Die Rednerin beklagte sich bitter. Es fehle an Vertrauen, sagte sie,
Vertrauen in die politische Führung, in die ökonomische Kraft des
Landes, in die Fähigkeiten, Chancen und Möglichkeiten jedes einzelnen
Bürgers. Als Zeichen für den Niedergang Deutschlands nannte sie zu hohe
Schulden, zu schlechte Schulen, zu wacklige Renten und zuwenig Kinder.
„Seit langem leben wir von der Substanz“, hieß ihr Resümee.
So sprach am 3. Oktober des Jahres 2003 Angela Merkel.
Heute, 13
Jahre danach, trifft ihre Diagnose noch genauer zu als damals. Denn zu
den alten sind eine Reihe neuer Mißstände gekommen; neben der physischen
ist die moralische Substanz des Landes angetastet, aufgeweicht und
zersetzt worden. Wir haben eine Regierung, die das Recht beugt, das Volk
täuscht und das Parlament mißachtet.
Eine Regierung, der im Kampf gegen die Opposition jedes Mittel recht
ist und die Gewalttaten duldet. Eine Regierung, die von den Griechen
betrogen, von den Türken erpreßt, von den Franzosen beargwöhnt, von den
Amerikanern gegängelt, von den Ungarn verachtet, von den Italienern
belächelt, von den Engländern bemitleidet und vom Rest Europas nicht
mehr verstanden wird.
Mit alledem hat Angela Merkel die Bundesrepublik in die tiefste Krise
ihrer Geschichte manövriert. Wähler und Gewählte stehen sich
mißtrauisch und voller Verachtung gegenüber, und wenn von der
politischen Kultur, die es ja einmal gab in diesem Land, noch etwas
übrig wäre, müßte Frau Merkel zurücktreten.
Damit ist aber kaum zu
rechnen. Unter den Gründen, die dafür genannt werden, sticht einer
hervor: das Fehlen eines prospektiven Nachfolgers. Auch dafür gibt es
einen Grund: die Personalpolitik Angela Merkels.
Sie hatte zwei Lehrmeister; der eine hieß Helmut Kohl, der andere
Erich Honecker. Von beiden hat sie gelernt, daß man, um unangefochten im
Besitz der Macht zu bleiben, gut daran tut, keine fähigen Leute neben
sich aufkommen zu lassen. Wer sich über den Rang eines Herrschers ein
Bild machen wolle, sollte sich seine Umgebung näher ansehen, hatte schon
Machiavelli empfohlen.
Wer dies macht, trifft im Umkreis Merkels auf Männer wie Ronald Pofalla, der das Gewissen, auf das sich einer seiner Faktionskollegen
berufen hatte, kurzerhand „Scheiße“ nannte, oder auf CDU-Generalsekretär
Peter Tauber, der Merkels Gegner als „Arschlöcher“ bezeichnet haben
soll.
Stilfragen, mehr nicht, könnte man einwenden. Aber der Stil ist der
Mensch; die Stillosigkeit auch. Unter den Eigenschaften, die einer
Karriere im Dunstkreis Angela Merkels günstig sind, dürfte die
Liebedienerei an allererster Stelle stehen. Keiner hat das überzeugender
klargemacht als Peter Altmaier, der sich im Bierzelt zu der originellen
Behauptung verstieg, in Deutschland gebe es nicht nur eine, sondern
Zehntausende, ja Hunderttausende Angela Merkels. Und das auch noch als
Kompliment verstanden wissen wollte, als Kompliment an uns, das Volk,
den großen Lümmel.
Das ist neu. Volksvertreter, die es als ihre Aufgabe, ja ihr Recht
betrachten, ganze Teile des Volkes lächerlich zu machen, hat es bisher
noch nie gegeben; jetzt stellen sie das halbe Kabinett, allen voran
SPD-Justizminister Heiko Maas. Die Ab- und Ausgrenzungspolitik begann
vor Jahren im sächsischen Sebnitz, wo eine psychisch kranke Frau mit der
abenteuerlichen Behauptung, ihr kleiner Sohn sei in aller
Öffentlichkeit von einer Horde „Neonazis“ ertränkt worden, eine ganze
Stadt an den Pranger stellen durfte. Sie war zwar nicht klar im Kopf,
aber SPD-Mitglied, der damalige Kanzler Schröder empfing sie in der
Parteizentrale.
Das Beispiel zeigt, wie groß der Abstand zwischen Parteien und
Bürgern, zwischen Regierenden und Regierten, zwischen dem Volk und
seinen Vertretern geworden ist. Nachdem die einen den anderen zugerufen
hatten „Ihr gehört nicht zu uns!“ antworten die anderen den einen „Ihr
auch nicht!“.
Die Machthaber beschimpfen die Bürger als braunes Pack und
wundern sich, wenn die Erniedrigten sich wehren und die Beleidigungen an
ihre Urheber zurückreichen. Das Echo auf „Mob“ und „Gesindel“ heißt
dann „Versager“ und „Verräter“.
„Ihr macht in der Politik, was ihr wollt. Wir machen auch, was wir
wollen“, heißt die Formel, auf die CSU-Chef Horst Seehofer den Abstand
zwischen Demos und Kratos, zwischen dem Volk und den Machthabern
gebracht hat. Zu Ende gedacht würde das auf die Abschaffung der
Demokratie hinauslaufen. Sie würde zu einer Staatsform degenerieren, in
der die Regierung den „Menschen draußen im Lande“, wie wir in der
verräterischen Diktion unserer Volksvertreter immer wieder genannt
werden, über den Mund fährt, wenn sie es wagen, ihn aufzutun.
Mit Kulis und abhängigen Hintersassen gelingt das leichter als mit
eigenständigen, selbstbewußten und urteilsfähigen Bürgern. Das ist der
rationale Kern der fälschlich so genannten Willkommenspolitik:
fälschlich deshalb, weil sie auf einen Bevölkerungsaustausch, eine
„Umvolkung“ hinausläuft, auch wenn das so nicht heißen darf. Daniel
Cohn-Bendit sprach nicht nur für seine Grünen, als er dazu aufrief,
möglichst viele Ausländer nach Deutschland zu holen und ihnen hier das
Wahlrecht zu verschaffen. Danach, meinte er, würde seine Partei die
Stimmen haben, die sie braucht, um die Republik zu verändern.
Auch hier sind sich die Altparteien einig. In der Erwartung,
möglichst viele von ihnen für sich einzunehmen, machen sie den
Neuankömmlingen schöne Augen. Das schweißt zusammen und erklärt die
Unnachgiebigkeit, mit der sie eine Politik, die von der Mehrheit der
Bürger beargwöhnt oder rundweg abgelehnt wird, hartnäckig verteidigen.
„Jetzt werden wir die pluralistische Variante des Einparteienstaates
kennenlernen“, soll ein erfahrener Politiker seinen Freunden
vorausgesagt haben, als der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nur noch
eine Frage der Zeit war. Der Mann hat recht behalten, leider.
Jede Staatsform braucht eine Schicht von Leuten, die sich zur Politik
berufen fühlen, im Glücksfall dann auch wirklich sind. In der
Demokratie ist es Sache der Parteien, Leute dieser Art zu entdecken,
heranzuziehen und auf ihre Aufgabe vorzubereiten. Dem werden die
bestehenden Parteien aber kaum noch gerecht; sie züchten eine Elite, die
sich so nennt, aber keine ist. Das erklärt den Wunsch nach etwas Neuem –
neuen Leuten, neuen Parteien und einem Legitimationsverfahren, das neue
Parteien und neue Leute begünstigt. Konrad Adam
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