Stationen

Montag, 2. Januar 2017

Vor einem Jahr

Einmal mehr befindet sich der Mittlere Osten im Chaos. Diesmal steht kein Despot im Mittelpunkt, sondern eine terroristische Bewegung, die man im Westen Islamischer Staat oder IS nennt. Der IS geht weiter als jede terroristische Organisation zuvor. Er will nicht nur einen Staat übernehmen, sondern die Grenzen auslöschen, die von England und Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg gezogen wurden, und eine vollkommen neue Ordnung durchsetzen: ein Kalifat, das, als erste Stufe, vom Mittelmeer bis an den Persischen Golf reichen soll. 

Entstanden im Irak, der dank George W. Bush keine funktionierende Regierung mehr hat, griff die Bewegung auf Syrien über. Dort mischte sie sich in den Bürgerkrieg, den ein anderer Despot, Baschar al-Assad, sowohl gegen sein eigenes Volk als auch gegen verschiedene Milizen führt.
Dieser Bürgerkrieg dauert jetzt viereinhalb Jahre. Fast von Anfang an hat der Westen gegen Assad gekämpft und dessen „liberale“ Gegner unterstützt. Fast von Anfang an hat man die Tatsache übersehen, dass Assad, so übel, wie er war und ist, einen souveränen Staat regierte und seine Grenzen kannte. Zum Beispiel nahm er Abstand davon, auf den Golanhöhen gegen Israel zu kämpfen, und seit 2006 fordert er die Hisbollah nicht mehr auf, den Norden Israels mit Raketen zu beschießen. Nicht so der IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi. Dessen Ansprüche beinhalten an irgendeinem Punkt die Vernichtung - und keineswegs nur Eroberung - des Libanon, Jordaniens und Israels.
Aber der IS ist nur einer der Akteure, die das Chaos des syrischen Bürgerkriegs in einen wahren Hexenkessel kämpfender Parteien verwandelt haben. Das Nuseirat und die syrische Armee beiseitegenommen, sind derzeit involviert: die Hisbollah, der Iran, die Kurden, die Türkei, Israel (das zugegeben hat, regelmäßig Ziele in Syrien anzugreifen), die Amerikaner, die Franzosen, die Russen und bald auch die Briten. Am effektivsten agieren momentan die Russen und Assads Armee. Erstere stellen die Luftwaffe in Form von Kampfflugzeugen und Cruise-Missiles, Letztere Bodentruppen. In dieser Kombination haben sie angefangen, Gebiete zurückzuerobern, die der IS okkupiert hatte. Was wiederum ein Grund dafür ist, dass der IS seine Aufmerksamkeit auf Paris gerichtet hat und nun droht, dasselbe auch im Rest von Europa zu tun.

Im Vergleich dazu sind die Reaktionen des Westens kläglich. Wenn der Westen in den vergangenen 60 Jahren Streitkräfte in sogenannte Entwicklungsländer entsandte, sind sie fast immer besiegt worden. Vom Algerienkrieg bis in die Gegenwart haben sie so gut wie nie ihre Ziele erreicht. Meistens mussten sie fliehen, zum Teil gedemütigt.
Die Menschen im Westen wollten nicht mehr ihr Zuhause verlassen und in fernen Ländern kämpfen, deren Namen ihnen fremd klangen. Wer wollte ihnen deshalb Vorwürfe machen? Gibt es irgendeinen guten Grund, warum westliche Männer (und ja, um Gottes willen, auch ein paar westliche Frauen) sich dort erschießen oder in Stücke sprengen lassen sollten?
Dieser Widerwille westlicher Nationen, Verluste hinzunehmen, hat dazu geführt, dass man sich auf die Luftwaffe als wichtigstes Mittel der bewaffneten Problemlösung konzentriert hat. Bis 1991 war diese Waffe gewöhnlich bemannt, seitdem besteht sie zunehmend aus Raketen und Drohnen. Die Ersten, die Flugzeuge im Krieg benutzten, waren die Italiener, als sie 1911 die Türken in Libyen zurückschlugen. Seitdem war die Lektion immer dieselbe: Im konventionellen Krieg gegen eine andere Armee eingesetzt, ist die Luftwaffe absolut unverzichtbar und kann kriegsentscheidend sein. Eingesetzt gegen eine Guerilla oder Terroristen, ist sie nützlich, aber eher in einer unterstützenden Rolle. Anderthalb Jahre nachdem die USA angefangen haben, den IS zu bombardieren, hat das sogar Außenminister Kerry begriffen.
In dieses syrische Chaos will Kanzlerin Merkel nun also die Bundeswehr schicken. Keineswegs, was der Himmel verhüten möge, auf eine wirklich ernsthafte Weise, die zu Opfern und Resultaten führen könnte, sondern in der üblichen zögerlichen Art, die weder Fisch noch Fleisch ist. Das heißt: Vier bis sechs Tornado-Kampfflieger werden geschickt, ein Land auszukundschaften, in dem ohnehin schon jeder Quadratzentimeter durch Drohnen, Flugzeuge und Satelliten von verschiedenen Staaten überwacht wird; eine Fregatte soll den französischen Flugzeugträger „Charles de Gaulle“ schützen helfen, der im östlichen Mittelmeer kreuzt, weit weg von der Gefahrenzone; und ein paar Tanker sollen französische Kampfjets versorgen, bevor sie sich weiter auf den Weg machen, um in Syrien Gott weiß was zu bombardieren.
Der Einsatz mag viele Dinge nicht erreichen, aber ein paar Politiker über sie beruhigen - zum Beispiel was die deutsch-französische Allianz betrifft. Deren Bestätigung ausgenommen, ist es fast hundertprozentig sicher, dass der Einsatz keinen Nutzen bringen wird. Im Gegenteil: Mit hoher Wahrscheinlichkeit liefert er dem IS und anderen islamischen Extremisten Gründe, auch deutsche Ziele anzugreifen, so wie sie es im November des vergangenen Jahres in Paris taten.
Und die Lösung? Deutschland und der Rest der Welt sollten endlich aufhören, sich in die Hosen zu machen. Als Erstes sollten sie sich entscheiden, wer ihr wirklicher Feind ist: Assad oder IS? Auf diese Frage kann es nur eine Antwort geben. Nicht weil Assad ein guter Kerl ist, sondern der kleinere Teufel. Und weil seine alawitisch dominierte Armee, bei all ihrer unzweifelhaften Beteiligung an Gräueltaten, die sich nicht allzusehr von jenen des IS unterscheiden, die einzige Kraft ist, deren Bodentruppen zu kämpfen bereit sind.
Aber den wahren Feind zu erkennen ist nur der erste Schritt. Putin, der mächtigste Spieler im syrischen Chaos, hat wiederholt erklärt, dass es keine Lösung geben kann ohne Assad. Oder dass jedenfalls eine solche Lösung mit großer Sicherheit eine schlimmere wäre als eine Lösung mit ihm. Er hat Recht. Anstatt sich ihm entgegenzustellen, sollte der Westen Assad in seine Anstrengungen einbeziehen. Auch wenn das bedeutet, dass die syrische Allianz mit dem Iran intakt bleibt. Auch auf Kosten einer Brüskierung der Saudis, die letzten Endes ja doch niemanden sonst haben, an den sie ihr Öl verkaufen können.
Entweder das - oder das syrische Chaos wird ewig währen. Es werden sogar noch mehr Länder und noch mehr Truppen in diesen Konflikt hineingezogen, und er wird, wie ein Eiterherd, Terroristen in alle Richtungen ausspeien.   Martin van Creveld am 2. 1. 2016

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