Für die neue Ausgabe der Sezession hatte ich mich mit dem Charakter des islamischen Terrorismus im allgemeinen und des Islamischen Staats im besonderen als formale Kriegspartei beschäftigt; eine Kategorisierung, zu der staatliche Stellen hierzulande offensichtlich nach wie vor nicht in der Lage sind. Zur Anwendung kam dabei das 1989 vom amerikanischen Militärtheoretiker William S. Lind aufgestellte Theorem einer generationenartigen Entwicklung der modernen Kriegführung – eine frühe Systematisierung dessen, was seit 2001 gemeinhin als „asymmetrischer Krieg“ bezeichnet wird, gemäß Lind die 4th-generation warfare oder 4GW.
Zwar stellen die seitdem entstandenen Analysen des wildwüchsigen Klein- und Informationskrieges natürlich in erster Linie Handreichungen zur Verteidigung und Counter-insurgency dar; sie lassen sich jedoch auch im umgekehrten Sinne lesen. So oder so haben die Denkschriften Linds und seiner Mitarbeiter im Militär bislang wenig Niederschlag gefunden, sind aber bei aufgeschlossenen Medienguerilleros sehr wohl auf fruchtbaren Boden gefallen, wie etwa der Schriftsteller Vox Day in seinem Buch SJWs Always Lie über die von ihm mitangestoßene sogenannte „#GamerGate-Kontroverse“ in den USA nachzeichnet.
Um es kurz zu machen: Das Staatsversagen, das nun weitläufig diagnostiziert wird, liegt tatsächlich vor. Allerdings nicht – wie neben anderen auch der unvermeidliche Jakob Augstein meint – nur in Sachsen, sondern auf Bundesebene. Die durchgängige Behandlung der akuten Terrorgefahr nach Aktenlage setzt, bei völliger Verkennung des organisiert-unorganisierten Charakters des heutigen Terrorismus und der verharmlosenden Etikettierung des IS als »Terrormiliz«, unser Land unnötigerweise extremen Risiken aus.
Eine entschlossene und konsequente innere Sicherheitspolitik eines tatsächlich wehrhaften Staates sähe anders aus. Und sie ließe auch keine Beweislastumkehr zu wie die, auf die sich die Jubelschreie von Anfang der Woche nach der Festnahme al-Bakrs kondensieren ließen: »Gottseidank sind all diese Leute illegal in unser Land gekommen, um uns bei Problemen zur Seite zu stehen, die wir ohne sie wahrscheinlich gar nicht hätten!«
Gleiches gilt natürlich auch für all die tapferen Tastaturritter, die binnen Stundenfrist dem aufgebaumelten Terrordilettanten das erkaltende Händchen hielten:
Es sind jetzt, in den nächsten Tagen, genau drei Dinge abzuwarten:
- Wie genau wird was genau über die Lebens- und Todesumstände des Jaber al-Bakr aufgedeckt werden, und wie lange wird sich das in den Medien halten? (Wann kommt der pädagogisch wertvolle Tatort zum Fall..?)
- Wie genau wird was genau über die „heldenhaften“ Syrer in Leipzig, die der Terrorverdächtige noch kurz vor seinem Tod als Mitwisser denunziert hatte, aufgedeckt werden, und wie lange wird sich das (neben der ihnen angeblich geschuldeten Dankbarkeit und Anerkennung) in den Medien halten?
- Was wird, wenn überhaupt, für die Bundes- und Landespolitik aus dieser nebulösen Episode folgen, und für welche politischen Winkelzüge wird der Fall al-Bakr zukünftig als Grundlage herhalten müssen?
Ich wage die Prognose, daß spätestens nach dem Jahreswechsel kein Hahn mehr nach diesem Affärchen krähen wird. Wahrscheinlicher ist, daß ihn bereits in zwei, drei Wochen eine andere „große Sache“ abgelöst haben wird, wie sich auch die anfangs turmhohen Wellen hinsichtlich des „rechten Terrors“ in Dresden blitzschnell verlaufen haben. In diesem Fall jedoch wird das Grundmotiv die Bedrohungslage sein, der der Staat nicht Herr zu werden in der Lage ist – und die Bevölkerung soll schließlich nicht in Unruhe leben müssen, denn das ist Gift für die Produktivität (und die Umfrageergebnisse).
Was die Hintergründe des Chemnitzer Bombenbaus und der seltsamen Odyssee al-Bakrs angeht, bleibt abzuwarten, ob sich das vorläufige »Riddle wrapped in a mystery inside an enigma« noch aufhellen läßt. Vorstellbar sind viele Konstellationen, etwa eine „indirekte Aktion“ zur weiteren Destabilisierung des Verhältnisses zwischen Volk und Sicherheitsorganen im Sinne Walter Laqueurs – was unsere Medien mehr als begünstigen (und im übrigen auch die Staatsanwaltschaft, in deren heutiger Pressekonferenz die »panische Angst vor Abschiebung« des mutmaßlichen Terroristen nochmals betont wurde).
Nun habe ich zur Bebilderung dieses Texts aber nicht umsonst den brennenden „Wicker Man“ aus dem gleichnamigen Film von 1973 hergenommen: Movens des Menschenopfers ist, durch den Tod eines einzelnen die entzürnten oder mißgünstigen Autoritäten (in der Regel Gottheiten) gnädig zu stimmen.
Die deutschen Sicherheitsbehörden haben im Angesicht der Anschläge im Juli dieses Jahres ihr eigenes Gerede vom »verwirrten Einzeltäter« so gründlich desavouiert, daß wohl die meisten Überlegungen zu einem so bedrohlichen Ergebnis kommen wie dem, das der ehemalige Linksradikale und Verleger André Thiele bei Facebook veröffentlichte:
1984 hatte ich mit anderen Genossen aus der radikalen Linken ein Gespräch mit alten Kommunisten aus dem, was von der KPD übriggeblieben und nicht über die DKP korrumpiert worden war, der sog. „tiefen Partei“.
Die Frage an uns Junge war: Wie steht ihr zum Terrorismus? Konkret: Was würdet ihr tun, wenn ihr mitbekommt, daß gesuchte RAFler irgendwo ein Waffenlager haben oder sich aufhalten oder treffen? Wir lieferten alle möglichen Antworten à la „niemals verraten“. Die Kader hörten sich das ruhig an. Dann sprachen sie: „Nein. Wenn ihr von so etwas erfahrt, dann kommt ihr direkt zu uns. Wir kümmern uns.“
Wir frugen natürlich: „Was würdet ihr denn tun?“ Und einer sagte: „Beobachten. Hochgehen lassen, dann, wenn es am besten paßt. Den Rest erledigt die Polizei für uns.“
Wenn man politisch wirklich etwas aufbauen will, das eine Gesellschaft langfristig transformiert – wenn Sie also WIRKLICH Macht haben wollen, dann müssen Sie die Eigenen ausliefern bzw. erledigen, wenn Sie Ihnen querkommen. Vor allem, wenn die Staatsmacht hinter ihnen her ist und sie de facto geschlagen sind – ausliefern, sofort, bevor Strukturen zerstört werden, die wichtiger sind als die Bauernopfer. Das und nichts anderes ist die Lektion aus der Gefangennahme des syrischen Terroristen durch syrische Landsleute. Nils Wegner
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