Stationen

Mittwoch, 21. September 2016

Die Verleugnung des kulinarischen Eigenen




Kulinarischer Genuss in Deutschland ist ein Minenfeld. Für die einen ist er ein überflüssiger und überteuerter Luxus, solange das Essen reichlich, billig und schmackhaft ist. Für die anderen ist Genuss ein verwerflicher Habitus, da er sich der gesellschaftlichen Verantwortung entzieht und ohne die Unterwerfung unter den  Spinatökologismus meint auskommen zu können.

Es ist schon merkwürdig: sinnliche Verfeinerung und habituelle Gelassenheit haben im Land der Goetheschen Poesie und der Schubertschen Lieder einen schlechten Ruf.
Dass man, wenn man in Deutschland genießt, sich sprachlich bereits auf dem Weg in die Drogenberatung befindet, liegt an jenem, nur im Deutschen existierenden Begriff des „Genussmittels“. Er wird für Lebensmittel verwendet, die nicht aus Gründen des Nährwerts oder der Sättigung konsumiert werden, sondern ihrer anregenden Wirkung wegen: Kaffee, Tee, Kakao, Tabak und Alkohol. Allein psychotrope Substanzen scheinen im Deutschen eine Vorstellung von Genuss auszulösen, alles andere ist dann eine „Sättigungsbeilage“. Nie hat Sprache mehr den Volkscharakter offenbart, als in diesen beiden Begriffen.
Im europäischen Vergleich sind die Konsumausgaben in Deutschland für Essen und Trinken am unteren Ende der Skala. Während jeder deutsche Haushalt fast ein Viertel (ca. 24 Prozent) seiner Ausgaben fürs behagliche Wohnen ausgibt, bleiben für die leiblichen Genüsse nur etwas mehr als 9% übrig. In Frankreich liegen die Ausgaben bei fast 12 Prozent, in Italien und Spanien bei unglaublichen 14 Prozent. Die Bezeichnung als „Krauts“ haben sich die Deutschen also redlich verdient (auch wenn gerade die Briten noch weniger für Essen und Trinken ausgeben).

Dabei wäre es unfair, dem Land der Diplom-Ingenieure und Automobilbauer die Fähigkeit zum Genuss generell abzusprechen. Selbst der französische Restaurantführer „Guide Michelin“ bescheinigt Deutschland - nach Frankreich - die höchste Dichte an Drei-Sterne-Restaurants. Was dennoch auffällt an der deutschen Sterneküche: die wenigsten Spitzenköche kochen deutsch. Ziel ist und bleibt es, die französische Küche modern, klassisch oder eingedeutscht zu interpretieren, von wenigen italienischen oder spanischen Ausnahmen abgesehen.

Nach einigen Besuchen in deutschen Drei-Sterne-Tempeln könnte man fast versucht sein anzunehmen, es gäbe überhaupt keine eigene deutsche Küche - oder zumindest ist der deutschen Spitzenköche Selbstbewusstsein so gering, dass landeseigene Rezepte auf höchstem Niveau neu zu interpretieren sich nicht zu lohnen scheint.

Verleugnung des Eigenen schadet dem Genuss, denn sie erzeugt Unruhe, wo das friedliche Annehmen Not täte. Genauso aber schaden die Panikattacken des politisch Korrekten und das ständige Schielen auf das moralisch Richtige der inneren Ruhe. Gelassenheit entspringt dem Bewusstsein, dass man als Mensch stets hinter seinen eigenen ethischen Idealen zurückbleibt, egal mit welchem Furor man sie vertritt.

Nikotin ist tödlich, Alkohol schädlich, Fleisch karzinogen und zudem noch verheerend für den CO2-Abdruck des Menschen, und Obst und Gemüse müssen bio und aus regionaler Produktion sein, um ein gutes Gewissen zu erzeugen. Wer so durch die Welt läuft, verspürt einen ständigen Tyrannen im Nacken, den er erst durch ayurvedischen Veganismus ruhig gestellt bekommt. Da schließt sich der Kreis zur Verleugnung des Eigenen wieder.
Deutschland ist das Land in Europas Mitte, dem am meisten die Mitte fehlt. Manche haben es auch das Land mit Ich-Schwäche genannt. Nach Sigmund Freud oszilliert der Mensch ständig zwischen seinem Es, seinem Ich und seinem Über-ich, wobei letzteres das rigide System der letzten Wahrheiten und ersteres das triebgesteuerte Lustprinzip umfasst. Irgendwo dazwischen, zwischen lutherischer Völlerei und moralischem Terror ereignet sich der Genuss. Er findet immer nur im Hier und Jetzt statt und verfliegt so schnell, wie er gekommen ist. Er benötigt all die Qualitäten, die das Ich auszeichnen: Aufmerksamkeit, Offenheit, Einfühlungsvermögen, Muße, Realitätssinn und Gegenwärtigkeit. Würde man an Gott glauben, so könnte man im Genuss mit den Sinnen die Herrlichkeit von Gottes Werken erleben.

Dabei ist es kein Zufall, dass es Mönche waren, die unserer heutigen Genusskultur den Weg ebneten. Sie waren es, die im Burgund über Generationen die hervorragendsten Weinlagen klassifizierten; es waren Mönche, die den geregelten Braubetrieb für Bier einführten; und dem Mythos nach war es ein Mönch, der den ersten Champagner produzierte. Die Lockerung des Leibes durch Alkohol wird ganz sicher dem Erleben des Göttlichen nicht abträglich gewesen sein. Heute darf man ja schon froh sein, mit etwas Alkohol das ökonomische und ideologische Höher, Schneller, Weiter etwas abdämpfen zu können.
Ein kühler Sherry mit einigen Oliven, um ins Gespräch zu kommen, ein Glas Champagner, um den Magen anzuregen, ein Riesling, der die Vorspeise begleitet, vielleicht ein Burgunder zur gebratenen Taubenbrust, etwas in Würde Gereiftes zum Rind und eine Beerenauslese oder ein Portwein zum Dessert, dem dann durchaus etwas Nikotin in Form einer Zigarette oder Zigarre folgen darf. Sieht man diese klassische Genussfolge unter modernen - also ärztlichen und moralischen - Gesichtspunkten, kann man das tyrannische Über-Ich gleich wieder zetern hören: wehe, ich sage euch, das Ende ist nah, kehret um und tuet Buße! Denn erst wenn man sich nichts mehr gönnt, muss man sich auch vor nichts mehr fürchten. Religiöse Askese kommt heute im Kleid restloser Aufgeklärtheit.
Genuss aber weist die Verlockungen und Versprechungen des Seelen- und Körperheils von sich. Er ist die schönste Form der Notwehr gegen alle Institutionen, die meinen, es besser für einen zu wissen als man selbst. Dafür lohnt sich zu kämpfen.

Wenn man in Deutschland den Menschen etwas Gutes tun will, wird man Sozialist und geht in die Politik oder macht irgendwas mit Medien. Dass es auch anders geht - ohne Pathos und Quengelei über die Zustände - beweist der Oberkellner. Für mich ist der Oberkellner einer meiner Helden des echten Lebens. Strenggenommen gibt es den Beruf des Kellners in Deutschland gar nicht mehr. Bereits 1980 wurde er abgeschafft. Seitdem heißt es: Restaurantfachmann oder -frau. Das klingt irgendwie mehr nach Profession und nicht nach Aushilfe, mehr nach fachlicher Qualifikation und nicht nach Menschelndem. Wie bedauerlich.

Denn ein guter Oberkellner ist der stille Fachmann fürs Menschliche mit all seinen Abgründen. Ihn zeichnet es aus, immer höflich zu bleiben, dabei aber auch die Distanz zu wahren. Seine Herzlichkeit entspringt nicht einer lauten Stimme, deren Ziel die Verbrüderung ist, sondern dem Interesse an den Wünschen der Gäste und dem Bemühen, sie zu erfüllen. Ein guter Oberkellner ist wie ein guter Gesprächspartner, der nicht vorauseilend allem zustimmt oder beflissen Unterwerfung signalisiert, sondern der gelassen Hilfe anbietet und durchaus auch mit hintergründiger Schlagfertigkeit glänzen kann, damit ein schöner Abend ein unvergesslicher wird.
In jedem Moment strahlt der Oberkellner die gelassene Souveränität aus, dass es sein Haus und seine Party ist, auf der man herzlich gerne Gast sein darf. Aber die ungeschriebenen Regeln bestimmt er, und die Fähigkeit, diese Regeln mit Freundlichkeit und Sanftmut einzusetzen, vermitteln dem Gast das Gefühl von Aufgehobenheit in einer ihm meist fremden Umgebung. Der Oberkellner ist sozusagen der perfekte Integrationsbeauftragte mit Lenkungsfunktion und Weisungsbefugnis.
Aber alle Theorie ist grau. Wie sieht das in der Praxis aus? Es ist schon einige Jahre her, dass ich zu einer Veranstaltung im Hotel Adlon in Berlin eingeladen war. Es ging um französische Weine und der große Raum war mit einem halben Dutzend runder Tische festlich eingedeckt. Nachdem die Weinprobe vorüber war, standen noch einige Herren (meist sind es nur Herren) um die Tische und unterhielten sich. Der Oberkellner, der mit unaufdringlicher Heiterkeit der Probe immer wieder eine neue Richtung zu geben verstanden hatte, stand einige Tische weiter mit einer kleinen Gruppe und unterhielt sie. An meinem Tisch hatte sich das Thema irgendwie festgefahren und niemand wusste so recht, wie man es jetzt auflösen und beenden könne.
Während der Oberkellner den entfernt gelegenen Tisch bespaßte, räumte er die Flaschen mit geübten Bewegungen ab. Da er mir schon vorher aufgefallen war, beobachtete ich ihn. Trotz seiner Tätigkeit des Abräumens wirkte er zu keinem Zeitpunkt vom Gespräch abgelenkt oder auch nur im entferntesten gestresst.  Jeder Griff saß, jede Bewegung war geschmeidig und jedes Wort wirkte verbindlich. Die Gruppe an seinem Tisch brach auf und der Oberkellner kam mit einigen Flaschen an unserem Tisch vorbei und sagte, ohne stehen zu bleiben, etwas Beschwingtes in unsere Richtung (ich weiß nicht mehr, was es war), das unsere kleine Gruppe sofort zum Lachen brachte und die leicht verkrampfte Situation mit Heiterkeit beendete. Jeder packte seine Sachen und brach auf.

Erst auf dem Nachhauseweg fiel mir auf, dass dies die liebenswerteste Herauskomplimentierung gewesen war, die ich je erfahren hatte. Der Oberkellner musste das Festgefahrene des Gesprächs aus der Entfernung wohl bemerkt haben und hatte es nun mit seinem Kommentar, der zudem noch perfekt auf das Thema gepasst hatte, aufzulösen vermocht. Ich glaube sagen zu dürfen, dass er uns alle auf angenehmste Weine von uns selbst befreit hatte.
Nur: wie hatte er gewusst, worüber wir uns unterhalten hatten? Er stand doch einige Meter entfernt und unterhielt sich selbst sehr angeregt, während er zudem noch die Flaschen abräumte? Mit Multitasking wäre das Phänomen nur undeutlich umschrieben.
Ein guter Oberkellner ist in dem überschaubaren Raum seines Wirkens überall gleichzeitig anwesend. Seine Wahrnehmung ist nicht nur vertikal aus der Ebene, sondern er schaut im Gesamtblick von oben auf den Raum, die Tische, die Gäste - und ahnt mit wohlgeleitetem Instinkt, wo seine Anwesenheit gefragt ist. Nach einem guten Oberkellner wird man nie rufen müssen. In seinem Restaurant kann man sich ganz entspannt zurücklehnen, sich fallen lassen und wird einen Abend lang schweben lernen.

Ein guter Oberkellner ist ein Eingeweihter im Körper eines Kellners (mit oftmals, auch in Deutschland, österreichischem Akzent). An ihm wird der Unterschied zwischen einem guten Restaurant und einem hervorragenden Restaurant augenfällig. Deswegen sind gute Oberkellner so rar, wie sie gefragt sind.
Zum Spiel eines guten Oberkellners gehört aber auch der gute Gast. In einem Gespräch meinte eine meiner liebsten Oberkellnerinnen vor kurzem, dass sie an der Form, wie Männer mit ihren Frauen den Raum betreten, bereits weiß, was der Abend bringen wird und was sie zu erwarten hat. Und darüber, so sagte sie, könnte sie ein Buch schreiben. Aber das ist ein anderes Thema. Und zur Höflichkeit eines Oberkellners gehört eben auch das rechte Schweigen.





Vor wenigen Tagen predigte meine köchelnde Lieblingsmoralistin Sarah Wiener auf dem Fuldaer Wirtschaftstag: „Du bist, was Du isst: Gesunde Ernährung – gesunde Mitarbeiter“. Essen also im Dienste der ökonomischen Ressourcenmaximierung des Humankapitals - wenn einem so viel Gutes widerfährt, das ist schon einen Asbach Uralt wert!

Von jeher sollte Essen für das Volk mehr sein als nur simple Sättigung. Jedes religiöse Speisegesetz dient ja nicht dem Sattwerden der Gläubigen, sondern im Gegenteil dem komplizierteren Sattwerden zur Glaubensmaximierung und eigenen Erhöhung. Und auch daran, dass die tonangebende Elite den Menschen ständig ins Essen reinpfuschen will, hat sich bis heute nichts geändert. Dann ist es eben nicht mehr Gott, dem man im Essen huldigt, sondern dem Unternehmen, bei dem man tätig sein darf.
Und dann ist da noch dieser Satz, der nur im Deutschen so richtig funktioniert und über den ich gefühlt dreimal täglich stolpern muss: „Du bist, was Du isst“ - es ist der kategorische Imperativ der gesunden Küche und man ist allzu leicht geneigt, ihn zustimmend abzunicken. Nur: der Satz ist schlicht falsch. Nimmt man ihn wörtlich, wird seine Absurdität sofort deutlich. Fleischkonsum führt nicht zwingend zu Hornochsen und Vegetarismus allein macht noch keine Hohlbirnen. Die Metamorphose des Essens, die es beim Lauf durch den menschlichen Körper durchmacht, führt ja gerade dazu, dass Du am Ende eben nicht bist, was Du isst. Also muss der Satz irgendwie im übertragenen Sinne gemeint sein.


„Gesund Du bist, wenn gesund Du isst“ wäre beispielsweise eine hübsche Abwandlung. Dabei spricht jede Lebenserfahrung auch dagegen. Gerade die Gesündesten unter uns, die Kinder und Jugendlichen, haben eine auffällige Vorliebe für alles, was gemeinhin als ungesund gilt.

In der Gier nach Leben scheint das gesunde Essen nicht eingepreist zu sein.
Auffällig ist, dass die meisten Menschen erst beginnen, sich gesund zu ernähren, wenn die Gier nach Leben nachgelassen oder irgendein Gebrechen sie bereits ereilt hat - also das gesunde Essen eher das Leiden lindern helfen soll. Beliebt ist auch die Variante, bei der das gesunde Essen so lautstark und penetrant gepredigt wird, dass es schon wieder an ein psychotisches Problem erinnert. Und dann ist die Frage erlaubt, was gesünder ist: penibel auf die scheinbar gesunde Ernährung zu achten und zu einem Nervenbündel zu mutieren - oder es ab und an mal so richtig genussvoll krachen zu lassen und dabei beschwingt und heiter zu bleiben?
Aus dem Satz „Du bist, was Du isst“ flüstert dennoch etwas Tiefschürfendes, Moralisches, ja fast Metaphysisches. Nicht das Bewusstsein – das Essen bestimmt unser Sein. Isst man etwas Schlechtes, so sollte man sich schämen. Isst man etwas Gutes, so darf man sich eben genau so fühlen. Das biologisch-dynamisch angebaute Gemüse aus der Region ist gut, ergo der Esser ein Guter. Das tote Tier, das auf dem Teller landet, verwandelt den Esser flugs in einen Mörder. Wenn es denn so einfach wäre.
Vegetarier und Veganer genießen momentan einen ausgezeichneten Ruf. Wie sie das geschafft haben und welche Kniffs und Tricks sie in der Gewissensindustrie der Medien erfolgreich eingesetzt haben - dieses Rätsels Lösung soll nachfolgenden Generationen überlassen bleiben. Dass einige der größten Menschheitsverbrecher Vegetarier waren, wird ja gerne von Carnivoren zur Selbstentlastung ins Feld geführt. Am moralisch hervorragenden Ruf des Vegetarismus hat es freilich nichts geändert.


Bekanntlich ist, wofür es sich zu leben lohnt, auch das, wofür es sich zu sterben lohnt. Manchmal sogar zu morden lohnt. Dass die am tiefsten fühlenden Tierschützer oftmals einen Hass auf ihre Mitmenschen entwickeln, der sich bis zur Mordlust steigern kann, ist ein bekanntes Phänomen.

Erst vor wenigen Wochen kam die kalifornische Restaurantkette „Café Gratitude“ (Café Dankbarkeit - remember: Du bist, was Du isst!) in die Schlagzeilen. Die Eigentümer hatten bekanntgegeben, dass sie nach 40 Jahren Vegetarismus privat für sich wieder angefangen hätten, Fleisch zu essen. Die Folge: selbst vor Morddrohungen schreckte die enttäuschte Fangemeinde nicht zurück. Dass dagegen Menschen, die zum Vegetarismus konvertieren, von Carnivoren mit dem Tod bedroht würden, ist mir bisher noch nicht untergekommen.

Als der bekannte Politiker Pim Fortuyn, der sich 2003 anschickte, holländischer Ministerpräsident zu werden, im Wahlkampf ermordet wurde, war die Vita seines Mörders Volkert van der Graaf eigentlich die eines klassischen „Gutmenschen“: politisch links, sozial engagiert, fremdenfreundlich, für Tierrechte kämpfend und vor allem: streng vegan.
Nach dem Essen zu urteilen, hätte so einer, der keiner Fliege etwas zu leide tun konnte, niemals nicht auf einen Menschen schießen können. Er konnte und er tat es.

Du bist, was du isst - das Essen bestimmt dein Sein. Diese Sätze werden auch mit metaphysischem Spin nicht richtiger. Wenn du ein Idiot bist, kannst du Gold fressen und bleibst doch ein Idiot. Und wenn du dein Leben nicht dir selbst und den kleinen Heiterkeiten des Daseins verschreibst, sondern irgendeiner Selbstoptimierung oder Weltrettung, dann hast du ein Problem, dass sich auch mit gesundem Essen nicht lösen lässt. Darauf einen Dujardin!


Es ist eine der weit verbreiteten „urban legends“, dass moderne Stadtkinder dächten, Kühe seien lila. Dieser Erkenntnisschock beruht in Wahrheit auf einem Malspiel, das Mitte der 90er Jahre an bayrischen Kindergärten ausprobiert wurde. Die Kinder erhielten die Silhouette einer Kuh und sollten sie ausmalen. Ein Drittel wählte die Farbe lila und die Legende war geboren: Kinder wüssten nicht mehr, wie Kühe in der Natur aussehen. Dass einfach Kinderlust und Malspaß an der Farbe lila - natürlich auch in Kombination mit der bekannten Schokoladenmarke - zu dem Ergebnis geführt haben mag, wurde geflissentlich ignoriert.
Früher war alles besser - diese Einstellung ist merkwürdigerweise bei den progressiv-grünen Kräften der Gesellschaft genauso vertreten wie bei den Kulturkonservativen. Der moderne Mensch habe sich von seinem Ursprung entfernt, was vor allem bei der Nahrung augenfällig wird. Wir gehen in den Supermarkt und kaufen in Plastikfolie eingeschweißtes Fleisch oder Fertiggerichte, die mehr an Weltraumnahrung erinnern als an Kochkunst. Entfremdetes Essen ist das Resultat.
Dabei ist Entfremdung einer der Grundpfeiler jeder modernen Gesellschaft und, um mit Klaus Wowereit zu sprechen, das ist auch gut so. Wir fahren Auto, ohne zu wissen, wie der Einspritzmotor funktioniert oder schalten den Computer an, ohne auch nur das geringste Wissen über Bits und Bytes zu haben. Arbeitsteilung regiert unseren Alltag. Dass niemand mehr für sich selbst arbeitet, sondern nur noch für andere, ist eine der großen Errungenschaften der Zivilisation und hat technischen Fortschritt erst möglich gemacht. Warum sollte das beim Essen anders sein?
Zur gleichen Zeit, als die Legende der lila Kuh geboren wurde, griff auch die Hochküche das entfremdete Essen auf und erfand, was man unter dem Schlagwort „Laborküche“ oder „Molekularküche“ zusammenfassen könnte: die totale Entfremdung vom Originalprodukt mit allerlei chemischen Hilfsmitteln aus dem Labor.

Gefriertrocknungen, Injektionen, Sphärisierungen und vieles mehr, was nur unter Zuhilfenahme von Chemielabor und Medizintechnik möglich war, kam mit dem spanisch-katalanischen Koch Ferran Adrià und seinem weltberühmten Restaurant elBulli groß in Mode. Es war die Abkehr von aller Essensphilosophie, die sich am Ursprungsprodukt orientierte. Um im Bild zu bleiben: auch in der hochbesternten Luxusküche wurde die Kuh auf einmal lila.

Die Kehrseite der Entfremdung kann die Geringschätzung sein. Über das Ursprungsprodukt nichts mehr zu erfahren, führt oftmals dazu, dass man den Wert nicht mehr zu schätzen weiss. Bei einem Auto oder einem Computer ist es der hohe Preis, der schmerzt und zum achtsamen Umgang förmlich zwingt. Beim Umgang mit Essen, der in Deutschland oftmals nur vom günstigen Preis bestimmt wird, setzt jedoch eine Spirale der Unachtsamkeit ein, die dazu führen kann, dass man den schmutzigen und oftmals blutigen Herstellungsprozess der Nahrung schlichtweg verdrängt. Es soll ja Menschen geben, die glauben, dass kein Tier geschlachtet wurde, wenn sie ihr Fleisch statt beim Schlachter im Supermarkt kaufen.
Die große Kunst beim Genuss ist es, achtsam zu bleiben, ohne in Betulichkeit abzurutschen. Und dafür haben uns die Götter die Sinneslust geschenkt. Diese kann deftig, prall oder zart sein, immer aber führt sie den Menschen vom ideologiebehafteten Kopf in den Reichtum der Welt. Ein wunderbares Beispiel dafür durfte ich letzte Woche in Berlin erleben. Statt in die besternte Hochgastronomie trieb es mich in ein neu eröffnetes Restaurant in Berlin-Kreuzberg, ins Tulus Lotrek in der Fichtestraße.

Dass der Name an den fanzösischen Maler erinnert, die Schreibweise jedoch bewusst eingedeutscht ist, könnte man bereits als Lust am Spielerischen deuten. Es ist aber mehr. Wäre der Name im Original geschrieben, würde die Fährte in Richtung eines klassisch französischen Restaurants gelegt. Doch das Tulus Lotrek ist weder klassisch noch französisch, der Name stattdessen vielmehr ein verballhornter Hinweis auf einen Maler, der für seine Trinkfestigkeit und Genusssucht berüchtigt war. Und darum geht es in diesem Berliner Etablissement: um den prallen, sinnlichen, manchmal auch schmutzigen Genuss.
Küchenchef Max Strohe liebt das Spiel mit widersprüchlichen Aromen und Texturen, um zwischen ihnen kreative Brücken für ein stimmiges sinnliches Erlebnis zu bauen. Jedoch sind nicht die artig nebeneinander drapierten Aromenträger Mittelpunkt der Küche, sondern die wilde Vermengung verschiedenster Teile zu einem höheren Ganzen. Und das gelingt ganz ausgezeichnet.

Fast untypisch für seine Art zu kochen, erscheint dann der wohl spektakulärste Gang seines 7-Gänge-Menüs, der mich zu dieser kleinen Eloge inspiriert hat: die Challans-Ente mit roter Beete, Wasabi und Himbeere. Hier liegen die einzelnen Aromen nebeneinander auf dem Teller und man kann selbst entscheiden, welche Wahlverwandschaft man ausprobiert. Was den Gang so spektakulär macht: die rote Blutsauce, die ähnlich einem Jackson-Pollock-Gemälde mit wildem Pinselstrich auf dem Teller landet und derart eine Reminiszenz an die Herkunft des Fleisches liefert: hier hat ein Tier für uns sein Leben gelassen und wir ehren es, indem wir nicht vergessen, dass dies ein blutiger Prozess war. Das ist natürlich so gekonnt und unpädagogisch gemacht, dass man sich genauso frei fühlt, einfach die wilde Schönheit dieses Arrangements zu bewundern.
Hier wird nichts verdrängt, nichts - wie in der Hochküche oft üblich - so entfremdet und sublimiert, dass man fast schon wieder meint Weltraumnahrung zu essen, sondern hier wird derbe und doch ungemein kunstvoll aufgetischt.

Nicht zu verschweigen ist dabei auch die Leistung der Hausherrin Ilona Scholl, die es mit ihrer herzlichen und vorlauten Art sofort schafft, Nähe herzustellen und Berührungsängste zu nehmen, ohne dass man gleich geduzt würde. Dem Spieltrieb in der Küche entspricht das Spielerische im Service aufs Vorzüglichste, so dass das Tulus Lotrek ein „casual prall dining“-Erlebnis vermittelt, das die Sinne genauso anspricht wie das Herz und durchaus einem Idealbild von Genuss zu entsprechen schafft.
Natürlich verfremdet jede Kochkunst das Ursprungsprodukt, sonst bekäme man ja einen Lappen rohen Fleisches oder hartes Gemüse auf den Teller. Dass jedoch Kühe lila sein könnten, darauf würde man im Tulus Lotrek ganz sicher nicht kommen. Und auch das ist gut so.

Denkt man an Deutschland, so denkt man zuerst an Maschinenbau, Blasmusik und Adolf Hitler. Denkt man an Frankreich, so denkt man an Camembert, Baguette und Rotwein. Zum Glück sind beide Klischees denkbar ungerecht. Bei Deutschland soll es noch einige geben, die auch an Goethe, Schiller und Beethoven denken. Und für Frankreich gilt: die Kombination von Camembert und Rotwein ist in Genießerkreisen ungefähr so hoch angesehen wie Labskaus. Oder Fish ‚n‘ Chips. Wenn etwas, entgegen aller Fernsehwerbung, nicht zusammen taugt, dann ist es Rotwein und Weichkäse.

Das Schmierige vom Weichkäse stülpt sich wie eine fettige Gesichtsmaske über die Geschmacksknospen und lässt jeden trockenen Rotwein wie Metall schmecken. Kann man mal ausprobieren. Muss man aber nicht.
Was die Franzosen jedoch geschafft haben: denkt man an Frankreich, denkt man an Genuss und savoir vivre. Vor allem französischer Wein ist aus den Kellern der Genießer aus aller Welt nicht wegzudenken. Er ist die Benchmark, der von anderen Ländern unerreichte Standard, wenn es um Größe, Erhabenheit und Reifepotential von Wein geht. Und wenn es um Hochpreisigkeit geht. Mit dem Jahrgang 2009 knackte das erste Mal eine Vielzahl französischer Weine die bis dahin mythische Schwelle von 1.000 Euro. Wohlgemerkt pro Flasche.
Dabei hätte auch alles anders kommen können. Als sich nach dem großen Krieg 1945 das Zentrum der geopolitischen Macht nach Amerika verlagerte, wanderte auch das Zentrum der Wissenschaft und Kultur mit. Spätestens seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts spielte die Musik, die Literatur und vor allem die bildende Kunst an den Küsten der Vereinigten Staaten. Und die Genusswelt folgte auf dem Fuße.
Aus der etwas selbstverliebten Perspektive der Europäer galt natürlich Europa weiterhin als Hort und Quell der größten Weine der Welt. Bis 1976 die berühmt gewordene „Weinjury aus Paris“ eine Probe veranstaltete, in der die besten Weine Frankreichs gegen die besten Weine aus Kalifornien antraten. Dass die Jury fast ausschließlich aus Franzosen bestand und man derart keine Voreingenommenheit unterstellen konnte, ließ das Ergebnis legendär werden: sowohl bei den Weißweinen wie auch bei den Rotweinen siegte jeweils ein Wein aus Kalifornien. Der Mythos von der französischen Vorherrschaft beim Genuss war gebrochen.

Genauso rasant vollzog sich schließlich die Übergabe der „Bundeslade der Weinkritik“ von Europa an die USA. Die europäischen Weinkritiker, die vornehmlich britisch waren und neben der Weinkritik vor allem mit Weinen handelten, hatten kein großes Interesse ausgebildet, mit ihren Beurteilungen die bestehende Hierarchie der teuersten Weine der Welt durcheinanderzubringen. Zu gut ließ sich mit verstaubten Qualitätskriterien und großen Weinnamen Geld verdienen. Bis schließlich ein amerikanischer Cowboy die Bühne betrat. Sein Name: Robert Parker.

Es ist das wohl größte Verdienst Robert Parkers, dem Rechtsanwalt aus Baltimore, nicht nach Mythos, Preis oder Tradition die Weine beurteilt zu haben, sondern ausschließlich nach dem, was er im Glas vorfand. Und das war gerade in den kühlen 70er Jahren oftmals unreif und unsauber ausgebaut. Mit der den Amerikanern gerne nachgesagten Hemdsärmeligkeit wirbelte Robert Parker vor allem bei den Bordeaux-Weinen die althergebrachten Hierarchien durcheinander. Da er nicht mit Weinen handelte, sondern sich als Anwalt der Weinkäufer verstand, musste er keine Rücksicht auf merkantile Interessen oder befreundete Netzwerke nehmen.

Es war so etwas wie die kopernikanische Wende beim Wein. Auf einmal stand der Konsument und Weinkäufer im Mittelpunkt und nicht mehr eine eingeschworene Gemeinschaft aus Händlern, Kritikern und Erzeugern, die sich gegenseitig die Meriten zuwarfen. Mit der damals starken Kaufkraft des US-Marktes im Rücken avancierte Parker schnell zum einzigen weltweit anerkannten und damit einflußreichsten Weinkritiker auf diesem Erdenrund. Sein Urteil ließ Weinpreise nach oben schnellen und andere abstürzen. Inzwischen findet man selbst im Supermarkt oder Discounter Weine, auf denen die von Parker gegebene Punktzahl als Verkaufsargument prangt.
Europa wehrte sich, wie sich Europa oftmals wehrt: es saß auf dem Sofa und nahm übel. Viel zu groß sei der Einfluss des Amerikaners; er bevorzuge Weine, die dem von Süßigkeiten geprägten Gaumen seiner Landsleute schmeichelten; er habe Netzwerke aufgebaut, die ausschließlich daran werkelten, Weine zu produzieren, die diesem Geschmacksbild entsprächen. Kurzum: Robert Parker sei der Sargnagel der ernsthaften europäischen Weinkultur zugunsten einfach gestrickter Trinkmarmelade und bombastischer Alkoholwerte. Derweil die einen zeterten, investierten die Weingüter in neue Keller, professionelle Berater und saubere Technik. Und siehe: seit den 90er Jahren verbesserte sich die Weinqualität stetig und heute gelten Reife und sauberer Ausbau selbst bei Supermarkt-Weinen als Standard.
Nach den Amerikanern betraten die Japaner die Bühne der Luxusweine, dann die Russen, die Brasilianer und die Inder. Alle hörten sie auf Robert Parker, was die Preise für die auf natürliche Art begrenzte Zahl der Luxusweine in die Höhe schnellen ließ.

Und dann kam China. Das aufstrebende Riesenreich mit dem ungeheuren Menschenpotential ging, nachdem die ersten kapitalistischen Erfolge Früchte getragen hatten, auf Einkaufstour. Und auf einmal gierte die ernsthafte europäische Weinkultur nach nichts anderem, als mit dem Riesenreich in Geschäftsbeziehung zu treten. Wenn irgendwo Wachstumsraten und Preissteigerungen zu erzielen waren, dann nur durch die Nachfrage der Chinesen. Wenn irgendwo noch europäisches Wein-Know-How gefragt war, dann in China. Und man mutmaßt, dass China bald schon das größte Weinanbauland der Erde sein und die kleine „Alte Welt“ abgelöst haben wird.
Und da auch die Genusswelt wie in einem Brennglas die geopolitischen Bewegungen nachzeichnet, ist inzwischen auch die Bundeslade der Weinkritik nach Südostasien gewandert. Ende 2012 verkaufte Robert Parker seine Zeitschrift „Wine-Advocate“, mit der er drei Jahrzehnte die Weinwelt durcheinandergewirbelt hatte, an drei junge Investoren, die in der IT- und Finanzbranche ihr Geld gemacht hatten. Sie kommen aus Singapur und inzwischen sind auch chinesische, thailändische und andere asiatische Weine fester Bestandteil des Wine-Advocate. Der europäische Konsument währenddessen übt sich in Bräsigkeit: der Chines, so lautet das gängige Vorurteil, hat ja keine wirkliche Beziehung zum Wein und kaufe nur, was teuer ist, um Eindruck zu schinden. Außerdem, und das ist das Todesurteil unter Genießern, schütten die in China noch Zucker in den Wein.
Als ein chinesischer Sommelier auf diesen Hang seiner Landsleute, Wein zu süßen, angesprochen wurde, antwortete er sinngemäß: in China werde seit 20 Jahren mit Wein gehandelt, während die westliche Welt seit 350 Jahren Tee kenne. Und noch immer schütte man im Westen Zucker in das asiatische Kulturgetränk. Man solle doch bitte den Chinesen etwas Zeit lassen.

Denn, so ist anzunehmen, China wird in Kürze nicht nur der größte Weinproduzent der Welt werden, sondern auch Weine produzieren, die den europäischen Weinen in nichts nachstehen werden. Dann könnte eine neue „Weinjury aus Paris“ zu einer weiteren Stabübergabe - diesmal nach Asien - führen. Von der Kaufkraft her hat diese Übergabe schon lange stattgefunden.    Markus Vahlefeld

Katechon

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