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Donnerstag, 13. Oktober 2016

Frankreich Labor Europas

Das Ereignis hat es nicht in die Hauptnachrichten geschafft: Am 8. Oktober wird am Rand des Pariser Vororts La Grande Borne ein Polizeifahrzeug in einen Hinterhalt gelockt, an der Weiterfahrt gehindert, von Kriminellen umringt, die die Fenster einschlagen, brennende Molotowcocktails in die Wagen werfen und dann die Ausgänge blockieren, um die Beamten an der Flucht aus den Flammen zu hindern. Drei von vier Polizisten, darunter zwei Frauen, müssen mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden, einer kommt mit leichteren davon.

Das ganze spielte sich an einer Straßenkreuzung ab, die von Drogendealern als ihr Revier betrachtet wird. Im Grunde haben die Sicherheitskräfte die Kontrolle über diesen Teil des Banlieues wie über viele andere längst verloren. In La Grande Borne kam es zuletzt im Juli und im August zu Ausschreitungen, bei denen nicht nur Autos in Flammen aufgingen, sondern auch organisierte Angriffe auf die Polizei stattfanden. Angriffe, von denen Betroffene meinen, daß sie wenig von Mordversuchen trenne.

Eine Ursache für die Massivität der Gewaltakte besteht darin, daß sich die in den verfallenen Hochhausblöcken herrschenden Banden von den Sicherheitskräften in „ihrem“ Territorium bedrängt fühlen. Sie reagieren damit durchaus folgerichtig auf jenes Appeasement, das die Regierung seit Jahren betreibt, und das auf dem Prinzip beruht: keine Kontrolle, keine Revolte.
Eine Praxis, die selbstverständlich den Zorn der Beamten heraufbeschwört, die für diese Politik ihre Köpfe hinhalten müssen. Nach einer Untersuchung des französischen Innenministeriums von 2015 wurden im vorangegangenen Jahr 72 Prozent aller Angehörigen der Sicherheitskräfte (Polizei und Militär) im Dienst beleidigt, 79 Prozent bedroht, 69 Prozent körperlich angegriffen. Im Durchschnitt sterben pro Jahr ein Dutzend Beamte bei der Ausübung ihrer Pflicht.

Um die Gemüter zu beruhigen, hat die Regierung nach dem Anschlag die berüchtigte CRS in das Viertel geschickt, die teilweise beritten durch die Straßen patrouilliert. Die Verantwortlichen vor Ort verlangen derweil mehr Polizeipräsenz, und ein Abgeordneter der bürgerlichen „Republikaner“ forderte sogar den Einsatz der Armee, als wenn es um die Niederkämpfung eines Aufstands ginge.
Das zeigt immerhin einen gewissen Sinn für den Ernst der Lage. Denn es handelt sich nicht einfach um die Folgen des „Klimas Anti-Flic“, von dem der sozialistische Regierungschef Valls spricht, sondern um die Folgen einer Krankheit, die den sozialen Körper nach und nach erfaßt hat. Diese Krankheit heißt: Autoritätsverlust. Autoritätsverlust des Staates sowieso, aber auch seiner Amtsträger, der Männer und Frauen vor Ort, und nicht nur der Polizisten und Soldaten, sondern auch der Verwaltungsbeamten, Sozialarbeiter, Lehrer.
In Zeiten, die heute wie ein Goldenes Zeitalter der Öffentlichen Sicherheit wirken, hat man diese Autorität verspottet, zerredet, zersetzt, abgeschmolzen, umgebaut, unterminiert.

Mit den erwartbar negativen Folgen. Dann durch anderes zu ersetzen versucht, aber ohne Erfolg. Trotzdem hielt der ererbte Bestand über lange Zeit. Damit ist es jetzt vorbei, und die Verheißungen der Antiautoritären zeigen ein gleichermaßen jämmerliches und furchtbares Gesicht.
Denn der Wegfall der bisherigen Autorität bedeutet nicht einfach Chaos, sondern die Möglichkeit für den Entschlossenen – den Mafioso, den Clanchef, den Friedensrichter, den religiösen Anführer – sich neue Autorität zu verschaffen und Staaten im Staate zu bilden, Quartiere, in denen nur eine Bande das Sagen hat, Straßenzüge, in denen nur eine Hautfarbe geduldet wird, abgeschottete Gemeinschaften, in denen weder Verfassung noch Gesetzbuch etwas gelten, sondern das Wort des „großen Mannes“ oder des fremden Gottes.

Das ist es, was Frankreich erlebt, – und wie so oft wird es dem Kontinent als gesellschaftliches Laboratorium dienen.  Karlheinz Weißmann

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