Wolff beginnt: Wenn überhaupt eine Proklamation zu erlassen ist,
so erlassen Sie eine, in welcher Sie von vornherein den ersten
Volksverräter, den Reichsverweser, für vogelfrei erklären.“ (Zuruf: „Zur
Ordnung!" – Lebhafter Beifall von den Galerien,) „Ebenso alle
Minister.“ (Erneuerte Unruhe.) „Oh, ich lasse mich nicht stören; er ist
der erste Volksverräter.“
Präsident: „Ich glaube, daß Herr Wolff jede Rücksicht
überschritten und verletzt hat. Er kann den Erzherzog-Reichsverweser vor
diesem Hause nicht einen Volksverräter nennen, und ich muß ihn deshalb
zur Ordnung rufen. Die Galerien fordre ich gleichzeitig zum letztenmal
auf, in der geschehenen Weise an der Debatte sich nicht zu beteiligen.“
Wolff: „Ich für meinen Teil nehme den Ordnungsruf an und erkläre,
daß ich die Ordnung habe überschreiten wollen, daß er und seine
Minister Verräter sind.“ (Von allen Seiten des Hauses der Zuruf: „Zur
Ordnung, das ist pöbelhaft.“)
Präsident: „Ich muß Ihnen das Wort entziehen.“
Wolff: „Gut, ich protestiere; ich habe im Namen des Volks hier
sprechen wollen und sagen wollen, wie man im Volke denkt. Ich
protestiere gegen jede Proklamation, die in diesem Sinne abgefaßt ist.“
(Große Aufregung.)
Präsident: „Meine Herren, wollen Sie mir einen Augenblick das
Wort geben. Meine Herren, der Vorfall, der sich soeben ereignet hat,
ist, ich kann es sagen, der erste, seitdem das Parlament hier tagt.“ (Es
war in der Tat der erste und der einzige Vorfall in diesem
Debattierklub.) „Es hat hier noch kein Redner erklärt, daß er mit
Absicht die Ordnung, die Grundlage dieses Hauses, habe verletzen
wollen.“ (Schlöffel hatte bei einem ähnlichen Ordnungsruf, in der
Sitzung vom 25. April, gesagt: „Ich nehme den Ordnungsruf an und tue es
um so lieber, weil ich hoffe, es werde die Zeit bald kommen, in welcher
diese Versammlung anderweitig zur Ordnung gerufen wird.“)
„Meine Herren, ich muß tief beklagen, daß Herr Wolff, der kaum
erst Mitglied des Hauses geworden ist, in dieser Weise debütiert“ (Reh
betrachtet die Sache vom Komödienstandpunkt aus). „Meine Herren! Ich
habe den Ordnungsruf gegen ihn ausgesprochen, wegen der starken
Verletzung, die er sich erlaubt hat, in betreff der Achtung und der
Rücksicht, die wir der Person des Reichsverwesers schuldig sind.“ Siehe hier. (Karl Marx/Friedrich Engels – Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 14 S. 465)
Manches klingt nicht ganz unvertraut. Zum guten Ton gehörte der
„Volksverräter“ schon damals nicht und die Empörung über das pöbelhafte
Verhalten war groß, auch völlig ohne Nazi-Bezüge.
Nun ist die Kontamination des Wortes durch die Nutzung seitens der
Nazi-Herrscher unbestritten. Aber der „Volksverräter“ fand auch in
kommunistischen Diktaturen immer wieder Anwendung auf vermeintliche und
tatsächliche Regime-Gegner. Das liegt in jeder Diktatur nahe, da sich ja
alle Diktatoren gern als einzig denkbare Sachwalter des Volkes und
seiner Interessen darstellen. Das alles macht es auch nicht besser, wenn
Politiker als „Volksverräter“ beschimpft werden.
Aber vielleicht ist die Erinnerung an den ersten „Volksverräter“ ein
guter Anlass, das hysterische Um-sich-schlagen mit der Nazi-Keule
endlich einzustellen. Den Unmut, der nicht nur bei
„Volksverräter“-Rufern anwächst, kann man nicht mit verbalen Attacken
dämpfen. Mit sichtbarer Handlungs- und Diskursfähigkeit seitens der
politischen Verantwortungsträger wäre hingegen vielleicht noch etwas zu
erreichen. Aber danach sieht es derzeit leider nicht aus. Heute schimpft
man lieber zurück, wenn „Pack“ und „Pöbel“ einen als „Volksverräter“ be
schimpfen. Peter Grimm
Vielleicht wird ja jetzt endlich das Wort „Volkswagen“ geächtet (und Winterkorn aufgehängt). Aber was ist mit dem Wort „Völkermord“?
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