Stationen

Mittwoch, 26. Oktober 2016

Schwarzer Juni

Es geschah zur Sonnenwende des Jahres 2016. Das sind eigentlich die hellsten Tage des Jahres, tatsächlich aber waren es die schwärzesten. Am 23. Juni gab Großbritannien sein Misstrauensvotum gegen die EU ab und entschied sich für den Austritt aus der EU. Statt des Grexit, den man noch im Jahr 2015 befürchtet hatte – und den man im Interesse der Griechen und Europas besser hätte geschehen lassen sollen –, wird nun tatsächlich der Brexit vorbereitet. Und das geschieht auch deshalb, weil die Briten angesichts der großen Flüchtlingswelle, die Europa kurz vorher überschwemmt hatte, zu der Auffassung gekommen waren, dass die EU die Lage nicht mehr im Griff hat.

Kaum zu glauben eigentlich: Um Griechenland hatte die Bundeskanzlerin gekämpft und dabei sogar ihren Finanzminister Wolfgang Schäuble, der den Grexit ermöglichen wollte, zurückgerufen. Den Austritt des Vereinigten Königreichs, der in wirtschaftlicher Hinsicht gleichbedeutend ist mit dem Austritt der zwanzig kleinsten der 28 EU-Länder, nimmt sie dagegen hin, als ginge er Deutschland nichts an. Nun sitzt sie da mit ihren Migranten und hofft vergebens darauf, dass wenigstens die anderen Länder, die noch bei Kasse sind, sich an deren Finanzierung beteiligen und noch ein paar von ihnen aufnehmen.

Ihr Glück, dass der mazedonische Zaun die Welle zunächst einmal gestoppt hat. .
Und nur zwei Tage vor dem Brexit-Entscheid, am 21. Juni, ist etwas passiert, das für die Zukunft Deutschlands ebenfalls sehr problematisch sein wird: Das deutsche Bundesverfassungsgericht unterwarf sich mit seinem sogenannten OMT-Urteil zur ausufernden Rettungspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), der diese Politik vollauf unterstützt.
Auch dieses Votum und seine Wirkungen nahm die deutsche Politik kaum kommentiert hin. Es schien, als wolle sie es in Schweigen hüllen.

Dabei gaben die Karlsruher mit ihrem Urteil der EZB nichts weniger als einen Freifahrtschein für eine Politik der Vergemeinschaftung der Haftung für Staatsschulden, denn eben dies bedeutet das whatever it takes, das EZB-Chef Mario Draghi im Jahr 2012 unter dem technischen Kürzel Outright Monetary Transaction (OMT) verkündet hatte. Nutznieser dieser Politik sind vor allem die kriselnden Südländer Europas und Frankreich, Zahlmeister die noch einigermaßen gesunden Nordländer, allen voran Deutschland.

Zwar warf das Bundesverfassungsgericht zwei Jahre nach dem OMT-Beschluss den europäischen Währungshütern eine Mandatsüberschreitung vor und sprach in diesem Zusammenhang gar von „Machtusurpation“. In einem beispiellosen Schwenk jedoch schreibt das Gericht in seinem Urteil nun, man könne auch die Auslegung des EuGH, wonach die OMT-Politik der EZB mit europäischem Recht vereinbar sei, „noch hinnehmen“.
Beide Mittsommer-Entscheidungen sind von historischer, ja epochaler Bedeutung für die Zukunft Europas und Deutschlands. Sie stellen eine Zeitenwende dar. Vor allem aus deutscher Sicht machen sie den Juni zu einem pechrabenschwarzen Monat.
Der anstehende Brexit bedeutet, dass Deutschland nun in der EU seinen wichtigsten Verbündeten für eine weltoffene und dem Freihandel verpflichtete EU-Politik  verliert, ohne die die deutsche Exportwirtschaft nicht mehr funktionsfähig wäre. Ganz konkret nämlich verliert Deutschland zusammen mit anderen freihandelsorientierten Ländern die Sperrminorität bei Entscheidungen des EU-Ministerrates.

Im Verbund mit Großbritannien und den Ländern des ehemaligen sogenannten D-Mark-Blocks Niederlande, Osterreich und Finnland hatte Deutschland bislang sein Interesse an einer weltoffenen Handelspolitik in der EU verfolgen und auch durchsetzen können. Damit wird nun bald Schluss sein. Die mediterranen Länder, allen voran Frankreich, die eine eher protektionistische Handelspolitik verfolgen und die mehr auf Staatseingriffe vertrauen mochten als auf das freie Spiel der Marktkräfte, werden alles daransetzen, dass Europa wirtschafts- und handelspolitisch umsteuert. Wenn sich die Protektionisten durchsetzen, wird das exportorientierte Wohlstandsmodell Deutschlands massiv geschädigt.
Zudem wird sich die Eurozone ohne die britische Gegenkraft immer rascher zu einer Fiskalunion entwickeln, so wie sich das die Länder Südeuropas und Frankreich wünschen, um ihre schwindende Wettbewerbsfähigkeit mit Transfers aus dem Norden zu kompensieren. Eine Fiskalunion bedeutet nicht nur, dass es ein gemeinsames Euro-Budget und womöglich einen gemeinsamen Euro-Finanzminister gibt. Sie bedeutet auch, dass allerlei Umverteilungsmechanismen festgelegt werden – von einer Versicherung der Bankkonten bei den angeschlagenen Finanzinstituten bis hin zu einer europaweiten Arbeitslosenversicherung –, die permanente Einkommenshilfen für die nicht mehr wettbewerbsfähigen Länder Südeuropas als festen Rechtsanspruch installieren.

Die Eurozone in eine Fiskalunion zu verwandeln wird nicht nur teuer für Deutschland. Dieser Schritt ist auch insofern problematisch, als er impliziert, dass es immer unwahrscheinlicher wird, dass die osteuropäischen Länder oder Schweden den Euro als Wahrung übernehmen. (…)

Vor diesem Hintergrund ist die OMT-Entscheidung von EuGH und Bundesverfassungsgericht verheerend, weil sie ein für allemal klarmacht, dass der EZB mit rechtlichen Mitteln nicht beizukommen ist. Die EZB kann fortan die Staatspapiere der Krisenländer unbegrenzt kaufen, wenn es darauf ankommt. Auf diese Weise kann sie diese Länder und deren Gläubiger so schützen, als hatte man sich bereits in gemeinschaftlicher Haftung mittels Eurobonds verschuldet. Das druckt die Zinsen und nimmt den Sparern ihre Erträge, obwohl diese Sparer in ihrer Eigenschaft als Steuerzahler und implizite Eigentümer der EZB zugleich weiterhin für die Ausfälle haften müssen. So gehen viele Euroländer immer weiter auf ihrem Weg in den Schuldensumpf, ohne dass ihnen juristische Schuldenschranken Einhalt gebieten könnten. (…)
Kein Zweifel, Europa befindet sich in der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Herausforderungen, vor denen es steht, sind gewaltig, allen voran Euro-Desaster, Flüchtlingswelle und Brexit. Die Gefühle von Unbehagen, Unmut, Aggression und Angst wachsen angesichts dieser Herausforderungen in ganz Europa. Natürlich sind sie keine guten Ratgeber. Und doch lässt der steigende Zuspruch zu extrem orientierten Parteien mit ihren maßlosen Programmen und Parolen überall auf dem Kontinent erahnen, wie schnell vertraute Dinge wie Frieden und Wohlstand verschwinden könnten. (…) Die Neugründung Europas muss gelingen. Wir haben keine Wahl.  Hans-Werner Sinn

Der paneuropaische Haushaltsdiktator

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