Stationen

Sonntag, 8. Januar 2017

Der Westen lässt die Christen im Stich

PAZ: Wie geht es den Christen in Syrien und dem Irak?
Ignatius Joseph III. Younan: Die Konflikte in beiden Ländern gehen unvermindert weiter. Die religiösen und nationalen Minderheiten haben am meisten unter der chaotischen Situation des Krieges zu leiden. Ich komme gerade von einem Besuch der verlassenen christlichen Ortschaften in der Ninive-Ebene bei Mossul im Irak zurück. Ich war schockiert, als ich die zerstörten Orte und Kirchen von über 100000 vor zwei Jahren vertriebenen Christen gesehen habe, deren Existenzgrundlage von den Terroristen des Islamischen Staates (IS) ausgelöscht wurde. Alle Kirchen der einst christlichen Städte Qaraqosh, Bartella und Karamles wurden profaniert und zerstört. Überall konnte man an den Mauern Hassbotschaften gegen Christen und deren Symbole lesen. Die Terroristen haben auch versucht, fast alle christlichen Gebäude anzuzünden, darunter auch Schulen, Krankenhäuser, Kindergärten und Gemeindezentren, so als wolle man die Rückkehr der Geflüchteten für immer verhindern. Es war zu erkennen, dass nur Christen das Ziel der Zerstörungswut der islamistischen Terroristen waren.

PAZ: Wie ging es dann weiter?
Ignatius Joseph III. Younan: In Qaraqosh, einst eine christliche Stadt von 50000 Einwohnern, habe ich einen Gottesdienst auf einem improvisierten Altar vor einem verbrannten Tabernakel in der Kirche der Unbefleckten Empfängnis gefeiert, die in den 1930er Jahren von Überlebenden des osmanischen Völkermords erbaut worden war. Nur ein paar christliche Soldaten und Pressevertreter haben an dem Gottesdienst teilgenommen. Ich erinnerte sie daran in meiner Predigt, dass wir Christen die Nachkommen von Glaubenszeugen und Märtyrern seien und dass das Kreuz zugleich ein Symbol des Leidens und der Auferstehung sei. Ich möchte den Heiligen Vater bitten, diese Kirche zu einer Basilika zu erheben. Im Anschluss an den Gottesdienst habe ich mit Vertretern der Regierung und von Hilfs­organisationen die Zukunft des Christentums im Nordirak besprochen. Dabei wurde deutlich, dass keine Christen in diese einst mehrheitlich christliche Region in der Ninive-Ebene zurückkehren werden, wenn es nicht für sie internationale Sicherheitsgarantien geben wird. Die Frage einer christlichen Autonomie wurde auch angeschnitten, aber sie ist für uns nicht vorrangig.

PAZ: Sie haben die Lage der Christen im Nahen Osten mit dem Völkermord von 1915 verglichen. Warum?
Ignatius Joseph III. Younan: Wie 1915 beim großen Völkermord der Christen im Osmanischen Reich bilden auch heute wieder die Bürgerkriege in Syrien und dem Irak mit dem durch diese verursachten Chaos den Nährboden für Hass und Gewalt gegen die Minderheiten, die wie 1915 als Sündenböcke, diesmal für die Fehler des Westens, herhalten müssen. Ich weiß, wovon ich spreche, meine Eltern stammen aus der heute türkischen Stadt Mardin. Sie wurden 1915 mit den Armeniern in die mesopotamische Wüste getrieben um zu sterben. In Mesopotamien haben sie die heutige Stadt Hassake in Syrien gegründet, wo ich geboren wurde.

PAZ: Wieso sind die Islamisten gerade jetzt so mächtig geworden?
Ignatius Joseph III. Younan: Die Islamisten sind nicht zufällig so mächtig geworden. Der Beginn des Chaos war nicht der Arabische Frühling von 2011, sondern die US-Intervention im Irak von 2003. Das war der Beginn des IS im Irak und später in Syrien. Die Christen haben in der Geschichte des Irak und Syriens nach der Unabhängigkeit eine wichtige Rolle gespielt. Es gab viele christliche Minister und Abgeordnete in beiden Ländern. Dies war mit der Invasion von 2003 und dem Sturz von Saddam Hussein vorbei. Der
Westen mit seinem Wunsch, Demokratie von oben einzuführen, ist schuld am Chaos in unseren Ländern. Der Arabische Frühling hat dann das Chaos noch verstärkt. Es ist jetzt die Pflicht jener Nationen, die diese ungeheuerliche Situation mit geschaffen haben, sich dafür einzusetzen, dass das Chaos beendet wird.

PAZ: Warum dauert der Konflikt in Syrien so lange?
Ignatius Joseph III. Younan: Die Situation in Syrien ist eine ganz andere als in Ägypten, Tunesien oder Libyen. Syrien ist ein Land vieler religiöser und ethnischer Minderheiten, die den ganzen Konflikt viel komplexer machen. Man glaubte, das Assad-Regime würde schnell zusammenbrechen, aber stattdessen wurden fast eine halbe Million Menschen getötet, viele Millionen vertrieben, und der Krieg ist heute, nach fünf Jahren, genauso festgefahren wie zu Beginn des Konfliktes. Der Westen wollte nach dem Beginn des Arabischen Frühlings die Demokratie in den Nahen Osten bringen, aber hier gibt es keine wirkliche Trennung zwischen Religion und Staat. Deshalb konnten diese Staaten die Demokratie nicht akzeptieren. Erst als in Frankreich hunderte Menschen dem Islamismus zum Opfer fielen und in Deutschland eine Million Flüchtlinge vor der Tür standen, gingen einigen Politikern die Augen auf. Sie merkten, dass der Westen weit mehr in diesem Konflikt beteiligt ist, als man bisher glaubte. Während man sich bis dahin durchaus mit einem nie endenden Konflikt oder auch mit einigen neuen „gescheiterten Staaten“ abgefunden hatte, musste jetzt schnell gehandelt werden, um die Terroristen und die Flüchtlinge zu stoppen. Auch die westlichen Medien, die ein ganz verzerrtes und einseitiges Bild des Konfliktes gaben, haben sich dadurch zu Komplizen dieser Katastrophe gemacht.

PAZ: Weshalb kommen gerade jetzt so viele Flüchtlinge nach Europa?
Ignatius Joseph III. Younan: Als man im letzten Jahr den leblosen Körper eines Kindes am türkischen Strand gefunden hat, sind viele Menschen im Westen menschlich und mitfühlend geworden. Aber warum hat die internationale Gemeinschaft nicht Druck auf Saudi-Arabien und die Golfstaaten ausgeübt, diese Staaten kann man von Syrien zu Fuß erreichen, ohne ein Meer zu durchqueren. Warum hat man Saudi Arabien nicht gesagt: „Ihr seid ein menschenleeres Land, ihr habt viel Öl und Geld. Warum lasst ihr nicht diese armen Leute, die eure Glaubensbrüder sind und am Ertrinken sind, in euer Land. Zur großen Wallfahrt kommen doch auch Millionen Muslime nach Mekka jedes Jahr.“ Vielleicht ist es Saudi-Arabiens Strategie, diesen Muslimen nicht zu helfen, weil sie andere Interessen haben? Stattdessen sagt man uns in Syrien, das saudische Regierungssystem sei besser als das in Syrien. Warum sind Zigtausende von islamistischen Söldnern aus aller Welt in unser Land gekommen? Gewöhnlich kommen Kämpfer aus einem Nachbarland, wie es in Afrika und Asien geschieht. Aber im Falle Syriens kamen Dschihadisten aus der ganzen Welt. Kein Land hat sie gestoppt, das ist ein Beweis für die unehrliche Politik des Westens. Viele dieser islamistischen Söldner kommen doch auch aus dem Westen, dennoch hat der Westen Assad dafür kritisiert, dass er die Syrer vor diesen Verbrechern beschützt hat, die man frei hat ausreisen lassen und von denen man weiß, wie gefährlich sie sind.

PAZ: Welche Rolle spielt der Papst?
Ignatius Joseph III. Younan: Der Papst ist ein Verteidiger der Gerechtigkeit. Er hat oft zu einem Ende der Gewalt und zur Solidarität mit den verfolgten Christen im Nahen Osten aufgerufen und gebetet. Aber die bedrohten Gemeinschaften brauchen jetzt mehr als Worte, sie brauchen Taten. Die Geste des Papstes, zwölf muslimische syrische Flüchtlinge von Griechenland aus mit nach Rom zu nehmen, haben viele syrische Christen nicht verstanden. Er wollte mit dieser Geste der Welt zeigen, dass das Christentum niemanden wegen seiner Religion, Rasse oder Hautfarbe diskriminiert. Wenn ich dem Papst begegne, werde ich ihm sagen: Heiliger Vater, mit zwölf Syrern ist das Problem nicht gelöst. Wir wollen, dass der Papst das Gewissen der Welt auch für die Lage der Christen im Nahen Osten aufrüttelt.

PAZ: Sie haben auch den syrischen Staatschef Baschar Al Assad getroffen?
Ignatius Joseph III. Younan: Präsident Assad hat vor Kurzem eine Gruppe von Bischöfen empfangen. In einem sehr offenen Gespräch hat er ein großes Interesse geäußert, dass die Christen in Syrien bleiben. Er hat selbst nach der Rückeroberung der christlich-aramäischsprachigen Stadt Maalula die zerstörten Kirchen und Klöster besucht und die Ikonen von der Erde aufgehoben. Das unter Assad eingeführte säkulare Regime war das einzige im Nahen Osten, das den Christen und anderen Minderheiten und auch den Frauen die volle Teilnahme an der Gesellschaft ermöglichte. Das darf man nicht aufs Spiel setzen und durch das jetzt herrschende Chaos ersetzen. Präsident Assad geht von einer ausländischen Verschwörung aus, welche zum Ziel hat, Syrien zu unterwerfen und zu zerstören. Wir haben ihm die verzweifelte Lage vieler Christen vorgestellt, und er hat versprochen, dass Syrien bald von den Terroristen befreit sein wird.

PAZ: Was fühlten Sie nach den Terroranschlägen in Paris und Nizza?
Ignatius Joseph III. Younan: Wir fühlen uns sehr traurig wegen dieser Terroranschläge, und wir haben Angst vor der Zukunft wegen dieser Bedrohung durch dschihadistische Angriffe. Allerdings spielten westliche Politiker und Medien keine gute Rolle bei diesen Attentaten. Sie pflegten ihre Augen vor dem Problem der Radikalisierung des Islams zu verschließen. Sie behaupten, das Ganze sei nur ein Problem von einigen Muslimen oder von ein paar Radikalen. Aber meiner Meinung nach geht das an der Wurzel des Problems vorbei. Die große Mehrheit der muslimischen Gemeinschaft will Religion und Staat nicht trennen. Und da sie ihren Koran wörtlich verstehen, werden wir für immer diese fanatischen, radikalen Menschen haben, die sagen: „Das ist das Wort von Gott, der uns bittet, die Ungläubigen zu bekämpfen.“ Das ist die Wurzel des Problems. Es gibt im Koran gewaltverherrlichende Verse im Namen Gottes. Wir wissen, dass im Islam der Koran wörtlich gelesen und interpretiert wird. Jede islamische Gruppe kann diese Verse interpretieren, wie sie möchte, weil es keine endgültige religiöse Autorität gibt. Nicht alle Muslime sind Terroristen, aber leider sind die Terroristen des 21. Jahrhunderts bislang fast alle Muslime gewesen.

PAZ: Was persönlich war die tiefste Wunde in diesen Jahren des Konflikts für Sie?
Ignatius Joseph III. Younan: Da ich selbst aus Hassake stamme und den syrischen Konflikt aus erster Hand erlebe, hat mich am meisten schockiert, als der IS im letzten Jahr in die friedlichen assyrischen Dörfer der Khabur-Region in der Nähe von Hassake eingedrungen ist und die Bewohner, allesamt Nachkommen des christlichen Genozids im Osmanischen Reich, zwang zu fliehen. Ungefähr 300 bis 400 Menschen wurden entführt. Einige wurden freigelassen, das Saarland hat eine Gruppe dieser Befreiten aufgenommen, aber wir wissen noch nichts über viele andere. Dafür sei dem Saarland ganz herzlich gedankt, und das war auch ein Grund, warum ich gerade nach Saarlouis, wo viele dieser ehemaligen Geiseln leben, gekommen bin.  PAZ


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