Die Frage nach der Identität gleicht ein wenig der Frage nach dem
Wesen der Zeit, auf die kein Geringerer als Augustinus bekanntlich
antwortete: Solange niemand ihn frage, wisse er es. Sobald er es einem
Fragenden erkläre wolle, wisse er es nicht.
Das Wissen um die Identität ist gefühltes, ist fragloses Wissen. Kann
man mit gefühltem Wissen etwas erreichen? Ist Gefühltes eine taugliche
Basis des politischen Kampfes oder weist es nicht doch eher in die
Sphäre der politischen Romantik? Carl Schmitt sah den politischen
Romantiker stets mit Mißtrauen.
Man kann natürlich schlichtweg bestreiten, daß so etwas wie die
nationale oder völkische Identität schwer zu definieren und nur zu
fühlen sei, und antworten: Identität, das ist Muttersprache plus das
Land der Ahnen plus Familie, individuelle Herkunft und Heimat plus die
eigenen Lieder und Gesänge plus Glaube plus die Geschichte der
abendländisch-christlichen Kultur. Punkt.
Doch sind nicht all diese Dinge längst in einen
technologisch-industriell-ökonomischen Verwertungsprozess einbezogen?
Wenn ich mir meine eigene individuelle Identität anschaue mit ihren
vielen über die Herkunft und das Angestammte und den eigenen Kulturkreis
hinausweisenden Bezügen (die ich übrigens nicht missen möchte), kommen
mir Zweifel am Vorhandensein einer fixen Identität. Ich führe Benjamins
Aura-Begriff ins Feld – die Aura, die (wie im Fall des Kunstwerks auch
im Fall der Identität) in der Zeit der technischen Reproduzierbarkeit
verloren ist. Die Aura – das ist wieder jenes Gefühlte, schwer Fassbare,
jenes mehr Erahnte als sicher Gehabte, von dem man in dem Moment, in
dem man es explizit fassen will, bereits unausgesprochen einräumen muss,
es verloren zu haben.
Wer explizit nach der eigenen Identität fragt, hat sie nicht mehr.
Wer sie nicht mehr hat, kann sie nicht bewahren, sondern allenfalls
zurückerobern wollen. Doch wie soll man etwas zurückerobern, von dem man
keinen klaren Begriff, sondern nur eine mehr oder minder diffuse
Vorstellung hat? Das Verhängnisvolle des romantischen Typus besteht nach
Carl Schmitt darin, daß er in eine bestimmte überkommene Vorstellung
flieht, die ihn blind macht für Veränderungen der Realität. Also schafft
der Romantiker einen Gegensatz zum Unabwendbaren und verliert dadurch
den Bezug zum real Erforderlichen zugunsten von Utopien, deren
schöpferisches Zentrum er selbst ist.
Wahrscheinlich würde der
identitäre Romantiker hier einhaken und bestreiten, blind zu sein für
die Veränderungen der Realität – man sei im Gegenteil doch geradezu
hellsichtig.
Der entscheidende Aspekt liegt im Begriff des Unabwendbaren (in der
Diktion des Merkelismus würde man vom „Alternativlosen“ sprechen). Das
Unabwendbare bezeichnet dasjenige, was angesichts seiner Mächtigkeit
nicht zu leugnen ist. Nicht zu leugnen ist heute das (noch) durch die
USA dominierte Machtgefüge aus frei strömendem Kapital und Warenverkehr,
dem Willen zur Kontrolle über sämtliche Rohstoffressourcen, der
Freisetzung frei vagabundierender Arbeits- und Konsumentenmassen in
Verbindung mit einer globalisierten, durch die USA gesteuerten
Sicherheitstechnologie.
Diese Maschinerie funktioniert wie ein gigantischer Müllschlucker,
der alle überkommenen Bestände erbarmungslos einzuziehen und zu
zerhäckseln droht, um sie entweder für einen neuen (etwa museal
vermarktbaren) Vernutzungskreislauf wieder aufzubereiten oder aber der
finalen thermischen Verwertung zuzuführen. Sämtliche
identitätsstiftenden Bestände sind davon erfasst – sehr deutlich und
drastisch zu erkennen am Umgang mit der Sprache, an der Ausweisung von
Geschlecht als soziales Konstrukt, am Bestreben nach Auflösung der
klassischen Familie, der Indienststellung ganzer Landschaften in
technologische Abläufe sowie der Wiederaufbereitung der Geschichte als
wohlgefälliges und moralisch erbauliches Infotainment. Was sich nicht
einfügen lässt, wird entsorgt.
Hiergegen also steht das politisch-romantische Bemühen, nationale
oder völkische Identität wiederzuerringen. Stellt es sich dem
Unabwendbaren in Form eines Kampfes – oder weicht es diesem nicht
vielmehr aus durch die romantische, die punktuelle
widerständig-schöpferische Aktion? Wenn ja – wie müsste unser Verhalten
dem Unabwendbaren gegenüber, wie müsste das real Erforderliche aussehen?
Nehmen wir einmal an, daß die Globalisierung und in ihrem Gefolge die
Massenmigration dieses Unabwendbare sei – vieles spricht dafür, neben
dem Augenschein auch der machtvolle innere Zwang des Ganzen. Unabwendbar
ist es in mehrfacher Weise, nicht zuletzt durch die schiere Masse. Wenn
heute, wie es immer so schön heißt, 20 oder 30 Millionen Afrikaner auf
gepackten Koffern sitzen, um alsbald nach Europa zu gelangen, kann man
getrost davon ausgehen, daß es sich nur um die Spitze des Eisbergs handelt.
Selbst wann man ganz Libyen aus Gründen besserer Verwaltbarkeit in ein
riesiges Durchgangslager verwandeln und 70 % der Reisewilligen abweisen
würde, der Druck auf Europa ließe dennoch nicht nach.
Er ließe erst dann
nach, wenn hier alles abgegrast und nichts mehr zu holen wäre. Man kann
sich – weder individuell noch volkswirtschaftlich – auch kaum dem
sonstigen Druck der Globalisierung entziehen. Auch das wäre erst dann
möglich, wenn die gesamte Weltwirtschaft am Boden läge. Die Zerstörung
wäre also eine Chance, würde aber gleichzeitig auch das Risiko bergen,
daß Europa sich in einen einzigen afrikanisch-orientalisch geprägten
Großslum verwandeln würde.
Müssen wir also durch eine solche wahrscheinlich mehrere Jahrzehnte
währende Katastrophe hindurch? Wäre dieses „Hindurch“, wenn sich die
Veränderungen nicht aufhalten lassen, das real Erforderliche im Sinne
Carl Schmitts? Die Hoffnung läge im „Hindurch“ – darin liegt immerhin
die Aussicht auf ein Licht am Ende des Tunnels. Es müssten, um das Ende
des Tunnels mit im Kern weitgehend bewahrter Identität zu erreichen,
Bewahrungszentren eingerichtet werden, in denen das Wertvollste des
abendländischen Menschen überdauern würde – das wären weniger die
konkreten Kunstschätze und Bauten, als vielmehr das geistige Saatgut,
denen diese sich verdanken. Also eine Art gehobenes Preppertum für
metaphysisch Fortgeschrittene.
Für biologisches Saatgut gibt es eine solche Einrichtung bereits –
den Svalbard Global Seed Vault, den weltweiten Saatguttresor auf
Spitzbergen. Der Eingang ist hier zu sehen:
Nun ist
geistiges Saatgut wahrscheinlich noch weitaus empfindlicher als
biologisches Saatgut. Da Papier und Datensätze gleichermaßen
empfindlich, manipulierbar und vergänglich sind, müsste die geistige
Konservierung und die Weitergabe in und durch den Menschen selbst
erfolgen – bewahrt in Herzen und Hirnen, weitergegeben im Ethos.
Sinnvoll wäre wahrscheinlich eine Organisation nach Art alter
Mönchsorden (notabene: ohne Zölibat, denn es wäre auch die genetische
Substanz weiterzugeben), die aber wiederum – weil ihr vielfältige
Verfolgung droht – als solche eher unsichtbar bleiben müsste.
Eingeschworene Gemeinschaften des Bewahrens also, über alle Kontinente
verstreut und in lockerem Kontakt stehend. Lutz Meyer
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