Stationen

Mittwoch, 19. Oktober 2016

Vorbild einer Europäischen Renaissance



Der französische Publizist Dominique Venner sieht in Ernst Jünger den letzten – und ersten Europäer der Zukunft

Herr Venner, Ihr Ende 2009 erschienenes Buch „Ernst Jünger. Un autre destin européen“ (JF 42/09) soll diesen speziell französischen Lesern näherbringen. Warum?
Venner: Jünger hatte stets eine besondere Beziehung zu Frankreich. Seit seiner Kindheit konnte er Französisch sprechen und schreiben. In der französischen Literatur kannte er sich nicht weniger gut aus als in der deutschen. Und von 1941 bis 1944 war er im Pariser Hauptquartier der deutschen Besatzungstruppen stationiert. Damals schloß er Freundschaften mit zahlreichen französischen Schriftstellern. Mit dem Erscheinen seiner Werke „Auf den Marmorklippen“ und „Gärten und Straßen“ in französischer Übersetzung wurde er schließlich als großer Schriftsteller anerkannt.
Zuvor hatte er sich allerdings als Soldat im Ersten Weltkrieg gegen Frankreich und als Vertreter der Konservativen Revolution in Deutschland hervorgetan.
Venner: Ja, aber daß er zudem ein Gegner Hitlers war, ohne jemals sein Vaterland zu verleugnen, rechnete man ihm hoch an. Sogar ein Sozialist wie Staatspräsident François Mitterrand äußerte immer wieder seine Bewunderung für Jünger. Viele französische Intellektuelle, die alles verabscheuen, wofür der Autor der „Stahlgewitter“ steht, sind dennoch fasziniert von seiner Person. Dinge, die sie an einem ihrer Landsleute ablehnen würden, akzeptieren sie bei Jünger. Insgesamt ist das Verhältnis zwischen Jünger und Frankreich sehr facettenreich. Zudem verkörpert er die Versöhnung der beiden karolingischen Brudervölker nach ihrer erzwungenen Trennung durch den Krieg von 1870.
Was verkörpert Ernst Jünger für Sie?
Venner: In ganz jungen Jahren galt meine Bewunderung dem Soldaten, der siebenmal verwundet und mit dem Orden Pour le Mérite ausgezeichnet wurde, dem Verfasser von „Der Kampf als inneres Erlebnis“. Später, sehr viel später, nachdem ich meine eigenen Erfahrungen auf den stürmischen Gewässern der politischen Abenteuer gesammelt hatte, erschien mir Jünger als jemand, der mit einer beispiellosen Kühnheit neue Wege beschritt. Seine Bücher enthalten Antworten darauf, wie sich in einer düsteren und unsicheren Welt Sinn stiften läßt. Er schätzt die geistige Energie als der universellen Vorherrschaft von Materie und Technik überlegen ein.
Steht er für ein heute verlorenes Europa?
Venner: Seine Bücher verhelfen zu der Erkenntnis, daß wir es nicht etwa mit einer politischen Krise zu tun haben, sondern vielmehr mit einer spirituellen Erschütterung, einer Erschütterung der Zivilisation, die etwas völlig anderes als politische Lösungen erfordert. Mein Briefwechsel mit Jünger begann nach der Veröffentlichung eines meiner ersten Bücher – „Baltikum“, 1974 – und endete erst mit seinem Tod. Im Laufe seines langen Lebens hat Jünger sämtliche Gefahren eines Jahrhunderts aus Eisen durchlebt, ohne sich jemals zu beschmutzen. Aus seiner Lebensgeschichte lassen sich unendlich viele Lehren ziehen über die europäischen Dramen dieser Zeit. Sein ritterlicher Geist und seine Haltung waren unverwüstlich. In seiner Körperhaltung drückte sich seine geistige Haltung aus. Haltung zu haben, heißt auch, Distanz zu wahren: Distanz zu den niederen Leidenschaften wie zur Niedertracht der Leidenschaften. Jünger gab sich nicht mit dem Schreiben zufrieden, sondern er lebte, was er schrieb. Ich sehe in ihm ein Vorbild für eine Erneuerung, eine Renaissance.
Was für eine Renaissance?
Venner: Niemand hätte sich um 1900 vorstellen können, wie Europa und die Welt nach 1919, nach 1945 oder nach 1990 aussehen würden. Um unsere Epoche zu verstehen, muß man zunächst die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts zu deuten wissen. Bis 1914 herrschte im Herzen unseres Kontinents eine „europäische Ordnung“, eine dynamische und funktionsfähige Zivilisation, die Tradition und Moderne zu versöhnen vermochte. Der Krieg zerstörte diese Ordnung, die der deutsche, der österreichisch-ungarische und der russische Adel gezimmert hatten. Aus ihren Trümmern bildeten sich lange nach 1917 in der Schützengraben-Generation mächtige Bestrebungen einer restaurativen Revolution: Faschismus und Nationalsozialismus. In ihrer Brutalität und ihrem prometheischen Volontarismus sind sie gescheitert und haben Katastrophen ausgelöst, die noch schlimmer waren als die vorausgegangenen. Diese Kämpfe dauerten bis 1945 an.
Damit ging ein „Zweiter Dreißigjähriger Krieg“ zu Ende, wie Churchill sagte.
Venner: Ja, und es erwies sich, daß dieser Dreißigjährige Krieg mit dem erdrückenden Sieg zweier messianischer Großmächte endete, die beide der aristokratischen und völkischen europäischen Tradition feindselig gegenüberstanden. Der Konflikt brachte nur zwei wahre Sieger hervor: die USA und die UdSSR, die in Jalta zusammenkamen, um Europa aufzuteilen, ihm jegliche Unabhängigkeit zu nehmen und ihre Ideologie aufzuzwingen. Seither befindet sich Europa, dem ein halbes Jahrhundert gewalttätigen Wahnsinns das Rückgrat gebrochen hat, im Schlafzustand.
Blicken Sie also mit Verzweiflung oder mit Hoffnung auf den Alten Kontinent?
Venner: Hoffnung führt weiter als die schwarzen Gedanken. Es ist eine Frage der geistigen Hygiene. Wer etwa den Untergang des kommunistischen Systems erlebt hat, von dem allseits geglaubt wurde, daß es ewig andauern werde, und aktuell den Verfall des amerikanischen Systems ebenso wie das Wiederaufleben starker Identitäten – nun, das vertreibt jeglichen Defätismus. Wenn es eine Gesetzmäßigkeit in der Geschichte gibt, dann ist sie das Unerwartete.
Wenn Sie sich heute in Europa umblicken, dann sehen Sie doch allerdings keine Regierung, die sich nicht den Werten ergibt, gegen die Jünger stets opponiert hat.
Venner: Doch dies wird ein Ende haben. Das heutige Europa bietet einen trügerischen Anschein. Noch sind überall die vollmundigen Versprechen der Werbung und der den Siegern hörigen Politiker zu vernehmen – aber wie lange noch? Die UdSSR ist längst verschwunden und die russische Nation wiedererstanden. Und die USA lähmen ihre inneren Probleme sowie ein „Kampf der Kulturen“, dem sie trotz ihrer Macht hilflos gegenüberstehen. Der Niedergang der US-Utopie wird das Wiedererwachen Europas möglich machen. Wie Homers Odysseus müssen wir geduldig sein und das Erwachen vorbereiten, indem wir die Fehler unserer Väter vermeiden.
Identitäre politische Bewegungen sind in vielen Teilen Europas im Wachsen begriffen, denken Sie derzeit an das Phänomen Geert Wilders in Holland. Aber stehen diese Bewegungen denn tatsächlich für das alte Europa im Sinne Jüngers, oder sind auch sie vielleicht nur eine andere Seite des modernen Liberalismus?
Venner: Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts, dem Untergang des Kommunismus und dem Beginn des „Kampfs der Kulturen“, der das amerikanische Globalisierungsvorhaben aus der Bahn wirft, ist die Welt in ein neues Zeitalter eingetreten. Einzig der Blick des Historikers vermag jene Veränderungen auszumachen, die den Ideologen und den Philosophen entgehen. Das Ende des „Jahrhunderts von 1914“, des 20. Jahrhunderts also, öffnete ein neues historisches Kapitel, das sich nun vor unseren Augen schon wieder schließt. Wir sind bereits in einen neuen Geschichtsabschnitt eingetreten – ohne dies aber zu wissen. Es hat den Anschein, als verändere sich nichts, während tatsächlich alles längst von Grund auf im Wandel begriffen ist. Die Entstehung von „identitären“ oder „Volksbewegungen“ vor allem in Europa ist ein Ausdruck dieser grundlegenden Veränderungen.
Inwiefern?
Venner: Statt von abstrakten Begriffen wie „Kapitalismus“ oder „Liberalismus“ entspräche es der Wirklichkeit eher, von einer „Kosmokratie“ zu sprechen. Diese Neuschöpfung beschreibt besser den Charakter der globalistischen Oligarchie, die das internationale Finanzsystem, das seit den späten sechziger Jahren in den USA seinen Ursprung hatte, im Laufe der Jahre zu etablieren vermochte. Nach welcher inneren Logik funktioniert die „Kosmokratie“? Welches Ziel verfolgt sie? Wie sich bei Adam Smith nachlesen läßt, ist es der individuelle und finanzielle Nutzen derjenigen, die von ihr profitieren. Der Preis, den die Menschen und die Völker dafür zahlen, spielt keine Rolle. Dieses Ziel gilt als höchster Wert, der alles rechtfertigt bis hin zum schlimmsten Übel wie etwa der Masseneinwanderung nach Europa und in seine Kultur. Das kosmokratische System ist auf dem Rausch des Wachstums und auf dem grenzenlosen Konsum nutzloser Produkte aufgebaut.
Aber warum steht es für Sie bereits vor dem Zusammenbruch?
Venner: Es befindet sich ganz unübersehbar in der Krise, denn es ist von den eigenen Exzessen eingeholt worden. Gleichzeitig erleben wir den Anbruch einer gewaltigen Revolution, die in keiner Weise politisch ist, sondern eine Revolution der Vorstellungen und der Verhaltensweisen. Hier in Europa erleben wir eine beginnende Verweigerung des wahnwitzigen Konsums und eine Sehnsucht, sich ein authentischeres Leben aufzubauen, um mit Heidegger zu sprechen. Immer mehr Menschen kommen zu der Überzeugung, daß man, um besser zu leben, weniger konsumieren muß. Das ist ein zutiefst revolutionärer Gedanke. Wir beginnen zu sehen, daß die Produktivität um jeden Preis zerstörerisch ist. Das zeigt zum Beispiel eine französische Statistik vom Herbst 2009 über Selbstmorde bei der Arbeit. Die neuen Arbeitsformen und der Leistungswettbewerb, dem die Kosmokratie das „Humankapital“ unterwirft, treiben demnach Menschen in den Freitod!
Fusionen, feindliche Übernahmen, brutale Veränderungen der Unternehmensstrukturen, der Wettlauf um die Zahlen, der ständige Zeitdruck, der zur Pfuscherei zwingt – zum Verrat an sich selber und am Handwerk. Im Gegensatz dazu steht die allmähliche Erkenntnis, daß die Regeln guten Handwerks lebensnotwendig sind. Damit beginnt eine stille Revolution, und die Vertreter „identitärer“ Forderungen täten gut daran, ihr Aufmerksamkeit zu schenken.
Auch wenn sie wachsen, in den meisten Ländern bleibt den identitären Bewegungen der Durchbruch bislang versagt.
Venner: Es ist schwierig, trotz der Verachtung oder gar Ächtung der Gesellschaft, mit der sie leben müssen, weiterzumachen. Sein Schicksal als Aufständischer hinzunehmen, ohne jemals zu verleugnen, was man ist, ohne der Versuchung zur Normalisierung nachzugeben, ohne den Sirenengesängen des Systems zu erliegen, das erfordert Heldenmut. Diesen kann nur aufbringen, wer ein starkes Bewußtsein seiner Bestimmung in sich trägt und unverbrüchliche Treue gegenüber den eigenen Werten.
Ausgerechnet in Deutschland fehlt eine identitäre Gegenbewegung fast völlig. Warum?
Venner: Das ist eine gute Frage. Es wäre notwendig, intellektuelle und persönliche Treffen zwischen diesen Bewegungen zu initiieren. Vielleicht könnte die junge freiheit hier eine Vorreiterrolle übernehmen?
Wie sieht also die Zukunft Europas aus?
Venner: Ich weiß nicht, wie Europas politische Zukunft aussehen wird. Denn das hängt von Unwägbarkeiten ab. Aber ich glaube daran, daß Europa für immer als Kultur- und Traditionsgemeinschaft weiterbestehen wird. Gestatten Sie mir einen Umweg: China hat stets gewußt, seine Identität zu bewahren – bis zu den Opiumkriegen 1839 bis 1860: Nun war es gezwungen, seine Häfen dem Handel und dem Einfluß aus dem Westen zu öffnen – eine Erfahrung, aus der das Land traumatisiert hervorging. Erstmals in seiner langen Geschichte zweifelte China an sich und seiner Zivilisation. Die folgenden Generationen kamen zu der Überzeugung, daß die Tradition die Ursache des Niedergangs sei. Daraus entsprang eine Serie von Revolutionen. Unter dem Eindruck des Untergangs der Sowjetunion und beeinflußt von der Entwicklung Japans und Singapurs entschied es sich unter Deng Xiaoping, seinem eigenen Weg zu folgen. Vom amerikanisierten Westen hat es die Rezepte der Marktwirtschaft übernommen, dabei jedoch an einem autoritären politischen System festgehalten und auf der geistigen Ebene eine Rückkehr zu den Quellen des Konfuzianismus bewerkstelligt. Mit Abstrichen kann man in der chinesischen Erfahrung am Ende des 19. Jahrhunderts eine Analogie zu dem Trauma sehen, das die Europäer seit dem 1945 durchmachen. Die Europäer haben den Glauben an ihre Werte verloren. Selbst wenn wir das amerikanische Vorbild kritisieren, ahmen wir es nach, weil uns die Freiheit fehlt, uns eine wahrhaft europäische Zukunft vorzustellen. Doch dies beginnt sich zu ändern. Moritz Schwarz/Ivan Denes

Dominique Venner, Jahrgang 1935, wurde in Deutschland vor allem wegen seiner Studie „Söldner ohne Sold. Die Deutschen Freikorps 1918–1923“ (Verlag Paul Neff, 1974) bekannt. Der Publizist und Historiker war Herausgeber der Zeitschrift La Nouvelle Revue d‘Histoire (www.la-nrh.fr). Sein Buch „Ernst Jünger. Un autre destin européen“ (Éditions du Rocher, 2009) ist bislang nicht auf deutsch erschienen.

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