Stationen

Samstag, 15. Oktober 2016

45 versus 98

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz jubelt und mit ihm alle Brüsseler Zentralisten: Das ungarische Referendum zur Verteilung von Asylsuchern auf die EU-Mitgliedsstaaten hat das Quorum von 50 Prozent verfehlt. Gleich ihm haben viele Medien von einem Scheitern der Volksabstimmung in Ungarn gesprochen. Doch ist eine Teilnahme von nur 45 Prozent tatsächlich eine Ohrfeige für den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán?

„Dank des ungarischen Volkes wurde Schaden von Europa abgewendet, den die Regierung bewusst in Kauf genommen hatte“, interpretierte der EU-Parlamentspräsident das Ergebnis des ungarischen Referendums. Bei der allgemeinen Analyse des Ergebnisses fällt meist unter den Tisch, dass diejenigen, die ihre Stimme abgegeben haben, zu rund 98 Prozent gegen die Verteilung gestimmt haben. In absoluten Zahlen sprachen sich bei dem Referendum von den rund zehn Millionen Magyaren über drei Millionen in Sinne des Ministerpräsidenten Orbán aus – das sind mehr, als seinerzeit für den Beitritt des Landes zur EU votiert hatten. Daraus eine Niederlage für Orbán zu konstruieren, erscheint sehr gewagt.

Österreichs Bundesminister für Europa, Integration und Äußeres, Sebastian Kurz, von der Österreichischen Volkspartei meinte dazu: „Man sollte nicht den Fehler machen, es so zu interpretieren, dass man sagt, die Ungarn wollen mehr Migranten aufnehmen. Das, glaube ich, wäre eine etwas falsche Interpretation.“

Das Ziel der EU, die Asylsucher in den Mitgliedsländern zu verteilen, sei „völlig unrealistisch“, so Kurz. In einem Interview mit einer großen deutschen Sonntagszeitung machte er folgende Rechnung auf: „Sollten wir – und davon ist auszugehen – die Flüchtlinge weiter wie bisher auf die einzelnen Länder verteilen, brauchten wir 30 Jahre für 160000 Menschen. Hinzu kommt, dass die Debatte über die Verteilung von Flüchtlingen nach Quoten den Zusammenhalt der gesamten Europäischen Union gefährden kann.“ In der Tat ist es so, dass nicht, wie von Schulz behauptet, das Ungarn-Referendum – egal mit welchem Ausgang – die EU gefährdet, sondern das Beharren auf der Verteilungsquote.
Das Thema führt zu einer auffallenden Annäherung Österreichs an Ungarn, wenn auch nicht mehr im dynastischen Sinn. In Wien hat sich auch der sozialdemokratische Bundeskanzler Christian Kern der Richtung angeschlossen, die sein Außenminister vorgegeben hat. Er bekennt: „Wir wissen, dass wir die Verteilung der Flüchtlinge jetzt nicht durchsetzen können“, und verwies dabei auf die Visegrádstaaten Polen, Tschechei, Slowakei und Ungarn, die beim Asylproblem gemeinsam eine sehr ablehnende Haltung einnehmen.
Der österreichische Sozialdemokrat sieht im verfehlten Quorum der Ungarn kein Problem und erwartet auch keine Folgen davon. „Der Ausgang des Referendums in Ungarn“, so Kern, „wird die Spielaufstellung nicht ändern.“ Das bedeutet, weder die EU noch Ungarn werden ihre Politik ändern. Schon vor dem Referendum und daher ohne Wissen um dessen Ergebnis hatte der ungarische Ministerpräsident angekündigt, dass die Volksbefragung rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen würde. Das ungarische Rechtssystem werde sich künftig an dem Prinzip orientieren, dass nur das ungarische Parlament (und nicht die EU) bestimme, „mit wem die Ungarn zusammenleben wollen und mit wem nicht“. 
 
Orbán hat mit den Eurokraten längst genug Ärger gehabt, um zu wissen, dass er durch diese Entscheidung einen Grundsatzkonflikt mit Brüssel riskiert, vielleicht legt er es sogar darauf an. Die EU nimmt die Zuständigkeit für das Asylrecht für sich in Anspruch. Orbán nun macht sich die Hilflosigkeit der EU zunutze, die daran erkennbar wird, dass sie sich außerstande zeigt, die bewussten 160000 Immigranten unterzubringen. Eine Zuständigkeit zu beanspruchen, zum Vollzug aber nicht fähig zu sein – das schwächt die politische Position Brüssels, und Orbán wäre nicht der, der er ist, wenn er sich diese Gelegenheit entgehen ließe.
Dabei weiß er ganz genau, dass er nicht allein ist, sondern eine Vorreiterrolle spielt. Neben den Visegrádstaaten ist es eben auch Österreich, das seine Position festigt, und außerdem tun das alle politischen Kräfte in den EU-Mitgliedsstaaten bis nach Frankreich, die der momentanen, der „Merkel’schen“ Zuwanderungspolitik den Kampf angesagt haben. Wie schwach Brüssel und Berlin dastehen, sieht man daran, dass das Prinzip der quotenweisen Verteilung nicht vollzogen wird, allmählich in Vergessenheit gerät und auf künftige Zuwanderer überhaupt keine Anwendung mehr findet.
Im Jahr 2018 finden in Ungarn Parlamentswahlen statt. Orbán weiß, dass er in einzelnen Politikbereichen im Verzug ist, umso mehr verlegt er sich auf die Themen, bei denen er die Mehrheit der Ungarn hinter sich weiß, und das sind eben Themen im Zusammenhang mit EU und Asylsuchern. Er weiß um den durchgehenden Wunsch seiner Landsleute, wieder mehr Souveränität gegenüber Brüssel zu erlangen. Das Volk der Magyaren befindet sich ethnisch in einem Insel-Dasein und fühlt sich stets herausgefordert, seine nationale Eigenheit zu verteidigen. Die Gleichmacherei der EU passt dazu überhaupt nicht. Unter diesem Aspekt darf sich Orbán auf einen historischen Auftrag berufen.    Florian Stumfall

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