Stationen

Dienstag, 20. September 2016

Jüngere Geschichtshermeneutik

Genau 25 Jahre danach ist das sogenannte „Pogrom von Hoyerswerda“ ein Erinnerungsposten von immerhin mittlerer Größe. Es waren in der Tat gräßliche Bilder, die vom 17. bis zum 23. September 1991 aus der Stadt in Ostsachsen an die Öffentlichkeit drangen.

Die Randale begann mit einer Attacke jugendlicher Skinheads auf vietnamesische Markthändler, die sich in ein Wohnheim für ausländische Vertragsarbeiter flüchteten. Das Heim wurde mehrere Tage und Nächte von einheimischen und auswärtigen Skins mit Steinen und Brandflaschen beworfen. Hunderte Zuschauer klatschten Beifall. Die Attacken verlagerten sich bald auf ein Asylbewerberheim. Die Polizei, noch verunsichert vom Zusammenbruch der DDR und in der Umstrukturierung steckend, war überfordert.
Zum Schluß wurden die Vertragsarbeiter, deren Kontrakte aus der DDR-Zeit ausgelaufen waren, und die Asylbewerber unter dem Beifall der Randalierer und Sympathisanten – nur ein Bruchteil der Einwohner – in Autobussen aus der Stadt gebracht.
„In Hoyerswerda hat der häßliche Deutsche sein Coming-out“, schrieb der Spiegel, und die Zeit donnerte:„Schandmal des Fremdenhasses“! Das war nicht ganz falsch und lag doch daumenbreit neben dem Sachverhalt. Das Vokabular der alten Bundesrepublik, das schon an der eigenen Wirklichkeit scheiterte, war ungeeignet, um die Situation in der Ex-DDR zu erfassen.
Der beste zeitgenössische Text über die Vorfälle erschien weder in den großen Zeitungen und Magazinen des Westens noch in der, nun ja, höchstens semiwissenschaftlichen Nachbereitung durch die Konflikt,-, Demokratie- und Extremismusforscher à la Funke, Heitmeyer oder Pfahl-Traughber, sondern in der kleinen Wochenpost, einem Presserelikt aus DDR-Zeiten, dem bald das Lebenslicht ausgeblasen wurde.

Er stammte aus der Feder des Schriftstellers Volker Braun, der als junger Mann Ende der 1950er Jahre im nahe gelegenen Energiekombinat „Schwarze Pumpe“ und im Tagebau harte Aufbauarbeit geleistet hatte. Unter dem Titel „Die Leute von Hoywoy (II)“ schrieb er von „haßkalten Fressen von Jünglingen und den satten Gesichtern Erwachsener, die aus ihren Wagenburgen Beifall grinsten. Was für eine Rasse, fragte ich mich, hatte sich hier eingenistet, in den banalen Neubauten, auf den rohen Maschinen. Was hatte sich ausgebildet in dem faulen Frieden, in der Langeweile des Staats.“

Doch das war nur die Hälfte der Wahrheit, die andere beginnt mit der Wiedervereinigung: „Es war ihnen, den Erbauern von einst, den berühmten Leuten, etwas zugestoßen. Man war mit ihnen umgesprungen, wie kein Polier, kein Polizist es einst gewagt hatte.“ Eine „Naturgewalt“ sei über sie hereingebrochen, „die das Gelände entseelte und die Betriebe verödete. Die sie enteignete ihres unbestimmten Besitzes, ihrer Sicherheit. (…) Wer waren sie nun. Ihre Blicke, ihre Rechnungen sagten: verächtliche Wesen. Das hatte man aus ihnen gemacht.  Und nun zeigten sie ihre Kraft, den Schwächeren, und erwiderten sie die Gewalt, die sie erfuhren auf einen Schlag.“

Braun thematisierte die Synthese zweier Entfremdungserfahrungen. Es war kein Zufall, daß dieses Gebräu zuerst in Hoyerswerda explodierte. Hoyerswerda ist keine historisch gewachsene Stadt, sondern am Reißbrett der sozialistischen Industriepolitik entstanden. Der Marktflecken mit ursprünglich 7.000 Einwohnern wurde zum Zentrum der Energieversorgung der DDR. Für die Arbeitskräfte wurden auf der grünen Wiese die berüchtigten Plattenbauten errichtet, die Einwohnerzahl schnellte auf das zehnfache empor.
Die Schriftstellerin Brigitte Reimann zog 1961 hierher, um die Entstehung des Neuen Menschen aus der Nähe zu erleben. Die Begegnung mit der Realität war niederschmetternd. Einen Eindruck davon vermittelt ihr Kultroman „Franziska Linkerhand“ (1974). Die Titelfigur ist eine junge Architektin, deren Träume vom schönen, menschlichen Bauen in „Neustadt“ an den Realitäten und Vorgaben zerschellen. Die Tristesse, die sie erlebt, ist gnadenlos bis zu „Fenstersturz, Gashahn, Schlaftabletten“.

Die Arbeit in der Braunkohleförderung und Energiewirtschaft und die für DDR-Verhältnisse gute Bezahlung bildeten das einzige einigende Band, das sich mit der Deindustrialisierung nach 1990 löste.

Im Herbst 1991 war auch der Glaube, die D-Mark werde sich als allgemeiner Problemlöser erweisen, als Irrtum erkannt. Die Kinder erlebten ihre Eltern als schwach, hilflos, als Abhängige. Die Kluft und das Gebaren der Skinheads, die auf körperliche Kraft, aggressive Männlichkeit und auf Einschüchterung abstellten, waren Mittel, sich von der Schwäche der Alten zu absentieren. Martin Walser prägte dafür später den Begriff „Kostümfaschismus“. Das Problem war leicht zu beschreiben, aber schwer zu lösen.

Der Minimalkonsens der Vernunft wäre gewesen, die seit dem Mauerfall aus dem Ruder laufende Asylpolitik, die zu Hunderttausenden neuen Antragstellern führte und für Konflikte ohne Ende sorgte, schnellstens abzuändern, anstatt sie in die soziale Streßzone des Ostens zu exportieren. Der Soziologe Karl Otto Hondrich befand damals: „Eine gesamtdeutsche und zugleich eine multikulturelle Identität für das Ganze zu schaffen mutet der Gesellschaft mehr zu, als sie heute einlösen könnte. Es ist ein Zuviel an Gutseinwollen und Gutmachenwollen, was den bösen Deutschen hervorbringt.
Doch soviel Einsicht und politische Rationalität überforderte die Funktionseliten in den Medien, im Kulturbetrieb, im akademischen Bereich, im linken und liberalen Lager der Politik.

Sie fühlten sich ebenfalls unter Streß. Ihnen drohte der Verlust ihrer Diskurshoheit. Sie hatten die Bundesrepublik als postnational und multikulturell definiert, die deutsche Teilung zum Akt der historischen Gerechtigkeit erhoben und die Einheit für obsolet erklärt. 1989 hatte die Geschichte sie eindrucksvoll ins Unrecht gesetzt. Der intellektuelle Überbau, den sie errichtet hatten, stellte sich als kaum weniger schrottreif heraus als die industrielle Hinterlassenschaft der DDR.
Das zuzugeben hätte den endgültigen Prestigeverlust und materielle Einbußen bedeutet. Das exzessive Asylrecht wurde für sie zu einer Art Fetisch und letzten Verteidigungslinie. Die Krawalle von Hoyerswerda kamen ihnen gerade recht. Wenn sie die Wiedervereinigung schon nicht hatten verhindern können, wollten sie wenigstens für ihre geistig-moralische Möblierung sorgen. Gestützt auf das mediale Übergewicht gelang es ihnen, ihren widerlegten Diskursen den Anschein neuer Berechtigung zu verleihen. Hatten ihre Warnungen vor dem Schoß, der noch fruchtbar war, vor Nationalismus und Rassismus denn in Hoyerswerda keine Bestätigung gefunden? Durch den Brustton der Empörung und Erregung war stets der Unterton der Erleichterung vernehmbar.

Mit Hoyerswerda setzte nun eine Schubumkehr ein, die sich nach einem ähnlichen Aufruhr in Rostock-Lichtenhagen sowie zwei Brandstiftungen 1992 und 1993 in Mölln und Solingen, wo mehrere Menschen türkischer Herkunft qualvoll starben, rasant beschleunigte und als „Kampf gegen Rechts“ institutionalisierte. In dessen Verlauf wurde allen gegenhegemonialen Bestrebungen erfolgreich der Ruch des Nazismus, des absolut Unzulässigen angeheftet. Die Diskurseliten konnten auf besorgte Stimmen aus dem Ausland verweisen, das sich freilich nicht um eine Faschismus-Renaissance, sondern um eine selbstbewußtere, weniger leicht erpreßbare Bundesrepublik sorgte.
Neben Hoyerswerda haben Lichtenhagen, Mölln und Solingen sich als Synonyme für Fremdenhaß und die mörderische „Gefahr von rechts“ durchgesetzt und verselbständigt. Vergessen und verdrängt sind alle Merkwürdig- und Unstimmigkeiten. In Rostock-Lichtenhagen war  mitten in einem dichtbesiedelten Wohngebiet die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAST) eingerichtet worden. Ein Leser der JUNGEN FREIHEIT, der damals in unmittelbarer Nähe der ZAST wohnte, erinnert sich: Täglich kamen 50 bis 70 Zigeuner an.
Der Supermarkt wurde regelrecht geplündert, die Kinder verrichteten zwischen den Regalen die Notdurft. Auf den Balkons wurden aus zerschlagenen Möbeln Lagerfeuer entzündet und Möwen gebraten. Die Anwohner waren ständig Belästigungen ausgesetzt, Fäkal- und Uringeruch lag in der Luft. Alle Bitten und Ermahnungen an die Behörden blieben fruchtlos. Im August 1992 entlud der Zorn der Anwohner sich in friedlichen Demonstrationen, die spätabends von Trittbrettfahrern genutzt wurden, um Brandflaschen zu schleudern.

Sie trafen das Wohnheim vietnamesischer Vertragsarbeiter, mit denen es weder vor noch nach 1989 irgendwelche Schwierigkeiten gegeben hatte. Zusätzliches Aufsehen erregte die plötzliche Anwesenheit führender Köpfe der Neonazi-Szene, deren Rolle und Funktion unklar war, während die mediale, politische und pädagogische Verwertbarkeit auf der Hand lag.

Als Urheber des Brandanschlags auf ein Wohnhaus in Mölln am 23. November 1992 wurden zwei örtliche Skinheads ermittelt und verurteilt, doch sogar dem Berichterstatter der Zeit kamen Zweifel: „Den Schleswiger Richtern liegen keine Geständnisse vor, sie wurden widerrufen. Die Richter haben auch keine unmittelbaren Tatzeugen; niemand hat P. und C. das Feuer legen sehen. Die Polizei hat keine Spuren gefunden, die direkt zu den mutmaßlichen Tätern führen.“

Staranwalt Rolf Bossi legte die Verteidigung nieder, weil, so sein Eindruck, sie sinnlos geworden und das Gericht zu einer Verurteilung auf jeden Fall  entschlossen sei. Denn während der Prozeß lief, ereignete sich am 29. Mai 1993 in Solingen ein weiterer Brandanschlag, der die öffentliche Stimmung endgültig ins Hysterische kippen ließ.

Die Ermittlungsergebnisse waren auch in dem Fall alles andere als überzeugend. Die vier als Täter ermittelten Jugendlichen wurden im Rechtsextremismus verortet. Drei der vier Verurteilten verfügten über einen Intelligenzgrad an der Grenze zur Debilität und nahmen Unterricht in einer Kampfsportschule, die ausgerechnet von einem V-Mann des Verfassungsschutzes geleitet wurde.
Viel spricht dafür, daß dieses Kapitel bundesdeutscher Zeitgeschichte gründlich überarbeitet werden muß.   Thorsten Hinz

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