Die jüngsten Landtagswahlen im Mecklenburg-Vorpommern und in Berlin
haben SPD und CDU gedemütigt und die AfD endgültig im deutschen
Parteiensystem verankert.
Die etablierten Parteien sehen sich vor einem
schwierigen Spagat: Sie müssen einerseits die Wähler der AfD umwerben
und dürfen darum deren Urteilskraft nicht anzweifeln und ihre Ängste
nicht kleinreden.
Um die AfD zu delegitimieren, müssen sie andererseits deren Wähler
als verirrte Schafe darstellen, die auf einen bösen Wolf hereingefallen
sind.
Dies kann man nur in Grenzen tun, ohne die Wähler zu beleidigen.
Als Ausweg bietet es sich an, den demokratischen Charakter der AfD in
Frage zu stellen und ihr Führungspersonal moralisch anzuzweifeln.
Das wiederum kann die AfD durch moderates Auftreten und Verzicht auf
allzu scharfe Töne mit Aussicht auf Erfolg unterlaufen und doch in den
Flüchtlings- und Einwanderungsfragen ganz hart bleiben. Mit den beiden
freundlichen Spitzenkandidaten in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin ist
das der AfD weitgehend gelungen.
Im Hinblick auf die Bundestagswahl 2017 eint jetzt alle etablierten
Parteien das Interesse, Normalität zu zelebrieren und Einwanderungs- und
Flüchtlingsfragen sachte in den Hintergrund zu rücken, ganz im Sinn von
erreichter Normalität.
Auf dieser Grundlage müssen sie dann auf die
Vergesslichkeit und die traditionellen Wählerbindungen der Bürger
hoffen. Das kann sogar gelingen, wenn in den nächsten 11 Monaten drei
Bedingungen erfüllt werden:
Erstens: Es gibt eine weiterhin gute Wirtschaftsentwicklung, und die
günstigen Arbeitsmarktzahlen setzen sich fort. Das ist nicht
unwahrscheinlich. Die großen Zahlen langfristig arbeitsloser Flüchtlinge
kriechen erst ganz allmählich in die Statistik. Und die wachsenden
Kosten ihres Unterhalts werden von der positiven Entwicklung der
Steuereinnahmen überlagert.
Zweitens: Große Terroranschläge in Europa oder andere spektakuläre
Ereignisse wie die Silvesternacht in Köln bleiben aus. Dazu sind
naturgemäß keine Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich.
Drittens: Es gibt keine erneute Zunahme des Einwanderungsdrucks. Das
halte ich für unwahrscheinlich. Das Türkeiabkommen funktioniert nur
teilweise, weil es immer noch eine bestimmte Zahl von Flüchtlingen auf
die griechischen Inseln schafft und weil es im Verhältnis dazu kaum
Rückführungen gibt. Daraus wird ein Druck für Deutschland entstehen, in
größeren Zahlen Flüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen. Eine quotale
Verteilung in der EU wird hier erneut nicht funktionieren. Außerdem
steigt die Zahl der Flüchtlinge, vor allem aus Subsahara-Afrika, die es
nach Italien schaffen. Die Italiener werden diese Last irgendwann mit
uns teilen wollen. Schon heute wächst der Zustrom aus dieser Gruppe vor
allem über den Schleichweg durch die Schweiz. Ich halte es für
überwiegend wahrscheinlich, dass es im Verlauf der nächsten 12 Monate zu
einer neuen Flüchtlingskrise kommt, bei der es erneut keine
überzeugende europäische Lösung geben wird.
Dagegen wird die immanente Krise der Währungsunion noch für längere
Zeit auf Parkposition bleiben. Dafür sorgt die Geldpolitik der EZB. Ein
anderes Bild könnte sich ergeben, wenn der italienische
Ministerpräsident Renzi scheitert oder Marine Le Pen bei den
französischen Präsidentschaftswahlen gewinnt. Daraus können
Vertrauenskrisen erwachsen, die auch die Währungsunion gefährden.
Unnötig zu sagen, dass in der gegenwärtigen Situation jedwede Krise rund
um Fragen der Einwanderung oder der Währungsunion die AfD begünstigt.
Vernünftige Voraussagen sind vor diesem Hintergrund kaum möglich. Ich
wage trotzdem eine: Angela Merkel wird erneut Spitzenkandidatin der
Union sein, mit einem gemäßigt grollenden Horst Seehofer im Rücken, der
den letzten Aufstand nicht wagen wird. Ein zweistelliges Ergebnis der
AfD und ein gutes Abschneiden der FDP werden eine rot-rot-grüne Mehrheit
verhindern. Für eine schwarz-grüne Koalition wird es bei einer durch
AfD und FDP geschwächten Union nicht reichen. Union und SPD werden
erneut die Bundesregierung bilden. Aber sie werden dabei lustlos sein.
Österreichische Verhältnisse rücken näher.
Es kann aber auch ganz anders kommen: Die Weltfinanzkrise 2008, die
Griechenlandkrise 2010 und die Flüchtlingskrise 2015 hätte jeweils 12
Monate vorher kaum jemand vorausgesagt, und sie haben jede für sich
unsere Welt nachhaltig verändert.
Alternativszenarien kann ich mir viele denken. Allerdings haben sie
alle eine deutlich geringere Wahrscheinlichkeit. Mit einem davon will
ich schließen.
Krisenhafte Entwicklungen in der Flüchtlingsfrage treiben
die AfD bei der nächsten Bundestagswahl in die Gegend von 20 Prozent.
Schon jetzt liegt sie zwischen 14 Prozent (Forsa) und 16 Prozent
(Infratest dimap). Union, SPD und Linkspartei verzeichnen dramatische
Einbrüche. Nur die Partei der ewig Guten, die Grünen, kommt halbwegs
ungeschoren davon. Eine große Koalition ist rechnerisch unmöglich.
Union, SPD und FDP bilden zusammen eine Regierung, die eine ganz knappe
parlamentarische Mehrheit hat.
Zentrales Koalitionsprojekt wird eine Umkehr in der Einwanderungs-
und Flüchtlingspolitik. Angela Merkel verzichtet auf das Kanzleramt und
tritt als Parteivorsitzende zurück, weil sie die Kursänderung ablehnt.
Wolfgang Schäuble trägt im Auftrag des CDU-Parteivorstandes Horst
Seehofer das Amt des Bundeskanzlers an. SPD und FDP sind einverstanden.
In der Folge setzt die neue Regierung für die Flüchtlings- und
Einwanderungspolitik eine australische Lösung um. Das halte ich für
unwahrscheinlich, wie wohl die meisten meiner Leser Aber noch nie hat
sich in historischen Umbrüchen die Wirklichkeit nach vorher absehbaren
Wahrscheinlichkeiten gerichtet. Dann wären nämlich Bismarck, Stalin,
Hitler, Churchill, Ulbricht oder Adenauer niemals an die Macht gekommen. Thilo Sarrazin
Zuerst erschienen in der Züricher Weltwoche
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.