Die politischen Klüfte und Bruchlinien in Deutschland haben 26 Jahre
nach dem Vollzug der staatlichen Einheit nur noch mittelbar mit dem
alten Ost-West-Gegensatz zu tun und sind auch nicht mit der ehemaligen
Zonengrenze identisch.
Sie verlaufen in Ost und West durch Familien,
Freundeskreise, Belegschaften.
Ursächlich ist die Verletzung des Landfriedens, den der
politisch-mediale Komplex dem Staatsvolk zumutet und der im
„Willkommensputsch“ von 2015 einen Höhepunkt erreicht hat. Die Gräben
verlaufen zwischen Betreibern, Nutznießern, ideologischen Befürwortern
und Mitläufern des ethnisch-kulturellen Umbaus und denen, die ihn für
eine Katastrophe halten und sich dagegen wehren. Richtig ist allerdings,
daß dieser Kulturkampf in der Ex-DDR eine ganz andere Intensität und
Anschaulichkeit besitzt als in den alten Bundesländern.
Dort hat die Entwicklung, die nun eskaliert, sich über die Jahrzehnte
schleichend vorbereitet. Die Verhältnisse sind vielerorts schon soweit
gekippt, daß ein Aufbegehren nun erst recht sinnlos oder riskant
erscheint. Sozialer, aber auch physischer Druck sowie langjährige
Indoktrination blocken die basisdemokratischen Energien häufig ab oder
leiten sie auf die Mühlen des Staates.
Die zivilgesellschaftlichen Willkommensinitiativen erinnern an
Kampagnen in der DDR, mit denen die SED die Folgen ihrer Miß- und
Mangelwirtschaft zu beheben versuchte. Zudem ist in westdeutschen
Ländern noch immer eine naive Staatsgläubigkeit verbreitet, die sich aus
der Erinnerung an den funktionierenden Rechts- und Sozialstaat von
früher speist.
Das alles gibt es auch im Osten, und trotzdem ist die Situation eine
andere. Der Umbau bewirkt hier ein Schockerlebnis, das sich in spontanen
Unmutsäußerungen entlädt. Die DDR-Erfahrung, daß ein Staat trotz
schöner Worte alle rechtlichen Hüllen fallen läßt und die Handlungslogik
einer Räuberbande realisiert, bewirkt eine Resistenz gegenüber
volkspädagogischen Belehrungen, so daß der Selbsterhaltungstrieb sich
gegen den nationalen Nihilismus der Politik behauptet. Hinzu kommt die
Tradition antistaatlicher Aufmüpfigkeit, die im Juni 1953 erfolglos und
im Herbst 1989 erfolgreich erprobt wurde.
In dieser Beharrung liegen eine gewisse Chance für das vereinte Land
und ein Risiko- und Störfaktor für das politische und mediale
Establishment. Das ist deshalb bemüht, die Ex-DDR als ein
gesellschaftspolitisches Rückstandsgebiet, als Reservat von Halbwilden,
hinzustellen und den Bürgerprotest als den mentalen Restmüll einer
Diktatur zu entsorgen.
Auch der Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen
Einheit 2016 schreibt diese neue Teilung von oben fort. Er umfaßt rund
hundert Seiten. Ganz vorn, nach einer kurzen Schilderung der
wirtschaftlichen Lage, heißt es im huxleyschen Neusprech:
„Ostdeutschland wird nur als weltoffene Region, in der sich alle dort
lebenden Menschen zu Hause fühlen und am gesellschaftlichen Leben
teilhaben, gute Entwicklungsperspektiven haben.“ Wenn es so einfach
wäre, müßten Gegenden wie Duisburg-Marxloh, wo schon heute maximale
Weltoffenheit herrscht, prosperierend durch die Decke schießen.
Der amtliche Pressetext wird noch deutlicher: „Die Zunahme von
Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus gefährden jedoch die
Integration von Flüchtlingen. Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit
und Intoleranz behindern die wirtschaftliche und gesellschaftliche
Entwicklung der neuen Länder. Die Bundesregierung geht gegen diese
besorgniserregenden Entwicklungen mit aller Entschlossenheit vor.“
Ins Auge fällt der autoritäre Gestus, der sich bis zur Drohung
steigert: Die Daueransiedlung von Menschen aus anderen Kulturkreisen und
der Import inneren Unfriedens sind beschlossene Sache. Ablehnung und
Widerstand verweisen auf geistige und moralische Defekte, die therapiert
werden sollen.
Die deutsche Einheit zu vollenden bedeutet konsequenterweise, auch
die frühere DDR mit Parallelgesellschaften, Clanstrukturen und
Moscheevereinen zu überziehen, dort ein Heer aus diversen Beauftragten
zu stationieren und flächendeckende Überwachungs-, Denunziations- und
Indoktrinationsstrukturen zu etablieren. Das widerspricht allerdings den
Interessen der Bewohner der neuen Länder und auch vieler Westdeutscher,
denen ihre Städte fremd oder unheimlich werden und die die Städte und
Landschaften im Osten als Ruhe- und Rückzugsgebiete schätzengelernt
haben.
Folglich muß die Deutsche Einheit neu definiert werden. Sie kann
nicht länger in der ungefragten Übernahme westlicher Vorstellungen und
Strukturen bestehen. Die DDR war auch deshalb ein beschädigtes Land,
weil sie ein ideologisches Konzept zu verwirklichen versuchte, das die
Menschen zu Werkzeugen degradierte. Beschädigt war und ist aber auch die
Bundesrepublik, weshalb die Evaluierung ihres ideologischen Erbes
überfällig ist. In den Jahren der Teilung hatte sie sich in politischer
und wirtschaftlicher Hinsicht als Statthalterin für das ganze
Deutschland bewährt.
Im akademischen, medialen und Kulturbetrieb jedoch war längst ein
Erosionsprozeß im Gange, der die Zerstörung und Auflösung als nationales
Selbstkonzept durchsetzte. Inzwischen hat er alle Bereiche
einschließlich der Politik unterminiert und das Land und seine
Bevölkerung zur Wehrlosigkeit gegen lebensgefährliche Zumutungen
verdammt. Gelingende Einheit kann deshalb nur heißen, gemeinsam die
ideologischen Erblasten der DDR und die der alten Bundesrepublik zu
überwinden. Thorsten Hinz
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.