftrag des Herrn
unterwegs zu sein. Spätestens seit der Gründung des deutschen Reiches
1871 sind wir Deutschen vom Selbstverständnis her moralische
Weltmeister. Andere, vor allem unsere Freunde im Ausland, erkennen darin den „morbus germanicus“. Es kommt halt auf die Perspektive an.
Auf merkwürdige Weise benötigen wir Deutschen immer eine Aufgabe, die
größer ist als unsere Interessen. Der Königsberger Philosoph Immanuel
Kant postulierte für das Empfinden der Schönheit die berühmte
Formulierung vom „interesselosen Wohlgefallen“. Zugegeben, das klingt
irgendwie entspannt, nett und sehr selbstlos, dennoch sollte man das
„interesselose Wohlgefallen“ tunlichst im Reich der Ästhetik belassen.
Denn ob es das Interesselose im Menschen wirklich gibt und als Zustand
erstrebenswert ist, oder ob es nicht vielmehr eine göttliche Kategorie
ist, die etwas Menschenverachtendes in sich trägt, ist höchst
umstritten. Denn was, bitte schön, soll der Unterschied zwischen dem
Interesselosen und der schulterzuckenden Gleichgültigkeit sein?
Spätestens seit Kant gilt dieses Interesselose jedoch als Ausweis
höchster Güte. Je interesseloser wir Menschen denken und handeln, desto
edler fühlen wir uns. Lobbyverbände, also Interessensgruppen, haben in
Deutschland einen so schlechten Leumund, dass sie an Schlechtigkeit nur
von der Mafia getoppt werden. Außer natürlich diese Interessensgruppen
sind dem Guten, Schönen und Wahren verpflichtet, also der sozialen
Gerechtigkeit, der Klimarettung oder dem Kampf gegen Rechts. Aber dann
spricht man auch nicht mehr von Lobbies, sondern von NGOs.
Zum Beweis des Interesselosen gehört es, dass das Objekt, auf das
sich das Nicht-Interesse bezieht, keinerlei lebensweltliche
Überschneidungsflächen aufweisen darf. Deutschland ist gebildet, reich,
religiös indifferent und restlos durchverwaltet. Das Interesselose muss
sich also auf das Fernstmögliche beziehen: auf das Ungebildete, Arme,
religiös Eifernde und Archaische. Zum endgültigen Ausweis des
Interesselosen wird es dann, wenn man sich auf dieses Fernstmögliche
auch noch freut, wie es Katrin Göring-Eckardt
von den Grünen - oder sollte man sagen: von der evangelischen Kirche? -
formuliert hat. Das eigene Hochmutgefühl des moralisch Besseren stellt
sich dann ganz von alleine ein. Selbstverständlich interesselos.
In einem sehr lesenswerten Gespräch zwischen dem bulgarischen
Philosophen Iwan Krastew und dem österreichischen Historiker Oliver Jens
Schmitt in der FAZ
stellt Schmitt die These auf, dass, hätte Deutschland statt einer
Million Moslems eine Million ukrainische Bürgerkriegsflüchtlinge
aufgenommen, die Welle der Begeisterung und Hilfsbereitschaft niemals so
groß gewesen wäre: „Das hat mit der Konstruktion des anderen zu tun.
Dieser andere, wie ihn die Ukrainer repräsentieren, ist uns zu nah, um
ihn zu idealisieren. Er ist nicht exotisch genug, in ihn lässt sich
nichts hineinprojizieren, er lässt sich auch weniger diskursiv und
paternalistisch kontrollieren.“
Man könnte es auch das Karl-May-Syndrom nennen, unter dem sehr, sehr
viele Deutsche leiden. Karl May, der zeitlebens ein notorischer
Hochstapler war, schrieb alle seine Bücher und Reiseberichte, für die er
weltberühmt wurde, ohne je in den Ländern gewesen zu sein, über die er
schrieb. Nachdem er diese Länder dann 10 Jahre vor seinem Tod bereist
hatte, versiegte seine Phantasie auf unerklärliche Weise. Die Realität
steht halt allzu oft der phantastischen Projektion im Wege. Oder um
Orwell etwas abzuändern: Unwissenheit ist manchmal eben doch Stärke.
Der kürzlich verstorbene britische Journalist und Edelmann Lord
Weidenfeld stand einer Organisation vor, die ausschließlich christlichen
Flüchtlingen aus Syrien einen Neustart im Westen ermöglichen wollte.
Sein Argument für „Safe Havens“ klang dabei recht simpel und
überzeugend: Diese Menschen seien in ihrer Heimat wirklich von allen
Seiten unter Druck und völlig verloren. Außerdem gingen seine
christlichen Syrer „sonntags zur Kirche und beten. Da kann ich wenigstens garantieren, dass kein islamischer Terrorist dabei ist.“
Auf die Frage, wie denn die Reaktionen auf seine Initiative seien,
antwortete Weidenfeld: „Es ist sehr sonderbar. Man wirft uns sogar noch
vor, dass wir diese Auswahl treffen. Und das im christlichen Abendland,
wo etwa in Deutschland eine Partei, die sich christlich nennt, die
Kanzlerin stellt. Aber warum darf man diese Christen, die aus den
ältesten Gemeinden der Welt kommen, nicht bevorzugen? In den
angrenzenden islamischen Ländern haben sie doch keine Chance mehr,
irgendwo sicher unterzukommen. (…) In Deutschland finden sich kaum
Kirchengemeinden, die unser Konzept gutheißen, und die Politik schon gar
nicht.“
Was Lord Weidenfeld sonderbar nennt, ist halt Resultat der neuen
deutschen Sprachregelung, in der Begrenzung gleichzusetzen ist mit
Ausgrenzung, Bevorzugung mit Diskriminierung, und eine Auswahl lässt
jeden guten Deutschen sofort an die Rampe von Auschwitz denken. Nur im
maximal Entgrenzten, im Jenseits aller Interessen findet sich der neue
Post-Ausschwitz-Deutsche wieder. So hat Angela Merkel mit der
Entgrenzung der Nation endlich auch für die offizielle Entgrenzung der
Begriffe und der Moral gesorgt. Denn Deutschsein heißt, eine Sache um
ihrer selbst willen zu übertreiben.
Bisher konnte man davon ausgehen, dass zumindest die christlichen
Kirchen das Christsein schon irgendwie hochhalten würden. Aber
inzwischen zeigen auch die Kirchen ein sehr auffälliges Desinteresse an
ihrer eigenen Klientel. Nun sind in Deutschland die Kirchen immer schon
eng mit der Politik verflochten und ihre Präsidenten grundsätzlich
Parteisoldaten - momentan Thomas Sternberg (CDU) bei den Katholen und
bei den Evangelen Irmgard Schwätzer (FDP), die der Grünen Katrin
Göring-Eckardt nachfolgte. So darf man sich nicht wundern, wenn die
offizielle politische Linie der hervorragendsten Bereicherung und
gelingendsten Integration konsequent den Schäfchen nahegebracht wird. Da
muss die Bevorzugung von christlichen Flüchtlingen natürlich
hintanstehen.
Der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Thomas
Sternberg, beispielsweise warnt trotz häufig vorkommender Übergriffe
strikt davor, moslemische und christliche Flüchtlinge getrennt
unterzubringen („verheerend“). Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, dagegen fordert einen „flächendeckenden Islamunterricht“ an deutschen Schulen, Frau Käßmann möchte bekanntlich mit den IS-Terroristen beten, Kardinal Woelki
fühlt sich bemüßigt zu betonen, dass auch die miesesten Schlächter des
Kalifats eine Menschenwürde haben und in Hamburg wird einem toten IS
Kämpfer sogar in einer christlichen Kirche eine Trauerfeier ausgerichtet.
Integration war nie herzloser und schöner und die einzigen, die nicht
interesselos und voller Vorfreude dem Verschwinden des Eigenen
zuschauen wollen und bei dem ganzen Tam-Tam dann etwas stören, sind die
Jesiden, die am Tag der IS-Kämpfer-Trauerfeier von Hamburg verlauten
lassen: „Es ist ein schönes Gefühl, IS-Kämpfer zu töten“.
Trotz der Radikalität der Aussage ist man froh, dass es noch ein paar
Menschen gibt, die den Kompass des Menschseins nicht komplett verloren
haben.
In der Psychologie nennt man einen Menschen, der niemanden lieben
kann, beziehungsunfähig. Einen Menschen, der jeden lieben muss, übrigens
auch. Markus Vahlefeld
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