Stationen

Donnerstag, 29. September 2016

Kapitalistische Kulturgeschichte in Frankreich und Deutschland

Deutschland und Frankreich stehen heute für verschiedene Wirtschaftsmodelle in Europa. Das ist besonders während der Euro-Krise deutlich geworden. Das deutsche Modell steht heute in den Augen der europäischen Öffentlichkeit für Fiskalkonservatismus, Legalismus und Geldwertstabilität. Das heißt, die Deutschen pochen auf Sparanstrengungen in der Euro-Zone, auf die Einhaltung von geschlossenen Verträgen und darauf, dass die Währungsstabilität das wichtigste Ziel der Geldpolitik sein soll.
Der in andere Sprachen schwer zu übersetzende Begriff „Ordnungspolitik“ spielt dabei eine zentrale Rolle. Demnach soll der Staat einen verlässlichen rechtlichen Rahmen vorgeben, in dem sich der Wettbewerb entfaltet. Der Staat soll aber nicht selbst Spieler sein und der Wirtschaft Pläne und Ziele vorgeben. Deutschland mag diesen Ansprüchen in der Praxis selbst oft nicht gerecht werden, aber in der Theorie bekennt sich die deutsche Politik dazu, und das wird von einem starken Teil der deutschen Öffentlichkeit mitgetragen.
Das französische Modell: Staat, Planung, Vorrang der Politik
Frankreich steht hingegen für den Vorrang der Politik gegenüber Recht und Wirtschaft. Der Staat soll planen und Ziele vorgeben. Inflation und Schulden werden akzeptiert, wenn beides dem Erreichen staatlicher Ziele dient. Verträge zwischen Staaten werden weitgehend als Verschriftlichung eines politischen Konsenses zu einem bestimmten Zeitpunkt angesehen. Dieser kann zu einem späteren Zeitpunkt wieder korrigiert werden, wenn sich die politischen Rahmenbedingungen geändert haben.
Dementsprechend wurde auch der Maastricht-Vertrag anders als in Deutschland nicht als eine Art Wirtschaftsverfassung der Euro-Zone angesehen. Als sich die Euro-Staaten später über die No-Bailout-Klausel im Maastricht-Vertrag hinwegsetzten, war das für das französische Selbstverständnis kein großes Problem, weil sich aus französischer Sicht die politischen Rahmenbedingungen eben geändert hatten. In Deutschland führte es hingegen zu Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht und politischen Protesten, auch weil es um das Grundsätzliche ging. Das zeigt, dass sich an dieser Stelle das Rechtsempfinden in Frankreich und Deutschland voneinander unterscheidet.
Der große Rollentausch in der Nachkriegszeit
Oft werden die Gegensätze zwischen dem deutschen und dem französischen Modell in eine lange historische Tradition gestellt. Der französische Zentralismus und der Vorrang der Politik gegenüber Recht und Wirtschaft werden bis auf die Zeiten des Absolutismus und auf das Wirken des französischen Finanzministers Jean-Baptiste Colbert (1619-1683) zurückgeführt. Colbert gilt als einer der Begründer des Merkantilismus, der dem Staat eine aktive Rolle im Wirtschaftsleben zusprach und das Ziel hatte, den Export zu fördern und die Macht des Staates zu erhöhen.
Doch schon an dieser Stelle greift die These nicht. Zum einen war der Merkantilismus schließlich genauso in Deutschland zu Hause, etwa in den Bemühungen Friedrichs des Großen von Preußen, eine möglichst aktive Handelsbilanz aufzuweisen. Zum anderen zählten zur Agenda des Merkantilismus eben gerade die Förderung des Exports und das Anhäufen eines Staatsschatzes. Das sind politische Ziele, die heute eher den exportorientierten Volkswirtschaften wie Deutschland und China zugeschrieben werden.
Tatsächlich sind die heute als „typisch“ für Deutschland und Frankreich angesehenen Wirtschaftsmodelle, Ordnungspolitik und soziale Marktwirtschaft hier, kreditfinanzierte Staatseingriffe und Wirtschaftsplanung dort, noch nicht so besonders alt. Sie gehen beide auf die unmittelbare Nachkriegszeit zurück. Es ist sogar so, dass sich die Rollen in der Mitte des 20. Jahrhunderts praktisch vertauscht haben. Frankreich steht heute für viele Ansichten und Konzepte, die vor dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland bestimmend waren. Deutschland dagegen steht heute für Ansichten und Konzepte, die vor dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich vorherrschten.
Vorkriegszeit: Etatistisches Deutschland
Vor dem Zweiten Weltkrieg dominierte im Deutschen Reich die Historische Schule der Ökonomie. Diese betonte die Rolle des Staates in der wirtschaftlichen Entwicklung. Zölle und Sozialpolitik wurden als integraler Bestandteil des deutschen Wirtschaftsmodells angesehen. Der wirtschaftliche Liberalismus wurde als „Manchester-Liberalismus“ verworfen. Die deutsche Wirtschaft wurde von Kartellen beherrscht, die ausdrücklich rechtlich zulässig waren. Kartelle wurden sogar positiv bewertet, um die Kräfte des Marktes einzuhegen.
Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besaß Deutschland die stärkste Arbeiterbewegung der Welt. Die Sozialdemokratie war die stärkste Partei, und Gewerkschaften waren spätestens seit dem Ersten Weltkrieg akzeptierte Partner des Staates. Im Jahr 1923 nutzte das Deutsche Reich die Gelddruckmaschinen, um sich durch Inflation der hohen Staatsverschuldung zu entledigen. In der Weltwirtschaftskrise setzte die Reichsregierung auch schon vor der Machtergreifung der Nazis auf Siedlungsprogramme und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.
Vorkriegszeit: Liberales Frankreich
In Frankreich verhielt es sich umgekehrt. Die wirtschaftliche Theorie wurde von liberalen Denkern wie Jean-Baptiste Say und Frédéric Bastiat geprägt. Eine starke Arbeiterbewegung wie in Deutschland gab es nicht. Die Dritte Republik wurde oft als eine Republik von Kleinbürgern und Rechtsanwälten charakterisiert. Die unterschiedliche Einstellung zu Rechtsnormen und Verträgen in Frankreich und Deutschland wurde damals oft hervorgehoben, allerdings anders, als das heute der Fall ist.
Der französische Ökonom François Perroux schrieb in einer Analyse der kulturellen Unterschiede beider Länder im Jahr 1935, dass die Deutschen das französische Beharren auf die Einhaltung von Regeln und Verträgen nicht nachvollziehen könnten, weil sie von einem feudalen Geist beherrscht seien, der persönliches Vertrauen zwischen den Handelnden höher bewerte als den absoluten und dauernden Wert eines Vertrages. Dasselbe kann man heute von Frankreichkennern über die dortige Einstellung von Politikern und Wirtschaftsführern hören.
Französische Austeritätspolitik in der Weltwirtschaftskrise
Während der Weltwirtschaftskrise befand sich Frankreich in einer ähnlichen Lage wie heute Deutschland. Während andere Staaten in Europa in Depression und Massenarbeitslosigkeit versanken, blieb Frankreich ökonomisch relativ stabil. Das war deshalb möglich, weil Frankreich anders als Großbritannien zu einem Umtauschkurs zum Goldstandard zurückgekehrt war, der zu einer unter- statt zu einer Überbewertung seiner Währung führte.
Frankreich war also innerhalb des Goldstandards in einer vergleichbaren Position wie Deutschland nach der Aufgabe der D-Mark innerhalb der Euro-Zone. In der Zwischenkriegszeit erwirtschaftete Frankreich einen Exportüberschuss und häufte große Goldreserven an. Auf dem Höhepunkt der Depression im Jahr 1935 erreichte Frankreich durch eine strenge Sparpolitik einen ausgeglichenen Haushalt. Gleichzeitig blieb die Arbeitslosigkeit mit 433.000 im Vergleich zu Deutschland und den USA moderat.
Frankreichs Abschied vom Wirtschaftsliberalismus
Was als positive Bilanz gesehen werden konnte, wurde von den Zeitgenossen aber ganz anders wahrgenommen. Die Austeritätspolitik in Frankreich war für viele Bevölkerungsschichten schmerzhaft und blieb in schlechter Erinnerung. Das führte damals wie heute zum Erstarken von Protestbewegungen von links und von rechts und zur Bildung der Volksfrontregierung im Jahr 1936 unter Lèon Blum unter Einbeziehung der Kommunisten. Der Sparpolitik der 30er Jahre wurde außerdem vorgeworfen, die notwendigen Rüstungsausgaben unmöglich gemacht zu haben, die notwendig gewesen wären, um dem nationalsozialistischen Deutschland entschlossen entgegentreten zu können.
Die Austeritätspolitik wurde deshalb nach dem Krieg mit der Appeasement-Politik gegenüber dem Dritten Reich gleichgesetzt. Dieser Eindruck wurde noch durch den Umstand verstärkt, dass der Architekt der Sparpolitik in der ersten Hälfte der 30er Jahre, der französische Ministerpräsident Pierre Laval, während der Besatzungszeit als Regierungschef des Vichy-Regimes fungierte und deshalb als Nazi-Kollaborateur hingerichtet wurde. Das trug dazu bei, dass die Austeritätspolitik und das liberale Wirtschaftsmodell nach dem Zweiten Weltkrieg als diskreditiert galten. Demgegenüber erschienen Verstaatlichung und Wirtschaftsplanung als neues fortschrittliches Modell, das Stabilität und soziale Gerechtigkeit versprach. Es begann die Zeit der Wirtschaftsmanager und Technokraten.
Deutschlands Abschied von der Staatswirtschaft
In Deutschland verhielt es sich umgekehrt. Die Erfahrung einer zweimaligen Geldentwertung, durch die Hyperinflation 1923 und durch die Entwertung der Reichsmark nach 1945, schuf in Deutschland einen starken Reflex gegen Inflation. Das half eine neue Stabilitätskultur zu verankern, die mit der Bundesbank und der D-Mark verbunden wurde. Die Kartelle, die vor 1945 die deutsche Wirtschaft beherrscht hatten, wurden von den Alliierten zerschlagen und galten von nun an als Wegbereiter des Nationalsozialismus.
Die Schaffung einer liberalen Wettbewerbsordnung konnte also als Bruch mit einer diskreditierten Vergangenheit gelten, so wie das in Frankreich für die Einführung der staatlichen Planung galt. Nicht nur die nationalsozialistische Staatswirtschaft, auch die Erfahrungen mit dem Kommunismus in der sowjetischen Besatzungszone schufen in Westdeutschland ein politisches Klima, in dem antisozialistische Positionen auf das Wohlwollen der westlichen Besatzungsmächte stießen. Ludwig Erhards soziale Marktwirtschaft erschien bald als eine willkommene Alternative zum Sozialismus im Osten.
Fazit: Die Kultur verändert sich, aber sie ändert sich langsam
Während der Euro-Krise zeigten sich zwischen Nord- und Südeuropa und Deutschland und Frankreich deutliche Unterschiede in der politischen Kultur und dem Verständnis von Wirtschaft und Staat. Solche nationalen Wirtschaftsmodelle und kulturellen Differenzen sind nicht gottgegeben. Sie sind in einer konkreten historischen Situation entstanden und können sich auch wieder ändern. Was an dieser Stelle für Deutschland und Frankreich gezeigt worden ist, gilt auch für andere Länder.
Großbritanniens Wirtschaft stand in den 70er Jahren für ineffiziente Staatsbetriebe, hohe Inflation, Verschuldung und Gewerkschaften, die das Land mit ihren Streiks lahmlegten. Damals hätte niemand das Vereinigte Königreich als liberales Wirtschaftsmodell bezeichnet, wie es nach den Privatisierungen von Margaret Thatcher oft gesehen wird. Es ist also durchaus möglich, dass wir eines Tages in Europa eine sozialistische Schweiz und ein liberales Griechenland vorfinden.
Auf der anderen Seite sehen wir aber auch, dass solche politischen Paradigmen zwar nicht über Jahrhunderte, aber über Jahrzehnte dominant sein können. Und es lässt sich feststellen, dass sich diese nur durch tiefgreifende Umbrüche grundlegend verändern. Im Falle von Deutschland und Frankreich war es die Erfahrung eines totalen Systemzusammenbruchs in beiden Fällen, die dazu führte, dass sich auf beiden Seiten des Rheins ein neues Wirtschaftsmodell durchsetzen konnte. Als dieses neue Wirtschaftsmodell einmal etabliert war, war die Richtung für lange Zeit vorgegeben.
Wirtschaftsmodelle lassen sich einem Land also nicht einfach verordnen oder von außen einführen. Der Versuch, im Nahen Osten von außen die Demokratie einzuführen, ist bislang genauso gescheitert, wie in Griechenland von außen eine neue auf Sparsamkeit und Flexibilität basierende Wirtschaftsordnung zu schaffen. Die Wirtschaftsordnung und die politische Kultur müssen sich über einen langen Prozess von innen heraus ändern, wenn man nicht auf einen totalen Zusammenbruch der bisherigen Ordnung setzt. Kultur und Geschichte als prägende Faktoren einfach zu ignorieren, muss zwangsläufig gravierende Fehleinschätzungen zur Folge haben.   Gérard Bökenkamp

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