Deutschland
und Frankreich stehen heute für verschiedene Wirtschaftsmodelle in Europa. Das
ist besonders während der Euro-Krise deutlich geworden. Das deutsche Modell
steht heute in den Augen der europäischen Öffentlichkeit für
Fiskalkonservatismus, Legalismus und Geldwertstabilität. Das heißt, die
Deutschen pochen auf Sparanstrengungen in der Euro-Zone, auf die Einhaltung von
geschlossenen Verträgen und darauf, dass die Währungsstabilität das wichtigste
Ziel der Geldpolitik sein soll.
Der in andere
Sprachen schwer zu übersetzende Begriff „Ordnungspolitik“ spielt dabei eine
zentrale Rolle. Demnach soll der Staat einen verlässlichen rechtlichen Rahmen
vorgeben, in dem sich der Wettbewerb entfaltet. Der Staat soll aber nicht
selbst Spieler sein und der Wirtschaft Pläne und Ziele vorgeben. Deutschland
mag diesen Ansprüchen in der Praxis selbst oft nicht gerecht werden, aber in
der Theorie bekennt sich die deutsche Politik dazu, und das wird von einem
starken Teil der deutschen Öffentlichkeit mitgetragen.
Das französische Modell: Staat, Planung, Vorrang der Politik
Frankreich
steht hingegen für den Vorrang der Politik gegenüber Recht und Wirtschaft. Der
Staat soll planen und Ziele vorgeben. Inflation und Schulden werden akzeptiert,
wenn beides dem Erreichen staatlicher Ziele dient. Verträge zwischen Staaten
werden weitgehend als Verschriftlichung eines politischen Konsenses zu einem
bestimmten Zeitpunkt angesehen. Dieser kann zu einem späteren Zeitpunkt wieder
korrigiert werden, wenn sich die politischen Rahmenbedingungen geändert haben.
Dementsprechend
wurde auch der Maastricht-Vertrag anders als in Deutschland nicht als eine Art
Wirtschaftsverfassung der Euro-Zone angesehen. Als sich die Euro-Staaten später
über die No-Bailout-Klausel im Maastricht-Vertrag hinwegsetzten, war das für
das französische Selbstverständnis kein großes Problem, weil sich aus französischer
Sicht die politischen Rahmenbedingungen eben geändert hatten. In Deutschland
führte es hingegen zu Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht und politischen
Protesten, auch weil es um das Grundsätzliche ging. Das zeigt, dass sich an
dieser Stelle das Rechtsempfinden in Frankreich und Deutschland voneinander
unterscheidet.
Der große Rollentausch in der Nachkriegszeit
Oft werden die
Gegensätze zwischen dem deutschen und dem französischen Modell in eine lange
historische Tradition gestellt. Der französische Zentralismus und der Vorrang
der Politik gegenüber Recht und Wirtschaft werden bis auf die Zeiten des
Absolutismus und auf das Wirken des französischen Finanzministers Jean-Baptiste
Colbert (1619-1683) zurückgeführt. Colbert gilt als einer der Begründer des
Merkantilismus, der dem Staat eine aktive Rolle im Wirtschaftsleben zusprach
und das Ziel hatte, den Export zu fördern und die Macht des Staates zu erhöhen.
Doch schon an
dieser Stelle greift die These nicht. Zum einen war der Merkantilismus
schließlich genauso in Deutschland zu Hause, etwa in den Bemühungen Friedrichs
des Großen von Preußen, eine möglichst aktive Handelsbilanz aufzuweisen. Zum
anderen zählten zur Agenda des Merkantilismus eben gerade die Förderung des
Exports und das Anhäufen eines Staatsschatzes. Das sind politische Ziele, die
heute eher den exportorientierten Volkswirtschaften wie Deutschland und China
zugeschrieben werden.
Tatsächlich
sind die heute als „typisch“ für Deutschland und Frankreich angesehenen
Wirtschaftsmodelle, Ordnungspolitik und soziale Marktwirtschaft hier, kreditfinanzierte
Staatseingriffe und Wirtschaftsplanung dort, noch nicht so besonders alt. Sie
gehen beide auf die unmittelbare Nachkriegszeit zurück. Es ist sogar so, dass
sich die Rollen in der Mitte des 20. Jahrhunderts praktisch vertauscht haben.
Frankreich steht heute für viele Ansichten und Konzepte, die vor dem Zweiten
Weltkrieg in Deutschland bestimmend waren. Deutschland dagegen steht heute für
Ansichten und Konzepte, die vor dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich vorherrschten.
Vorkriegszeit: Etatistisches Deutschland
Vor dem
Zweiten Weltkrieg dominierte im Deutschen Reich die Historische Schule der
Ökonomie. Diese betonte die Rolle des Staates in der wirtschaftlichen
Entwicklung. Zölle und Sozialpolitik wurden als integraler Bestandteil des
deutschen Wirtschaftsmodells angesehen. Der wirtschaftliche Liberalismus wurde
als „Manchester-Liberalismus“ verworfen. Die deutsche Wirtschaft wurde von
Kartellen beherrscht, die ausdrücklich rechtlich zulässig waren. Kartelle
wurden sogar positiv bewertet, um die Kräfte des Marktes einzuhegen.
Seit der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besaß Deutschland die stärkste
Arbeiterbewegung der Welt. Die Sozialdemokratie war die stärkste Partei, und
Gewerkschaften waren spätestens seit dem Ersten Weltkrieg akzeptierte Partner
des Staates. Im Jahr 1923 nutzte das Deutsche Reich die Gelddruckmaschinen, um
sich durch Inflation der hohen Staatsverschuldung zu entledigen. In der Weltwirtschaftskrise
setzte die Reichsregierung auch schon vor der Machtergreifung der Nazis auf
Siedlungsprogramme und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.
Vorkriegszeit: Liberales Frankreich
In Frankreich
verhielt es sich umgekehrt. Die wirtschaftliche Theorie wurde von liberalen
Denkern wie Jean-Baptiste Say und Frédéric Bastiat geprägt. Eine starke
Arbeiterbewegung wie in Deutschland gab es nicht. Die Dritte Republik wurde oft
als eine Republik von Kleinbürgern und Rechtsanwälten charakterisiert. Die
unterschiedliche Einstellung zu Rechtsnormen und Verträgen in Frankreich und
Deutschland wurde damals oft hervorgehoben, allerdings anders, als das heute
der Fall ist.
Der
französische Ökonom François Perroux schrieb in
einer Analyse der kulturellen Unterschiede beider Länder im Jahr 1935, dass die
Deutschen das französische Beharren auf die Einhaltung von Regeln und Verträgen
nicht nachvollziehen könnten, weil sie von einem feudalen Geist beherrscht
seien, der persönliches Vertrauen zwischen den Handelnden höher bewerte als den
absoluten und dauernden Wert eines Vertrages. Dasselbe kann man heute von
Frankreichkennern über die dortige Einstellung von Politikern und
Wirtschaftsführern hören.
Französische Austeritätspolitik in der Weltwirtschaftskrise
Während der
Weltwirtschaftskrise befand sich Frankreich in einer ähnlichen Lage wie heute
Deutschland. Während andere Staaten in Europa in Depression und
Massenarbeitslosigkeit versanken, blieb Frankreich ökonomisch relativ stabil.
Das war deshalb möglich, weil Frankreich anders als Großbritannien zu einem
Umtauschkurs zum Goldstandard zurückgekehrt war, der zu einer unter- statt zu
einer Überbewertung seiner Währung führte.
Frankreich war
also innerhalb des Goldstandards in einer vergleichbaren Position wie
Deutschland nach der Aufgabe der D-Mark innerhalb der Euro-Zone. In der
Zwischenkriegszeit erwirtschaftete Frankreich einen Exportüberschuss und häufte
große Goldreserven an. Auf dem Höhepunkt der Depression im Jahr 1935 erreichte
Frankreich durch eine strenge Sparpolitik einen ausgeglichenen Haushalt.
Gleichzeitig blieb die Arbeitslosigkeit mit 433.000 im Vergleich zu Deutschland
und den USA moderat.
Frankreichs Abschied vom Wirtschaftsliberalismus
Was als
positive Bilanz gesehen werden konnte, wurde von den Zeitgenossen aber ganz
anders wahrgenommen. Die Austeritätspolitik in Frankreich war für viele
Bevölkerungsschichten schmerzhaft und blieb in schlechter Erinnerung. Das
führte damals wie heute zum Erstarken von Protestbewegungen von links und von
rechts und zur Bildung der Volksfrontregierung im Jahr 1936 unter Lèon Blum
unter Einbeziehung der Kommunisten. Der Sparpolitik der 30er Jahre wurde
außerdem vorgeworfen, die notwendigen Rüstungsausgaben unmöglich gemacht zu
haben, die notwendig gewesen wären, um dem nationalsozialistischen Deutschland
entschlossen entgegentreten zu können.
Die
Austeritätspolitik wurde deshalb nach dem Krieg mit der Appeasement-Politik
gegenüber dem Dritten Reich gleichgesetzt. Dieser Eindruck wurde noch durch den
Umstand verstärkt, dass der Architekt der Sparpolitik in der ersten Hälfte der 30er
Jahre, der französische Ministerpräsident Pierre Laval, während der
Besatzungszeit als Regierungschef des Vichy-Regimes fungierte und deshalb als
Nazi-Kollaborateur hingerichtet wurde. Das trug dazu bei, dass die
Austeritätspolitik und das liberale Wirtschaftsmodell nach dem Zweiten
Weltkrieg als diskreditiert galten. Demgegenüber erschienen Verstaatlichung und
Wirtschaftsplanung als neues fortschrittliches Modell, das Stabilität und
soziale Gerechtigkeit versprach. Es begann die Zeit der Wirtschaftsmanager und
Technokraten.
Deutschlands Abschied von der Staatswirtschaft
In Deutschland
verhielt es sich umgekehrt. Die Erfahrung einer zweimaligen Geldentwertung, durch
die Hyperinflation 1923 und durch die Entwertung der Reichsmark nach 1945,
schuf in Deutschland einen starken Reflex gegen Inflation. Das half eine neue
Stabilitätskultur zu verankern, die mit der Bundesbank und der D-Mark verbunden
wurde. Die Kartelle, die vor 1945 die deutsche Wirtschaft beherrscht hatten,
wurden von den Alliierten zerschlagen und galten von nun an als Wegbereiter des
Nationalsozialismus.
Die Schaffung
einer liberalen Wettbewerbsordnung konnte also als Bruch mit einer
diskreditierten Vergangenheit gelten, so wie das in Frankreich für die
Einführung der staatlichen Planung galt. Nicht nur die nationalsozialistische
Staatswirtschaft, auch die Erfahrungen mit dem Kommunismus in der sowjetischen
Besatzungszone schufen in Westdeutschland ein politisches Klima, in dem antisozialistische
Positionen auf das Wohlwollen der westlichen Besatzungsmächte stießen. Ludwig
Erhards soziale Marktwirtschaft erschien bald als eine willkommene Alternative
zum Sozialismus im Osten.
Fazit: Die Kultur verändert sich, aber sie ändert sich langsam
Während der
Euro-Krise zeigten sich zwischen Nord- und Südeuropa und Deutschland und
Frankreich deutliche Unterschiede in der politischen Kultur und dem Verständnis
von Wirtschaft und Staat. Solche nationalen Wirtschaftsmodelle und kulturellen
Differenzen sind nicht gottgegeben. Sie sind in einer konkreten historischen
Situation entstanden und können sich auch wieder ändern. Was an dieser Stelle
für Deutschland und Frankreich gezeigt worden ist, gilt auch für andere Länder.
Großbritanniens
Wirtschaft stand in den 70er Jahren für ineffiziente Staatsbetriebe, hohe
Inflation, Verschuldung und Gewerkschaften, die das Land mit ihren Streiks lahmlegten.
Damals hätte niemand das Vereinigte Königreich als liberales Wirtschaftsmodell
bezeichnet, wie es nach den Privatisierungen von Margaret Thatcher oft gesehen
wird. Es ist also durchaus möglich, dass wir eines Tages in Europa eine
sozialistische Schweiz und ein liberales Griechenland vorfinden.
Auf der
anderen Seite sehen wir aber auch, dass solche politischen Paradigmen zwar
nicht über Jahrhunderte, aber über Jahrzehnte dominant sein können. Und es
lässt sich feststellen, dass sich diese nur durch tiefgreifende Umbrüche
grundlegend verändern. Im Falle von Deutschland und Frankreich war es die
Erfahrung eines totalen Systemzusammenbruchs in beiden Fällen, die dazu führte,
dass sich auf beiden Seiten des Rheins ein neues Wirtschaftsmodell durchsetzen
konnte. Als dieses neue Wirtschaftsmodell einmal etabliert war, war die
Richtung für lange Zeit vorgegeben.
Wirtschaftsmodelle
lassen sich einem Land also nicht einfach verordnen oder von außen einführen. Der
Versuch, im Nahen Osten von außen die Demokratie einzuführen, ist bislang
genauso gescheitert, wie in Griechenland von außen eine neue auf Sparsamkeit
und Flexibilität basierende Wirtschaftsordnung zu schaffen. Die
Wirtschaftsordnung und die politische Kultur müssen sich über einen langen
Prozess von innen heraus ändern, wenn man nicht auf einen totalen Zusammenbruch
der bisherigen Ordnung setzt. Kultur und Geschichte als prägende Faktoren
einfach zu ignorieren, muss zwangsläufig gravierende Fehleinschätzungen zur
Folge haben. Gérard Bökenkamp
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