Genau 25 Jahre danach ist das sogenannte „Pogrom von Hoyerswerda“ ein
Erinnerungsposten von immerhin mittlerer Größe. Es waren in der Tat
gräßliche Bilder, die vom 17. bis zum 23. September 1991 aus der Stadt
in Ostsachsen an die Öffentlichkeit drangen.
Die Randale begann mit einer Attacke jugendlicher Skinheads auf
vietnamesische Markthändler, die sich in ein Wohnheim für ausländische
Vertragsarbeiter flüchteten. Das Heim wurde mehrere Tage und Nächte von
einheimischen und auswärtigen Skins mit Steinen und Brandflaschen
beworfen. Hunderte Zuschauer klatschten Beifall. Die Attacken
verlagerten sich bald auf ein Asylbewerberheim. Die Polizei, noch
verunsichert vom Zusammenbruch der DDR und in der Umstrukturierung
steckend, war überfordert.
Zum Schluß wurden die Vertragsarbeiter, deren Kontrakte aus der
DDR-Zeit ausgelaufen waren, und die Asylbewerber unter dem Beifall der
Randalierer und Sympathisanten – nur ein Bruchteil der Einwohner – in
Autobussen aus der Stadt gebracht.
„In Hoyerswerda hat der häßliche Deutsche sein Coming-out“, schrieb der Spiegel, und die Zeit
donnerte:„Schandmal des Fremdenhasses“! Das war nicht ganz falsch und
lag doch daumenbreit neben dem Sachverhalt. Das Vokabular der alten
Bundesrepublik, das schon an der eigenen Wirklichkeit scheiterte, war
ungeeignet, um die Situation in der Ex-DDR zu erfassen.
Der beste zeitgenössische Text über die Vorfälle erschien weder in
den großen Zeitungen und Magazinen des Westens noch in der, nun ja,
höchstens semiwissenschaftlichen Nachbereitung durch die Konflikt,-,
Demokratie- und Extremismusforscher à la Funke, Heitmeyer oder
Pfahl-Traughber, sondern in der kleinen Wochenpost, einem Presserelikt aus DDR-Zeiten, dem bald das Lebenslicht ausgeblasen wurde.
Er stammte aus der Feder des Schriftstellers Volker Braun, der als
junger Mann Ende der 1950er Jahre im nahe gelegenen Energiekombinat
„Schwarze Pumpe“ und im Tagebau harte Aufbauarbeit geleistet hatte.
Unter dem Titel „Die Leute von Hoywoy (II)“ schrieb er von „haßkalten
Fressen von Jünglingen und den satten Gesichtern Erwachsener, die aus
ihren Wagenburgen Beifall grinsten. Was für eine Rasse, fragte ich mich,
hatte sich hier eingenistet, in den banalen Neubauten, auf den rohen
Maschinen. Was hatte sich ausgebildet in dem faulen Frieden, in der
Langeweile des Staats.“
Doch das war nur die Hälfte der Wahrheit, die andere beginnt mit der
Wiedervereinigung: „Es war ihnen, den Erbauern von einst, den berühmten
Leuten, etwas zugestoßen. Man war mit ihnen umgesprungen, wie kein
Polier, kein Polizist es einst gewagt hatte.“ Eine „Naturgewalt“ sei
über sie hereingebrochen, „die das Gelände entseelte und die Betriebe
verödete. Die sie enteignete ihres unbestimmten Besitzes, ihrer
Sicherheit. (…) Wer waren sie nun. Ihre Blicke, ihre Rechnungen sagten:
verächtliche Wesen. Das hatte man aus ihnen gemacht. Und nun zeigten
sie ihre Kraft, den Schwächeren, und erwiderten sie die Gewalt, die sie
erfuhren auf einen Schlag.“
Braun thematisierte die Synthese zweier Entfremdungserfahrungen. Es
war kein Zufall, daß dieses Gebräu zuerst in Hoyerswerda explodierte.
Hoyerswerda ist keine historisch gewachsene Stadt, sondern am Reißbrett
der sozialistischen Industriepolitik entstanden. Der Marktflecken mit
ursprünglich 7.000 Einwohnern wurde zum Zentrum der Energieversorgung
der DDR. Für die Arbeitskräfte wurden auf der grünen Wiese die
berüchtigten Plattenbauten errichtet, die Einwohnerzahl schnellte auf
das zehnfache empor.
Die Schriftstellerin Brigitte Reimann zog 1961 hierher, um die
Entstehung des Neuen Menschen aus der Nähe zu erleben. Die Begegnung mit
der Realität war niederschmetternd. Einen Eindruck davon vermittelt ihr
Kultroman „Franziska Linkerhand“ (1974). Die Titelfigur ist eine junge
Architektin, deren Träume vom schönen, menschlichen Bauen in „Neustadt“
an den Realitäten und Vorgaben zerschellen. Die Tristesse, die sie
erlebt, ist gnadenlos bis zu „Fenstersturz, Gashahn, Schlaftabletten“.
Die Arbeit in der Braunkohleförderung und Energiewirtschaft und die
für DDR-Verhältnisse gute Bezahlung bildeten das einzige einigende Band,
das sich mit der Deindustrialisierung nach 1990 löste.
Im Herbst 1991
war auch der Glaube, die D-Mark werde sich als allgemeiner Problemlöser
erweisen, als Irrtum erkannt. Die Kinder erlebten ihre Eltern als
schwach, hilflos, als Abhängige. Die Kluft und das Gebaren der
Skinheads, die auf körperliche Kraft, aggressive Männlichkeit und auf
Einschüchterung abstellten, waren Mittel, sich von der Schwäche der
Alten zu absentieren. Martin Walser prägte dafür später den Begriff
„Kostümfaschismus“. Das Problem war leicht zu beschreiben, aber schwer
zu lösen.
Der Minimalkonsens der Vernunft wäre gewesen, die seit dem Mauerfall
aus dem Ruder laufende Asylpolitik, die zu Hunderttausenden neuen
Antragstellern führte und für Konflikte ohne Ende sorgte, schnellstens
abzuändern, anstatt sie in die soziale Streßzone des Ostens zu
exportieren. Der Soziologe Karl Otto Hondrich befand damals: „Eine
gesamtdeutsche und zugleich eine multikulturelle Identität für das Ganze
zu schaffen mutet der Gesellschaft mehr zu, als sie heute einlösen
könnte. Es ist ein Zuviel an Gutseinwollen und Gutmachenwollen, was den
bösen Deutschen hervorbringt.“
Doch soviel Einsicht und politische Rationalität überforderte die
Funktionseliten in den Medien, im Kulturbetrieb, im akademischen
Bereich, im linken und liberalen Lager der Politik.
Sie fühlten sich
ebenfalls unter Streß. Ihnen drohte der Verlust ihrer Diskurshoheit. Sie
hatten die Bundesrepublik als postnational und multikulturell
definiert, die deutsche Teilung zum Akt der historischen Gerechtigkeit
erhoben und die Einheit für obsolet erklärt. 1989 hatte die Geschichte
sie eindrucksvoll ins Unrecht gesetzt. Der intellektuelle Überbau, den
sie errichtet hatten, stellte sich als kaum weniger schrottreif heraus
als die industrielle Hinterlassenschaft der DDR.
Das zuzugeben hätte den endgültigen Prestigeverlust und materielle
Einbußen bedeutet. Das exzessive Asylrecht wurde für sie zu einer Art
Fetisch und letzten Verteidigungslinie. Die Krawalle von Hoyerswerda
kamen ihnen gerade recht. Wenn sie die Wiedervereinigung schon nicht
hatten verhindern können, wollten sie wenigstens für ihre
geistig-moralische Möblierung sorgen. Gestützt auf das mediale
Übergewicht gelang es ihnen, ihren widerlegten Diskursen den Anschein
neuer Berechtigung zu verleihen. Hatten ihre Warnungen vor dem Schoß,
der noch fruchtbar war, vor Nationalismus und Rassismus denn in
Hoyerswerda keine Bestätigung gefunden? Durch den Brustton der Empörung
und Erregung war stets der Unterton der Erleichterung vernehmbar.
Mit Hoyerswerda setzte nun eine Schubumkehr ein, die sich nach einem
ähnlichen Aufruhr in Rostock-Lichtenhagen sowie zwei Brandstiftungen
1992 und 1993 in Mölln und Solingen, wo mehrere Menschen türkischer
Herkunft qualvoll starben, rasant beschleunigte und als „Kampf gegen
Rechts“ institutionalisierte. In dessen Verlauf wurde allen
gegenhegemonialen Bestrebungen erfolgreich der Ruch des Nazismus, des
absolut Unzulässigen angeheftet. Die Diskurseliten konnten auf besorgte
Stimmen aus dem Ausland verweisen, das sich freilich nicht um eine
Faschismus-Renaissance, sondern um eine selbstbewußtere, weniger leicht
erpreßbare Bundesrepublik sorgte.
Neben Hoyerswerda haben Lichtenhagen, Mölln und Solingen sich als
Synonyme für Fremdenhaß und die mörderische „Gefahr von rechts“
durchgesetzt und verselbständigt. Vergessen und verdrängt sind alle
Merkwürdig- und Unstimmigkeiten. In Rostock-Lichtenhagen war mitten in
einem dichtbesiedelten Wohngebiet die Zentrale Aufnahmestelle für
Asylbewerber (ZAST) eingerichtet worden. Ein Leser der JUNGEN FREIHEIT,
der damals in unmittelbarer Nähe der ZAST wohnte, erinnert sich: Täglich
kamen 50 bis 70 Zigeuner an.
Der Supermarkt wurde regelrecht geplündert, die Kinder verrichteten
zwischen den Regalen die Notdurft. Auf den Balkons wurden aus
zerschlagenen Möbeln Lagerfeuer entzündet und Möwen gebraten. Die
Anwohner waren ständig Belästigungen ausgesetzt, Fäkal- und Uringeruch
lag in der Luft. Alle Bitten und Ermahnungen an die Behörden blieben
fruchtlos. Im August 1992 entlud der Zorn der Anwohner sich in
friedlichen Demonstrationen, die spätabends von Trittbrettfahrern
genutzt wurden, um Brandflaschen zu schleudern.
Sie trafen das Wohnheim vietnamesischer Vertragsarbeiter, mit denen
es weder vor noch nach 1989 irgendwelche Schwierigkeiten gegeben hatte.
Zusätzliches Aufsehen erregte die plötzliche Anwesenheit führender Köpfe
der Neonazi-Szene, deren Rolle und Funktion unklar war, während die
mediale, politische und pädagogische Verwertbarkeit auf der Hand lag.
Als Urheber des Brandanschlags auf ein Wohnhaus in Mölln am 23.
November 1992 wurden zwei örtliche Skinheads ermittelt und verurteilt,
doch sogar dem Berichterstatter der Zeit kamen Zweifel: „Den
Schleswiger Richtern liegen keine Geständnisse vor, sie wurden
widerrufen. Die Richter haben auch keine unmittelbaren Tatzeugen;
niemand hat P. und C. das Feuer legen sehen. Die Polizei hat keine
Spuren gefunden, die direkt zu den mutmaßlichen Tätern führen.“
Staranwalt Rolf Bossi legte die Verteidigung nieder, weil, so sein
Eindruck, sie sinnlos geworden und das Gericht zu einer Verurteilung auf
jeden Fall entschlossen sei. Denn während der Prozeß lief, ereignete
sich am 29. Mai 1993 in Solingen ein weiterer Brandanschlag, der die
öffentliche Stimmung endgültig ins Hysterische kippen ließ.
Die Ermittlungsergebnisse waren auch in dem Fall alles andere als
überzeugend. Die vier als Täter ermittelten Jugendlichen wurden im
Rechtsextremismus verortet. Drei der vier Verurteilten verfügten über
einen Intelligenzgrad an der Grenze zur Debilität und nahmen Unterricht
in einer Kampfsportschule, die ausgerechnet von einem V-Mann des
Verfassungsschutzes geleitet wurde.
Viel spricht dafür, daß dieses Kapitel bundesdeutscher Zeitgeschichte gründlich überarbeitet werden muß. Thorsten Hinz
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