PAZ: Wie geht es den Christen in Syrien und dem Irak?
Ignatius
Joseph III. Younan: Die Konflikte in beiden Ländern gehen unvermindert
weiter. Die religiösen und nationalen Minderheiten haben am meisten
unter der chaotischen Situation des Krieges zu leiden. Ich komme gerade
von einem Besuch der verlassenen christlichen Ortschaften in der
Ninive-Ebene bei Mossul im Irak zurück. Ich war schockiert, als ich die
zerstörten Orte und Kirchen von über 100000 vor zwei Jahren vertriebenen
Christen gesehen habe, deren Existenzgrundlage von den Terroristen des
Islamischen Staates (IS) ausgelöscht wurde. Alle Kirchen der einst
christlichen Städte Qaraqosh, Bartella und Karamles wurden profaniert
und zerstört. Überall konnte man an den Mauern Hassbotschaften gegen
Christen und deren Symbole lesen. Die Terroristen haben auch versucht,
fast alle christlichen Gebäude anzuzünden, darunter auch Schulen,
Krankenhäuser, Kindergärten und Gemeindezentren, so als wolle man die
Rückkehr der Geflüchteten für immer verhindern. Es war zu erkennen, dass
nur Christen das Ziel der Zerstörungswut der islamistischen Terroristen
waren.
PAZ: Wie ging es dann weiter?
Ignatius Joseph III.
Younan: In Qaraqosh, einst eine christliche Stadt von 50000 Einwohnern,
habe ich einen Gottesdienst auf einem improvisierten Altar vor einem
verbrannten Tabernakel in der Kirche der Unbefleckten Empfängnis
gefeiert, die in den 1930er Jahren von Überlebenden des osmanischen
Völkermords erbaut worden war. Nur ein paar christliche Soldaten und
Pressevertreter haben an dem Gottesdienst teilgenommen. Ich erinnerte
sie daran in meiner Predigt, dass wir Christen die Nachkommen von
Glaubenszeugen und Märtyrern seien und dass das Kreuz zugleich ein
Symbol des Leidens und der Auferstehung sei. Ich möchte den Heiligen
Vater bitten, diese Kirche zu einer Basilika zu erheben. Im Anschluss an
den Gottesdienst habe ich mit Vertretern der Regierung und von
Hilfsorganisationen die Zukunft des Christentums im Nordirak
besprochen. Dabei wurde deutlich, dass keine Christen in diese einst
mehrheitlich christliche Region in der Ninive-Ebene zurückkehren werden,
wenn es nicht für sie internationale Sicherheitsgarantien geben wird.
Die Frage einer christlichen Autonomie wurde auch angeschnitten, aber
sie ist für uns nicht vorrangig.
PAZ: Sie haben die Lage der Christen im Nahen Osten mit dem Völkermord von 1915 verglichen. Warum?
Ignatius
Joseph III. Younan: Wie 1915 beim großen Völkermord der Christen im
Osmanischen Reich bilden auch heute wieder die Bürgerkriege in Syrien
und dem Irak mit dem durch diese verursachten Chaos den Nährboden für
Hass und Gewalt gegen die Minderheiten, die wie 1915 als Sündenböcke,
diesmal für die Fehler des Westens, herhalten müssen. Ich weiß, wovon
ich spreche, meine Eltern stammen aus der heute türkischen Stadt Mardin.
Sie wurden 1915 mit den Armeniern in die mesopotamische Wüste getrieben
um zu sterben. In Mesopotamien haben sie die heutige Stadt Hassake in
Syrien gegründet, wo ich geboren wurde.
PAZ: Wieso sind die Islamisten gerade jetzt so mächtig geworden?
Ignatius
Joseph III. Younan: Die Islamisten sind nicht zufällig so mächtig
geworden. Der Beginn des Chaos war nicht der Arabische Frühling von
2011, sondern die US-Intervention im Irak von 2003. Das war der Beginn
des IS im Irak und später in Syrien. Die Christen haben in der
Geschichte des Irak und Syriens nach der Unabhängigkeit eine wichtige
Rolle gespielt. Es gab viele christliche Minister und Abgeordnete in
beiden Ländern. Dies war mit der Invasion von 2003 und dem Sturz von
Saddam Hussein vorbei. Der
Westen mit seinem Wunsch, Demokratie von
oben einzuführen, ist schuld am Chaos in unseren Ländern. Der Arabische
Frühling hat dann das Chaos noch verstärkt. Es ist jetzt die Pflicht
jener Nationen, die diese ungeheuerliche Situation mit geschaffen haben,
sich dafür einzusetzen, dass das Chaos beendet wird.
PAZ: Warum dauert der Konflikt in Syrien so lange?
Ignatius
Joseph III. Younan: Die Situation in Syrien ist eine ganz andere als in
Ägypten, Tunesien oder Libyen. Syrien ist ein Land vieler religiöser
und ethnischer Minderheiten, die den ganzen Konflikt viel komplexer
machen. Man glaubte, das Assad-Regime würde schnell zusammenbrechen,
aber stattdessen wurden fast eine halbe Million Menschen getötet, viele
Millionen vertrieben, und der Krieg ist heute, nach fünf Jahren, genauso
festgefahren wie zu Beginn des Konfliktes. Der Westen wollte nach dem
Beginn des Arabischen Frühlings die Demokratie in den Nahen Osten
bringen, aber hier gibt es keine wirkliche Trennung zwischen Religion
und Staat. Deshalb konnten diese Staaten die Demokratie nicht
akzeptieren. Erst als in Frankreich hunderte Menschen dem Islamismus zum
Opfer fielen und in Deutschland eine Million Flüchtlinge vor der Tür
standen, gingen einigen Politikern die Augen auf. Sie merkten, dass der
Westen weit mehr in diesem Konflikt beteiligt ist, als man bisher
glaubte. Während man sich bis dahin durchaus mit einem nie endenden
Konflikt oder auch mit einigen neuen „gescheiterten Staaten“ abgefunden
hatte, musste jetzt schnell gehandelt werden, um die Terroristen und die
Flüchtlinge zu stoppen. Auch die westlichen Medien, die ein ganz
verzerrtes und einseitiges Bild des Konfliktes gaben, haben sich dadurch
zu Komplizen dieser Katastrophe gemacht.
PAZ: Weshalb kommen gerade jetzt so viele Flüchtlinge nach Europa?
Ignatius
Joseph III. Younan: Als man im letzten Jahr den leblosen Körper eines
Kindes am türkischen Strand gefunden hat, sind viele Menschen im Westen
menschlich und mitfühlend geworden. Aber warum hat die internationale
Gemeinschaft nicht Druck auf Saudi-Arabien und die Golfstaaten ausgeübt,
diese Staaten kann man von Syrien zu Fuß erreichen, ohne ein Meer zu
durchqueren. Warum hat man Saudi Arabien nicht gesagt: „Ihr seid ein
menschenleeres Land, ihr habt viel Öl und Geld. Warum lasst ihr nicht
diese armen Leute, die eure Glaubensbrüder sind und am Ertrinken sind,
in euer Land. Zur großen Wallfahrt kommen doch auch Millionen Muslime
nach Mekka jedes Jahr.“ Vielleicht ist es Saudi-Arabiens Strategie,
diesen Muslimen nicht zu helfen, weil sie andere Interessen haben?
Stattdessen sagt man uns in Syrien, das saudische Regierungssystem sei
besser als das in Syrien. Warum sind Zigtausende von islamistischen
Söldnern aus aller Welt in unser Land gekommen? Gewöhnlich kommen
Kämpfer aus einem Nachbarland, wie es in Afrika und Asien geschieht.
Aber im Falle Syriens kamen Dschihadisten aus der ganzen Welt. Kein Land
hat sie gestoppt, das ist ein Beweis für die unehrliche Politik des
Westens. Viele dieser islamistischen Söldner kommen doch auch aus dem
Westen, dennoch hat der Westen Assad dafür kritisiert, dass er die Syrer
vor diesen Verbrechern beschützt hat, die man frei hat ausreisen lassen
und von denen man weiß, wie gefährlich sie sind.
PAZ: Welche Rolle spielt der Papst?
Ignatius
Joseph III. Younan: Der Papst ist ein Verteidiger der Gerechtigkeit. Er
hat oft zu einem Ende der Gewalt und zur Solidarität mit den verfolgten
Christen im Nahen Osten aufgerufen und gebetet. Aber die bedrohten
Gemeinschaften brauchen jetzt mehr als Worte, sie brauchen Taten. Die
Geste des Papstes, zwölf muslimische syrische Flüchtlinge von
Griechenland aus mit nach Rom zu nehmen, haben viele syrische Christen
nicht verstanden. Er wollte mit dieser Geste der Welt zeigen, dass das
Christentum niemanden wegen seiner Religion, Rasse oder Hautfarbe
diskriminiert. Wenn ich dem Papst begegne, werde ich ihm sagen: Heiliger
Vater, mit zwölf Syrern ist das Problem nicht gelöst. Wir wollen, dass
der Papst das Gewissen der Welt auch für die Lage der Christen im Nahen
Osten aufrüttelt.
PAZ: Sie haben auch den syrischen Staatschef Baschar Al Assad getroffen?
Ignatius
Joseph III. Younan: Präsident Assad hat vor Kurzem eine Gruppe von
Bischöfen empfangen. In einem sehr offenen Gespräch hat er ein großes
Interesse geäußert, dass die Christen in Syrien bleiben. Er hat selbst
nach der Rückeroberung der christlich-aramäischsprachigen Stadt Maalula
die zerstörten Kirchen und Klöster besucht und die Ikonen von der Erde
aufgehoben. Das unter Assad eingeführte säkulare Regime war das einzige
im Nahen Osten, das den Christen und anderen Minderheiten und auch den
Frauen die volle Teilnahme an der Gesellschaft ermöglichte. Das darf man
nicht aufs Spiel setzen und durch das jetzt herrschende Chaos ersetzen.
Präsident Assad geht von einer ausländischen Verschwörung aus, welche
zum Ziel hat, Syrien zu unterwerfen und zu zerstören. Wir haben ihm die
verzweifelte Lage vieler Christen vorgestellt, und er hat versprochen,
dass Syrien bald von den Terroristen befreit sein wird.
PAZ: Was fühlten Sie nach den Terroranschlägen in Paris und Nizza?
Ignatius
Joseph III. Younan: Wir fühlen uns sehr traurig wegen dieser
Terroranschläge, und wir haben Angst vor der Zukunft wegen dieser
Bedrohung durch dschihadistische Angriffe. Allerdings spielten westliche
Politiker und Medien keine gute Rolle bei diesen Attentaten. Sie
pflegten ihre Augen vor dem Problem der Radikalisierung des Islams zu
verschließen. Sie behaupten, das Ganze sei nur ein Problem von einigen
Muslimen oder von ein paar Radikalen. Aber meiner Meinung nach geht das
an der Wurzel des Problems vorbei. Die große Mehrheit der muslimischen
Gemeinschaft will Religion und Staat nicht trennen. Und da sie ihren
Koran wörtlich verstehen, werden wir für immer diese fanatischen,
radikalen Menschen haben, die sagen: „Das ist das Wort von Gott, der uns
bittet, die Ungläubigen zu bekämpfen.“ Das ist die Wurzel des Problems.
Es gibt im Koran gewaltverherrlichende Verse im Namen Gottes. Wir
wissen, dass im Islam der Koran wörtlich gelesen und interpretiert wird.
Jede islamische Gruppe kann diese Verse interpretieren, wie sie möchte,
weil es keine endgültige religiöse Autorität gibt. Nicht alle Muslime
sind Terroristen, aber leider sind die Terroristen des 21. Jahrhunderts
bislang fast alle Muslime gewesen.
PAZ: Was persönlich war die tiefste Wunde in diesen Jahren des Konflikts für Sie?
Ignatius
Joseph III. Younan: Da ich selbst aus Hassake stamme und den syrischen
Konflikt aus erster Hand erlebe, hat mich am meisten schockiert, als der
IS im letzten Jahr in die friedlichen assyrischen Dörfer der
Khabur-Region in der Nähe von Hassake eingedrungen ist und die Bewohner,
allesamt Nachkommen des christlichen Genozids im Osmanischen Reich,
zwang zu fliehen. Ungefähr 300 bis 400 Menschen wurden entführt. Einige
wurden freigelassen, das Saarland hat eine Gruppe dieser Befreiten
aufgenommen, aber wir wissen noch nichts über viele andere. Dafür sei
dem Saarland ganz herzlich gedankt, und das war auch ein Grund, warum
ich gerade nach Saarlouis, wo viele dieser ehemaligen Geiseln leben,
gekommen bin. PAZ
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