Einmal mehr befindet
sich der Mittlere Osten im Chaos. Diesmal steht kein Despot im
Mittelpunkt, sondern eine terroristische Bewegung, die man im Westen
Islamischer Staat oder IS nennt. Der IS geht weiter als jede
terroristische Organisation zuvor. Er will nicht nur einen Staat
übernehmen, sondern die Grenzen auslöschen, die von England und Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg
gezogen wurden, und eine vollkommen neue Ordnung durchsetzen: ein
Kalifat, das, als erste Stufe, vom Mittelmeer bis an den Persischen Golf
reichen soll.
Entstanden im Irak,
der dank George W. Bush keine funktionierende Regierung mehr hat, griff
die Bewegung auf Syrien über. Dort mischte sie sich in den Bürgerkrieg,
den ein anderer Despot, Baschar al-Assad, sowohl gegen sein eigenes
Volk als auch gegen verschiedene Milizen führt.
Dieser
Bürgerkrieg dauert jetzt viereinhalb Jahre. Fast von Anfang an hat der
Westen gegen Assad gekämpft und dessen „liberale“ Gegner unterstützt.
Fast von Anfang an hat man die Tatsache übersehen, dass Assad, so übel,
wie er war und ist, einen souveränen Staat regierte und seine Grenzen
kannte. Zum Beispiel nahm er Abstand davon, auf den Golanhöhen gegen
Israel zu kämpfen, und seit 2006 fordert er die Hisbollah nicht mehr
auf, den Norden Israels
mit Raketen zu beschießen. Nicht so der IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi.
Dessen Ansprüche beinhalten an irgendeinem Punkt die Vernichtung - und
keineswegs nur Eroberung - des Libanon, Jordaniens und Israels.
Aber der IS ist
nur einer der Akteure, die das Chaos des syrischen Bürgerkriegs in einen
wahren Hexenkessel kämpfender Parteien verwandelt haben. Das Nuseirat
und die syrische Armee beiseitegenommen, sind derzeit involviert: die
Hisbollah, der Iran, die Kurden, die Türkei, Israel (das zugegeben hat, regelmäßig Ziele in Syrien
anzugreifen), die Amerikaner, die Franzosen, die Russen und bald auch
die Briten. Am effektivsten agieren momentan die Russen und Assads
Armee. Erstere stellen die Luftwaffe in Form von Kampfflugzeugen und
Cruise-Missiles, Letztere Bodentruppen. In dieser Kombination haben sie
angefangen, Gebiete zurückzuerobern, die der IS okkupiert hatte. Was
wiederum ein Grund dafür ist, dass der IS seine Aufmerksamkeit auf Paris
gerichtet hat und nun droht, dasselbe auch im Rest von Europa zu tun.
Im Vergleich
dazu sind die Reaktionen des Westens kläglich. Wenn der Westen in den
vergangenen 60 Jahren Streitkräfte in sogenannte Entwicklungsländer
entsandte, sind sie fast immer besiegt worden. Vom Algerienkrieg bis in
die Gegenwart haben sie so gut wie nie ihre Ziele erreicht. Meistens
mussten sie fliehen, zum Teil gedemütigt.
Die Menschen im
Westen wollten nicht mehr ihr Zuhause verlassen und in fernen Ländern
kämpfen, deren Namen ihnen fremd klangen. Wer wollte ihnen deshalb
Vorwürfe machen? Gibt es irgendeinen guten Grund, warum westliche Männer
(und ja, um Gottes willen, auch ein paar westliche Frauen) sich dort
erschießen oder in Stücke sprengen lassen sollten?
Dieser
Widerwille westlicher Nationen, Verluste hinzunehmen, hat dazu geführt,
dass man sich auf die Luftwaffe als wichtigstes Mittel der bewaffneten
Problemlösung konzentriert hat. Bis 1991 war diese Waffe gewöhnlich
bemannt, seitdem besteht sie zunehmend aus Raketen und Drohnen. Die
Ersten, die Flugzeuge im Krieg benutzten, waren die Italiener, als sie
1911 die Türken in Libyen zurückschlugen. Seitdem war die Lektion immer
dieselbe: Im konventionellen Krieg gegen eine andere Armee eingesetzt,
ist die Luftwaffe absolut unverzichtbar und kann kriegsentscheidend
sein. Eingesetzt gegen eine Guerilla oder Terroristen, ist sie nützlich,
aber eher in einer unterstützenden Rolle. Anderthalb Jahre nachdem die
USA angefangen haben, den IS zu bombardieren, hat das sogar
Außenminister Kerry begriffen.
In dieses syrische Chaos will Kanzlerin Merkel nun also die Bundeswehr
schicken. Keineswegs, was der Himmel verhüten möge, auf eine wirklich
ernsthafte Weise, die zu Opfern und Resultaten führen könnte, sondern in
der üblichen zögerlichen Art, die weder Fisch noch Fleisch ist. Das
heißt: Vier bis sechs Tornado-Kampfflieger werden geschickt, ein Land
auszukundschaften, in dem ohnehin schon jeder Quadratzentimeter durch
Drohnen, Flugzeuge und Satelliten von verschiedenen Staaten überwacht
wird; eine Fregatte soll den französischen
Flugzeugträger „Charles de Gaulle“ schützen helfen, der im östlichen
Mittelmeer kreuzt, weit weg von der Gefahrenzone; und ein paar Tanker
sollen französische Kampfjets versorgen, bevor sie sich weiter auf den
Weg machen, um in Syrien Gott weiß was zu bombardieren.
Der Einsatz mag
viele Dinge nicht erreichen, aber ein paar Politiker über sie beruhigen -
zum Beispiel was die deutsch-französische Allianz betrifft. Deren
Bestätigung ausgenommen, ist es fast hundertprozentig sicher, dass der
Einsatz keinen Nutzen bringen wird. Im Gegenteil: Mit hoher
Wahrscheinlichkeit liefert er dem IS und anderen islamischen Extremisten
Gründe, auch deutsche Ziele anzugreifen, so wie sie es im November des
vergangenen Jahres in Paris taten.
Und die Lösung?
Deutschland und der Rest der Welt sollten endlich aufhören, sich in die
Hosen zu machen. Als Erstes sollten sie sich entscheiden, wer ihr
wirklicher Feind ist: Assad oder IS? Auf diese Frage kann es nur eine
Antwort geben. Nicht weil Assad ein guter Kerl ist, sondern der kleinere
Teufel. Und weil seine alawitisch dominierte Armee, bei all ihrer
unzweifelhaften Beteiligung an Gräueltaten, die sich nicht allzusehr von
jenen des IS unterscheiden, die einzige Kraft ist, deren Bodentruppen
zu kämpfen bereit sind.
Aber den wahren
Feind zu erkennen ist nur der erste Schritt. Putin, der mächtigste
Spieler im syrischen Chaos, hat wiederholt erklärt, dass es keine Lösung
geben kann ohne Assad. Oder dass jedenfalls eine solche Lösung mit
großer Sicherheit eine schlimmere wäre als eine Lösung mit ihm. Er hat
Recht. Anstatt sich ihm entgegenzustellen, sollte der Westen Assad in
seine Anstrengungen einbeziehen. Auch wenn das bedeutet, dass die
syrische Allianz mit dem Iran
intakt bleibt. Auch auf Kosten einer Brüskierung der Saudis, die
letzten Endes ja doch niemanden sonst haben, an den sie ihr Öl verkaufen
können.
Entweder das -
oder das syrische Chaos wird ewig währen. Es werden sogar noch mehr
Länder und noch mehr Truppen in diesen Konflikt hineingezogen, und er
wird, wie ein Eiterherd, Terroristen in alle Richtungen ausspeien. Martin van Creveld am 2. 1. 2016
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