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Mittwoch, 8. Juni 2016

Essen wie Palermo

Lina Khodr ist eine mutige Frau. Die 29-jährige Essenerin hat zusammen mit ihrer Freundin Zahra Kharroubi, 38, einen Aufschrei libanesischer Mütter organisiert mit einer klaren Botschaft: „Es reicht!" Die Frauen formieren zivilen Widerstand gegen ein Problem, das sich in mehreren deutschen Großstädten derzeit dramatisch auswächst: die Gewalt und Parallelgesellschaft arabischer Clans. Khodr und ihre Kolleginnen stellen sich den Clans offen entgegen.

Sie sammeln Unterschriften, schreiben Petitionen und rufen zu Rechtstreue und Gewaltfreiheit auf – und sie riskieren damit ihr Leben. „Wir wollen ein Signal setzen, dass wir diese Gewalt nicht möchten. Dass wir uns Sorgen machen um unsere eigenen Kinder.“
Der Aufstand der Mütter erinnert an die Initiativen von Müttern getöteter Mafia-Opfer aus Sizilien. „Wir haben inzwischen ähnliche Verhältnisse in Deutschland. Die Clans organisieren Halbwelten des Verbrechens und terrorisieren immer größere Stadtteile. Wir müssen uns dem entgegen stellen“, heißt es aus dem Widerstandskreis der Frauen. Was Polizei und Politik offenbar nicht ausreichend bewerkstelligen – die Mütter wagen es auf eigene Faust: den Clans Grenzen setzen.

Es begann mit einem offenen Brief an die Bevölkerung von Essen: „Liebe Essenerinnen und Essener“, so beginnt das Schreiben, 15 arabische Frauen haben ihn unterzeichnet, und seither gibt es eine regelrechte Bewegung, die Stimme gegen die Gewalt zu erheben. Auslöser des Appells war eine typische Gewalt- und Rache-Orgie der Clans mit Schlägereien und Messerstechereien, die in einer Blutfehde und der Erschießung eines 21-Jährigen mitten in der City Essens gipfelte, nur weil der zum falschen Clan gehörte.
Seither haben die Mütter – angeführt von Lina Khodr – ihre Stimmen erhoben. In ihrem Appell kündigt sie an: „Wir werden unseren Kindern vermitteln, dass Sicherheit nur durch Anerkennung rechtsstaatlicher Strukturen bestehen kann. Wir wollen und werden unseren Kindern nahebringen, welch hohe Güter Freiheit, Demokratie und Gleichberechtigung sind.

Der Appell weist darauf hin, dass Täter- wie Opferfamilien bitter leiden unter der Gewalteskalation in Deutschland: „Wir wollen die Hoffnung, dass solche Konflikte und Vorfälle nicht mehr passieren, nicht aufgeben. Unseren Teil der Verantwortung sehen wir in der Erziehung unserer Kinder.“
Die muslimischen Mütter werden damit zu Kämpferinnen für Grundgesetz und Rechtsstaat – und verblüffen das islamistische Milieu ebenso wie die deutsche Politik. Denn die hat das Problem der Eskalation von Clan-Gewalt offenbar unterschätzt, häufig sogar aus gut gemeinter Rücksichtnahme auf den Ruf von Minderheiten klein geredet oder gar verschwiegen. Die Polizei ist hingegen über den Mütterappell dankbar, weil damit ein Kreislauf der Tabuisierung durchbrochen wird. Gerade von dieser Schweigespirale würde die Clankriminalität profitieren. Der laute Aufschrei sei daher eine „echte Hilfe“ und ein „wichtiger Denkanstoß", erklärt der Essener Polizeisprecher.

Essen leidet wie Berlin, Hamburg, Bremen und Duisburg besonders unter sprunghaft steigender Kriminalität der Clans mit weiträumigem Drogen-, Menschen- und Waffenhandel, Prostitution sowie Schutzgelderpressungen. „Die Grundproblematik ist, dass man in den Herkunftsländern unser Rechtssystem nicht kennt und dann hier eine Parallel-Justiz betreibt“, berichtet Essens Polizeisprecher Ulrich Faßbender der „Welt“. In Essen handele sich vor allem um libanesische Clans.

In Berlin gibt es insgesamt zwei Dutzend arabische Großfamilien mit insgesamt mit rund 10.000 Angehörigen. Sie bilden ein gegenüber der deutschen Gesellschaft abgeschottetes System mit Stammesritualen, Schweigegelübden und klaren Gewalthierarchien. Vor kurzem hat der Berliner Senat eine Studie in Auftrag gegeben. Ergebnis: Die meisten Konflikte werden nicht über das deutsche Rechtssystem, sondern über die Clanjustiz von selbst ernannten Richtern geschlichtet, so Justizsenator Thomas Heilmann.
Mit einer Reihe von Razzien zeigt die Berliner Polizei in diesem Frühjahr deutlich Präsenz. Heilmann begründet das so: „Wir möchten zusätzliche Brücken in diese Strukturen, arabische Familienclans aber auch andere kriminelle Organisationen hinein bauen und insbesondere den Betroffenen wie den Opfern den Weg zur Polizei und zur Staatsanwaltschaft leichter machen.“
Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen von der CDU sucht ebenfalls Wege hinein in die Parallelgesellschaft der Clans. Er nennt die Bewegung der libanesischen Mütter ein wichtiges Signal. „Frauen sind oft der einzige Zugang zur kurdisch-libanesischen Community. Darauf sind wir aber angewiesen“, sagte Kufen. Lina Khodr wird daher von der Lokalpolitik inzwischen als tapfere Vorkämpferin des Rechts gewürdigt. Die zweifache Mutter erzählt allerdings, dass ihr Motiv für die Essener Friedensbewegung der anderen Art weniger politisch als menschlich war: „Als das mit der Schießerei war, haben wir gesagt: Stopp, das reicht!"  Wolfram Weimer

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