Das Ereignis hat es nicht in die Hauptnachrichten geschafft: Am 8.
Oktober wird am Rand des Pariser Vororts La Grande Borne ein
Polizeifahrzeug in einen Hinterhalt gelockt, an der Weiterfahrt
gehindert, von Kriminellen umringt, die die Fenster einschlagen,
brennende Molotowcocktails in die Wagen werfen und dann die Ausgänge
blockieren, um die Beamten an der Flucht aus den Flammen zu hindern.
Drei von vier Polizisten, darunter zwei Frauen, müssen mit schweren
Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden, einer kommt mit
leichteren davon.
Das ganze spielte sich an einer Straßenkreuzung ab, die von
Drogendealern als ihr Revier betrachtet wird. Im Grunde haben die
Sicherheitskräfte die Kontrolle über diesen Teil des Banlieues wie über
viele andere längst verloren. In La Grande Borne kam es zuletzt im Juli
und im August zu Ausschreitungen, bei denen nicht nur Autos in Flammen
aufgingen, sondern auch organisierte Angriffe auf die Polizei
stattfanden. Angriffe, von denen Betroffene meinen, daß sie wenig von
Mordversuchen trenne.
Eine Ursache für die Massivität der Gewaltakte besteht darin, daß
sich die in den verfallenen Hochhausblöcken herrschenden Banden von den
Sicherheitskräften in „ihrem“ Territorium bedrängt fühlen. Sie reagieren
damit durchaus folgerichtig auf jenes Appeasement, das die Regierung
seit Jahren betreibt, und das auf dem Prinzip beruht: keine Kontrolle,
keine Revolte.
Eine Praxis, die selbstverständlich den Zorn der Beamten
heraufbeschwört, die für diese Politik ihre Köpfe hinhalten müssen. Nach
einer Untersuchung des französischen Innenministeriums von 2015 wurden
im vorangegangenen Jahr 72 Prozent aller Angehörigen der
Sicherheitskräfte (Polizei und Militär) im Dienst beleidigt, 79 Prozent
bedroht, 69 Prozent körperlich angegriffen. Im Durchschnitt sterben pro
Jahr ein Dutzend Beamte bei der Ausübung ihrer Pflicht.
Um die Gemüter zu beruhigen, hat die Regierung nach dem Anschlag die
berüchtigte CRS in das Viertel geschickt, die teilweise beritten durch
die Straßen patrouilliert. Die Verantwortlichen vor Ort verlangen
derweil mehr Polizeipräsenz, und ein Abgeordneter der bürgerlichen
„Republikaner“ forderte sogar den Einsatz der Armee, als wenn es um die
Niederkämpfung eines Aufstands ginge.
Das zeigt immerhin einen gewissen Sinn für den Ernst der Lage. Denn
es handelt sich nicht einfach um die Folgen des „Klimas Anti-Flic“, von
dem der sozialistische Regierungschef Valls spricht, sondern um die
Folgen einer Krankheit, die den sozialen Körper nach und nach erfaßt
hat. Diese Krankheit heißt: Autoritätsverlust. Autoritätsverlust des
Staates sowieso, aber auch seiner Amtsträger, der Männer und Frauen vor
Ort, und nicht nur der Polizisten und Soldaten, sondern auch der
Verwaltungsbeamten, Sozialarbeiter, Lehrer.
In Zeiten, die heute wie ein Goldenes Zeitalter der Öffentlichen
Sicherheit wirken, hat man diese Autorität verspottet, zerredet,
zersetzt, abgeschmolzen, umgebaut, unterminiert.
Mit den erwartbar
negativen Folgen. Dann durch anderes zu ersetzen versucht, aber ohne
Erfolg. Trotzdem hielt der ererbte Bestand über lange Zeit. Damit ist es
jetzt vorbei, und die Verheißungen der Antiautoritären zeigen ein
gleichermaßen jämmerliches und furchtbares Gesicht.
Denn der Wegfall der bisherigen Autorität bedeutet nicht einfach
Chaos, sondern die Möglichkeit für den Entschlossenen – den Mafioso, den
Clanchef, den Friedensrichter, den religiösen Anführer – sich neue
Autorität zu verschaffen und Staaten im Staate zu bilden, Quartiere, in
denen nur eine Bande das Sagen hat, Straßenzüge, in denen nur eine
Hautfarbe geduldet wird, abgeschottete Gemeinschaften, in denen weder
Verfassung noch Gesetzbuch etwas gelten, sondern das Wort des „großen
Mannes“ oder des fremden Gottes.
Das ist es, was Frankreich erlebt, –
und wie so oft wird es dem Kontinent als gesellschaftliches Laboratorium
dienen. Karlheinz Weißmann
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