Eminenzen, Magnifizenzen, Exzellenzen,
verehrte Damen und Herren!
verehrte Damen und Herren!
Es ist für mich ein bewegender Augenblick, noch einmal
in der Universität zu sein und noch einmal eine Vorlesung halten zu
dürfen. Meine Gedanken gehen dabei zurück in die Jahre, in denen ich an
der Universität Bonn nach einer schönen Periode an der Freisinger
Hochschule meine Tätigkeit als akademischer Lehrer aufgenommen habe. Es
war – 1959 – noch die Zeit der alten Ordinarien-Universität. Für die
einzelnen Lehrstühle gab es weder Assistenten noch Schreibkräfte, dafür
aber gab es eine sehr unmittelbare Begegnung mit den Studenten und vor
allem auch der Professoren untereinander. In den Dozentenräumen traf man
sich vor und nach den Vorlesungen. Die Kontakte mit den Historikern,
den Philosophen, den Philologen und natürlich auch zwischen beiden
Theologischen Fakultäten waren sehr lebendig. Es gab jedes Semester
einen sogenannten Dies academicus, an dem sich Professoren aller Fakultäten den Studenten der gesamten Universität vorstellten und so ein Erleben von Universitas
möglich wurde – auf das Sie, Magnifizenz, auch gerade hingewiesen haben
– die Erfahrung nämlich, daß wir in allen Spezialisierungen, die uns
manchmal sprachlos füreinander machen, doch ein Ganzes bilden und im
Ganzen der einen Vernunft mit all ihren Dimensionen arbeiten und so auch
in einer gemeinschaftlichen Verantwortung für den rechten Gebrauch der
Vernunft stehen – das wurde erlebbar. Die Universität war auch durchaus
stolz auf ihre beiden Theologischen Fakultäten. Es war klar, daß auch
sie, indem sie nach der Vernunft des Glaubens fragen, eine Arbeit tun,
die notwendig zum Ganzen der Universitas scientiarum gehört,
auch wenn nicht alle den Glauben teilen konnten, um dessen Zuordnung zur
gemeinsamen Vernunft sich die Theologen mühen. Dieser innere
Zusammenhalt im Kosmos der Vernunft wurde auch nicht gestört, als einmal
verlautete, einer der Kollegen habe geäußert, an unserer Universität
gebe es etwas Merkwürdiges: zwei Fakultäten, die sich mit etwas
befaßten, was es gar nicht gebe – mit Gott. Daß es auch solch radikaler
Skepsis gegenüber notwendig und vernünftig bleibt, mit der Vernunft nach
Gott zu fragen und es im Zusammenhang der Überlieferung des
christlichen Glaubens zu tun, war im Ganzen der Universität
unbestritten.
All dies ist mir wieder in den Sinn gekommen, als ich
kürzlich den von Professor Theodore Khoury (Münster) herausgegebenen
Teil des Dialogs las, den der gelehrte byzantinische Kaiser Manuel II. Palaeologos wohl 1391 im Winterlager zu Ankara mit einem gebildeten
Perser über Christentum und Islam und beider Wahrheit führte.[1]
Der Kaiser hat vermutlich während der Belagerung von Konstantinopel
zwischen 1394 und 1402 den Dialog aufgezeichnet; so versteht man auch,
daß seine eigenen Ausführungen sehr viel ausführlicher wiedergegeben
sind, als die seines persischen Gesprächspartners.[2]
Der Dialog erstreckt sich über den ganzen Bereich des von Bibel und
Koran umschriebenen Glaubensgefüges und kreist besonders um das Gottes-
und das Menschenbild, aber auch immer wieder notwendigerweise um das
Verhältnis der, wie man sagte, „drei Gesetze“ oder „drei
Lebensordnungen“: Altes Testament – Neues Testament – Koran. Jetzt, in
dieser Vorlesung möchte ich darüber nicht handeln, nur einen – im Aufbau
des ganzen Dialogs eher marginalen – Punkt berühren, der mich im
Zusammenhang des Themas Glaube und Vernunft fasziniert hat und der mir
als Ausgangspunkt für meine Überlegungen zu diesem Thema dient.
In der von Professor Khoury herausgegebenen siebten Gesprächsrunde (διάλεξις – Kontroverse) kommt der Kaiser auf das Thema des Djihād, des heiligen Krieges zu sprechen. Der Kaiser wußte sicher, daß in Sure 2, 256 steht: Kein Zwang in Glaubenssachen – es ist wohl eine der frühen Suren
aus der Zeit, wie uns ein Teil der Kenner sagt, in der Mohammed selbst
noch machtlos und bedroht war. Aber der Kaiser kannte natürlich auch die
im Koran niedergelegten – später entstandenen – Bestimmungen über den
heiligen Krieg. Ohne sich auf Einzelheiten wie die unterschiedliche
Behandlung von „Schriftbesitzern“ und „Ungläubigen“ einzulassen, wendet
er sich in erstaunlich schroffer, für uns unannehmbar schroffer Form
ganz einfach mit der zentralen Frage nach dem Verhältnis von Religion
und Gewalt überhaupt an seinen Gesprächspartner. Er sagt: „Zeig mir
doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und da wirst du nur Schlechtes
und Inhumanes finden wie dies, daß er vorgeschrieben hat, den Glauben,
den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten“.[3]
Der Kaiser begründet, nachdem er so zugeschlagen hat, dann eingehend,
warum Glaubensverbreitung durch Gewalt widersinnig ist. Sie steht im
Widerspruch zum Wesen Gottes und zum Wesen der Seele. „Gott hat kein
Gefallen am Blut”, sagt er, „und nicht vernunftgemäß, nicht „σὺν
λόγω” zu handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider. Der Glaube ist Frucht
der Seele, nicht des Körpers. Wer also jemanden zum Glauben führen will,
braucht die Fähigkeit zur guten Rede und ein rechtes Denken, nicht aber
Gewalt und Drohung… Um eine vernünftige Seele zu überzeugen, braucht
man nicht seinen Arm, nicht Schlagwerkzeuge noch sonst eines der Mittel,
durch die man jemanden mit dem Tod bedrohen kann...".[4]
Der entscheidende Satz in dieser Argumentation gegen
Bekehrung durch Gewalt lautet: Nicht vernunftgemäß handeln ist dem Wesen
Gottes zuwider.[5]
Der Herausgeber, Theodore Khoury, kommentiert dazu: Für den Kaiser als
einen in griechischer Philosophie aufgewachsenen Byzantiner ist dieser
Satz evident. Für die moslemische Lehre hingegen ist Gott absolut
transzendent. Sein Wille ist an keine unserer Kategorien gebunden und
sei es die der Vernünftigkeit.[6]
Khoury zitiert dazu eine Arbeit des bekannten französischen Islamologen
R. Arnaldez, der darauf hinweist, daß Ibn Hazm so weit gehe zu
erklären, daß Gott auch nicht durch sein eigenes Wort gehalten sei und
daß nichts ihn dazu verpflichte, uns die Wahrheit zu offenbaren. Wenn er
es wollte, müsse der Mensch auch Götzendienst treiben.[7]
An dieser Stelle tut sich ein Scheideweg im Verständnis
Gottes und so in der konkreten Verwirklichung von Religion auf, der uns
heute ganz unmittelbar herausfordert. Ist es nur griechisch zu glauben,
daß vernunftwidrig zu handeln dem Wesen Gottes zuwider ist, oder gilt
das immer und in sich selbst? Ich denke, daß an dieser Stelle der tiefe
Einklang zwischen dem, was im besten Sinn griechisch ist, und dem auf
der Bibel gründenden Gottesglauben sichtbar wird. Den ersten Vers der
Genesis, den ersten Vers der Heiligen Schrift überhaupt abwandelnd, hat
Johannes den Prolog seines Evangeliums mit dem Wort eröffnet: Im Anfang
war der Logos. Dies ist genau das Wort, das der Kaiser gebraucht: Gott
handelt „σὺν λόγω”, mit Logos. Logos ist Vernunft und Wort zugleich –
eine Vernunft, die schöpferisch ist und sich mitteilen kann, aber eben
als Vernunft. Johannes hat uns damit das abschließende Wort des
biblischen Gottesbegriffs geschenkt, in dem alle die oft mühsamen und
verschlungenen Wege des biblischen Glaubens an ihr Ziel kommen und ihre
Synthese finden. Im Anfang war der Logos, und der Logos ist Gott, so
sagt uns der Evangelist. Das Zusammentreffen der biblischen Botschaft
und des griechischen Denkens war kein Zufall. Die Vision des heiligen
Paulus, dem sich die Wege in Asien verschlossen und der nächtens in
einem Gesicht einen Mazedonier sah und ihn rufen hörte: Komm herüber und
hilf uns (Apg 16, 6 – 10) – diese Vision darf als Verdichtung
des von innen her nötigen Aufeinanderzugehens zwischen biblischem
Glauben und griechischem Fragen gedeutet werden.
Dabei war dieses Zugehen längst im Gang. Schon der
geheimnisvolle Gottesname vom brennenden Dornbusch, der diesen Gott aus
den Göttern mit den vielen Namen herausnimmt und von ihm einfach das
„Ich bin“, das Dasein aussagt, ist eine Bestreitung des Mythos, zu der
der sokratische Versuch, den Mythos zu überwinden und zu übersteigen, in
einer inneren Analogie steht.[8]
Der am Dornbusch begonnene Prozeß kommt im Innern des Alten Testaments
zu einer neuen Reife während des Exils, wo nun der landlos und kultlos
gewordene Gott Israels sich als den Gott des Himmels und der Erde
verkündet und sich mit einer einfachen, das Dornbusch-Wort
weiterführenden Formel vorstellt: „Ich bin’s.“ Mit diesem neuen Erkennen
Gottes geht eine Art von Aufklärung Hand in Hand, die sich im Spott
über die Götter drastisch ausdrückt, die nur Machwerke der Menschen
seien (vgl. Ps 115). So geht der biblische Glaube in der
hellenistischen Epoche bei aller Schärfe des Gegensatzes zu den
hellenistischen Herrschern, die die Angleichung an die griechische
Lebensweise und ihren Götterkult erzwingen wollten, dem Besten des
griechischen Denkens von innen her entgegen zu einer gegenseitigen
Berührung, wie sie sich dann besonders in der späten Weisheits-Literatur
vollzogen hat. Heute wissen wir, daß die in Alexandrien entstandene
griechische Übersetzung des Alten Testaments – die Septuaginta – mehr
als eine bloße (vielleicht sogar wenig positiv zu beurteilende)
Übersetzung des hebräischen Textes, nämlich ein selbständiger Textzeuge
und ein eigener wichtiger Schritt der Offenbarungsgeschichte ist, in dem
sich diese Begegnung auf eine Weise realisiert hat, die für die
Entstehung des Christentums und seine Verbreitung entscheidende
Bedeutung gewann.[9]
Zutiefst geht es dabei um die Begegnung zwischen Glaube und Vernunft,
zwischen rechter Aufklärung und Religion. Manuel II. hat wirklich aus
dem inneren Wesen des christlichen Glaubens heraus und zugleich aus dem
Wesen des Griechischen, das sich mit dem Glauben verschmolzen hatte,
sagen können: Nicht „mit dem Logos“ handeln, ist dem Wesen Gottes
zuwider.
Hier ist der Redlichkeit halber anzumerken, daß sich im
Spätmittelalter Tendenzen der Theologie entwickelt haben, die diese
Synthese von Griechischem und Christlichem aufsprengen. Gegenüber dem
sogenannten augustinischen und thomistischen Intellektualismus beginnt
bei Duns Scotus eine Position des Voluntarismus, die schließlich in den
weiteren Entwicklungen dahinführte zu sagen, wir kennten von Gott nur
seine Voluntas ordinata. Jenseits davon gebe es die Freiheit
Gottes, kraft derer er auch das Gegenteil von allem, was er getan hat,
hätte machen und tun können. Hier zeichnen sich Positionen ab, die denen
von Ibn Hazm durchaus nahekommen können und auf das Bild eines
Willkür-Gottes zulaufen könnten, der auch nicht an die Wahrheit und an
das Gute gebunden ist. Die Transzendenz und die Andersheit Gottes werden
so weit übersteigert, daß auch unsere Vernunft, unser Sinn für das
Wahre und Gute kein wirklicher Spiegel Gottes mehr sind, dessen
abgründige Möglichkeiten hinter seinen tatsächlichen Entscheiden für uns
ewig unzugänglich und verborgen bleiben. Demgegenüber hat der
kirchliche Glaube immer daran festgehalten, daß es zwischen Gott und
uns, zwischen seinem ewigen Schöpfergeist und unserer geschaffenen
Vernunft eine wirkliche Analogie gibt, in der zwar – wie das Vierte
Laterankonzil 1215 sagt – die Unähnlichkeiten unendlich größer sind als
die Ähnlichkeiten, aber eben doch die Analogie und ihre Sprache nicht
aufgehoben werden. Gott wird nicht göttlicher dadurch, daß wir ihn in
einen reinen und undurchschaubaren Voluntarismus entrücken, sondern der
wahrhaft göttliche Gott ist der Gott, der sich als Logos gezeigt und als
Logos liebend für uns gehandelt hat. Gewiß, die Liebe „übersteigt“, wie
Paulus sagt, die Erkenntnis und vermag daher mehr wahrzunehmen als das
bloße Denken (vgl. Eph 3, 19), aber sie bleibt doch Liebe des
Gottes-Logos, weshalb christlicher Gottesdienst, wie noch einmal Paulus
sagt, „λογικη λατρεία“ ist – Gottesdienst, der im Einklang mit dem
ewigen Wort und mit unserer Vernunft steht (vgl. Röm 12, 1).[10]
Dieses hier angedeutete innere Zugehen aufeinander, das
sich zwischen biblischem Glauben und griechischem philosophischem Fragen
vollzogen hat, ist ein nicht nur religionsgeschichtlich, sondern
weltgeschichtlich entscheidender Vorgang, der uns auch heute in die
Pflicht nimmt. Wenn man diese Begegnung sieht, ist es nicht
verwunderlich, daß das Christentum trotz seines Ursprungs und wichtiger
Entfaltungen im Orient schließlich seine geschichtlich entscheidende
Prägung in Europa gefunden hat. Wir können auch umgekehrt sagen: Diese
Begegnung, zu der dann noch das Erbe Roms hinzutritt, hat Europa
geschaffen und bleibt die Grundlage dessen, was man mit Recht Europa
nennen kann.
Der These, daß das kritisch gereinigte griechische Erbe
wesentlich zum christlichen Glauben gehört, steht die Forderung nach der
Enthellenisierung des Christentums entgegen, die seit dem Beginn der
Neuzeit wachsend das theologische Ringen beherrscht. Wenn man näher
zusieht, kann man drei Wellen des Enthellenisierungsprogramms
beobachten, die zwar miteinander verbunden, aber in ihren Begründungen
und Zielen doch deutlich voneinander verschieden sind.[11]
Die Enthellenisierung erscheint zuerst mit den Anliegen
der Reformation des 16. Jahrhunderts verknüpft. Die Reformatoren sahen
sich angesichts der theologischen Schultradition einer ganz von der
Philosophie her bestimmten Systematisierung des Glaubens gegenüber,
sozusagen einer Fremdbestimmung des Glaubens durch ein nicht aus ihm
kommendes Denken. Der Glaube erschien dabei nicht mehr als lebendiges
geschichtliches Wort, sondern eingehaust in ein philosophisches System.
Das Sola Scriptura sucht demgegenüber die reine Urgestalt des
Glaubens, wie er im biblischen Wort ursprünglich da ist. Metaphysik
erscheint als eine Vorgabe von anderswoher, von der man den Glauben
befreien muß, damit er ganz wieder er selber sein könne. In einer für
die Reformatoren nicht vorhersehbaren Radikalität hat Kant mit seiner
Aussage, er habe das Denken beiseite schaffen müssen, um dem Glauben
Platz zu machen, aus diesem Programm heraus gehandelt. Er hat dabei den
Glauben ausschließlich in der praktischen Vernunft verankert und ihm den
Zugang zum Ganzen der Wirklichkeit abgesprochen.
Die liberale Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts
brachte eine zweite Welle im Programm der Enthellenisierung mit sich,
für die Adolf von Harnack als herausragender Repräsentant steht. In der
Zeit, als ich studierte, wie in den frühen Jahren meines akademischen
Wirkens war dieses Programm auch in der katholischen Theologie kräftig
am Werk. Pascals Unterscheidung zwischen dem Gott der Philosophen und
dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs diente als Ausgangspunkt dafür. In
meiner Bonner Antrittsvorlesung von 1959 habe ich mich damit
auseinanderzusetzen versucht,[12]
und möchte dies alles hier nicht neu aufnehmen. Wohl aber möchte ich
wenigstens in aller Kürze versuchen, das unterscheidend Neue dieser
zweiten Enthellenisierungswelle gegenüber der ersten herauszustellen.
Als Kerngedanke erscheint bei Harnack die Rückkehr zum einfachen
Menschen Jesus und zu seiner einfachen Botschaft, die allen
Theologisierungen und eben auch Hellenisierungen voraus liege: Diese
einfache Botschaft stelle die wirkliche Höhe der religiösen Entwicklung
der Menschheit dar. Jesus habe den Kult zugunsten der Moral
verabschiedet. Er wird im letzten als Vater einer menschenfreundlichen
moralischen Botschaft dargestellt. Dabei geht es Harnack im Grunde
darum, das Christentum wieder mit der modernen Vernunft in Einklang zu
bringen, eben indem man es von scheinbar philosophischen und
theologischen Elementen wie etwa dem Glauben an die Gottheit Christi und
die Dreieinheit Gottes befreie. Insofern ordnet die
historisch-kritische Auslegung des Neuen Testaments, wie er sie sah, die
Theologie wieder neu in den Kosmos der Universität ein: Theologie ist
für Harnack wesentlich historisch und so streng wissenschaftlich. Was
sie auf dem Weg der Kritik über Jesus ermittelt, ist sozusagen Ausdruck
der praktischen Vernunft und damit auch im Ganzen der Universität
vertretbar. Im Hintergrund steht die neuzeitliche Selbstbeschränkung der
Vernunft, wie sie in Kants Kritiken klassischen Ausdruck gefunden
hatte, inzwischen aber vom naturwissenschaftlichen Denken weiter
radikalisiert wurde. Diese moderne Auffassung der Vernunft beruht auf
einer durch den technischen Erfolg bestätigten Synthese zwischen
Platonismus (Cartesianismus) und Empirismus, um es verkürzt zu sagen.
Auf der einen Seite wird die mathematische Struktur der Materie,
sozusagen ihre innere Rationalität vorausgesetzt, die es möglich macht,
sie in ihrer Wirkform zu verstehen und zu gebrauchen: Diese
Grundvoraussetzung ist sozusagen das platonische Element im modernen
Naturverständnis. Auf der anderen Seite geht es um die
Funktionalisierbarkeit der Natur für unsere Zwecke, wobei die
Möglichkeit der Verifizierung oder Falsifizierung im Experiment erst die
entscheidende Gewißheit liefert. Das Gewicht zwischen den beiden Polen
kann je nachdem mehr auf der einen oder der anderen Seite liegen. Ein so
streng positivistischer Denker wie J. Monod hat sich als überzeugten
Platoniker bezeichnet.
Dies bringt zwei für unsere Frage entscheidende
Grundorientierungen mit sich. Nur die im Zusammenspiel von Mathematik
und Empirie sich ergebende Form von Gewißheit gestattet es, von
Wissenschaftlichkeit zu sprechen. Was Wissenschaft sein will, muß sich
diesem Maßstab stellen. So versuchten dann auch die auf die menschlichen
Dinge bezogenen Wissenschaften wie Geschichte, Psychologie, Soziologie,
Philosophie, sich diesem Kanon von Wissenschaftlichkeit anzunähern.
Wichtig für unsere Überlegungen ist aber noch, daß die Methode als
solche die Gottesfrage ausschließt und sie als unwissenschaftliche oder
vorwissenschaftliche Frage erscheinen läßt. Damit aber stehen wir vor
einer Verkürzung des Radius von Wissenschaft und Vernunft, die in Frage
gestellt werden muß.
Darauf werde ich zurückkommen. Einstweilen bleibt
festzustellen, daß bei einem von dieser Sichtweise her bestimmten
Versuch, Theologie „wissenschaftlich“ zu erhalten, vom Christentum nur
ein armseliges Fragmentstück übrigbleibt. Aber wir müssen mehr sagen:
Wenn dies allein die ganze Wissenschaft ist, dann wird der Mensch selbst
dabei verkürzt. Denn die eigentlich menschlichen Fragen, die nach
unserem Woher und Wohin, die Fragen der Religion und des Ethos können
dann nicht im Raum der gemeinsamen, von der so verstandenen
„Wissenschaft“ umschriebenen Vernunft Platz finden und müssen ins
Subjektive verlegt werden. Das Subjekt entscheidet mit seinen
Erfahrungen, was ihm religiös tragbar erscheint, und das subjektive
„Gewissen“ wird zur letztlich einzigen ethischen Instanz. So aber
verlieren Ethos und Religion ihre gemeinschaftsbildende Kraft und
verfallen der Beliebigkeit. Dieser Zustand ist für die Menschheit
gefährlich: Wir sehen es an den uns bedrohenden Pathologien der Religion
und der Vernunft, die notwendig ausbrechen müssen, wo die Vernunft so
verengt wird, daß ihr die Fragen der Religion und des Ethos nicht mehr
zugehören. Was an ethischen Versuchen von den Regeln der Evolution oder
von Psychologie und Soziologie her bleibt, reicht einfach nicht aus.
Bevor ich zu den Schlußfolgerungen komme, auf die ich
mit alledem hinaus will, muß ich noch kurz die dritte
Enthellenisierungswelle andeuten, die zurzeit umgeht. Angesichts der
Begegnung mit der Vielheit der Kulturen sagt man heute gern, die
Synthese mit dem Griechentum, die sich in der alten Kirche vollzogen
habe, sei eine erste Inkulturation des Christlichen gewesen, auf die man
die anderen Kulturen nicht festlegen dürfe. Ihr Recht müsse es sein,
hinter diese Inkulturation zurückzugehen auf die einfache Botschaft des
Neuen Testaments, um sie in ihren Räumen jeweils neu zu inkulturieren.
Diese These ist nicht einfach falsch, aber doch vergröbert und ungenau.
Denn das Neue Testament ist griechisch geschrieben und trägt in sich
selber die Berührung mit dem griechischen Geist, die in der
vorangegangenen Entwicklung des Alten Testaments gereift war. Gewiß gibt
es Schichten im Werdeprozeß der alten Kirche, die nicht in alle
Kulturen eingehen müssen. Aber die Grundentscheidungen, die eben den
Zusammenhang des Glaubens mit dem Suchen der menschlichen Vernunft
betreffen, die gehören zu diesem Glauben selbst und sind seine ihm
gemäße Entfaltung.
Damit komme ich zum Schluß. Die eben in ganz groben
Zügen versuchte Selbstkritik der modernen Vernunft schließt ganz und gar
nicht die Auffassung ein, man müsse nun wieder hinter die Aufklärung
zurückgehen und die Einsichten der Moderne verabschieden. Das Große der
modernen Geistesentwicklung wird ungeschmälert anerkannt: Wir alle sind
dankbar für die großen Möglichkeiten, die sie dem Menschen erschlossen
hat und für die Fortschritte an Menschlichkeit, die uns geschenkt
wurden. Das Ethos der Wissenschaftlichkeit – Sie haben es angedeutet
Magnifizenz – ist im übrigen Wille zum Gehorsam gegenüber der Wahrheit
und insofern Ausdruck einer Grundhaltung, die zu den wesentlichen
Entscheiden des Christlichen gehört. Nicht Rücknahme, nicht negative
Kritik ist gemeint, sondern um Ausweitung unseres Vernunftbegriffs und
-gebrauchs geht es. Denn bei aller Freude über die neuen Möglichkeiten
des Menschen sehen wir auch die Bedrohungen, die aus diesen
Möglichkeiten aufsteigen, und müssen uns fragen, wie wir ihrer Herr
werden können. Wir können es nur, wenn Vernunft und Glaube auf neue
Weise zueinanderfinden; wenn wir die selbstverfügte Beschränkung der
Vernunft auf das im Experiment Falsifizierbare überwinden und der
Vernunft ihre ganze Weite wieder eröffnen. In diesem Sinn gehört
Theologie nicht nur als historische und humanwissenschaftliche
Disziplin, sondern als eigentliche Theologie, als Frage nach der
Vernunft des Glaubens an die Universität und in ihren weiten Dialog der
Wissenschaften hinein.
Nur so werden wir auch zum wirklichen Dialog der
Kulturen und Religionen fähig, dessen wir so dringend bedürfen. In der
westlichen Welt herrscht weithin die Meinung, allein die positivistische
Vernunft und die ihr zugehörigen Formen der Philosophie seien
universal. Aber von den tief religiösen Kulturen der Welt wird gerade
dieser Ausschluß des Göttlichen aus der Universalität der Vernunft als
Verstoß gegen ihre innersten Überzeugungen angesehen. Eine Vernunft, die
dem Göttlichen gegenüber taub ist und Religion in den Bereich der
Subkulturen abdrängt, ist unfähig zum Dialog der Kulturen. Dabei trägt,
wie ich zu zeigen versuchte, die moderne naturwissenschaftliche Vernunft
mit dem ihr innewohnenden platonischen Element eine Frage in sich, die
über sie und ihre methodischen Möglichkeiten hinausweist. Sie selber muß
die rationale Struktur der Materie wie die Korrespondenz zwischen
unserem Geist und den in der Natur waltenden rationalen Strukturen ganz
einfach als Gegebenheit annehmen, auf der ihr methodischer Weg beruht.
Aber die Frage, warum dies so ist, die besteht doch und muß von der
Naturwissenschaft weitergegeben werden an andere Ebenen und Weisen des
Denkens – an Philosophie und Theologie. Für die Philosophie und in
anderer Weise für die Theologie ist das Hören auf die großen Erfahrungen
und Einsichten der religiösen Traditionen der Menschheit, besonders
aber des christlichen Glaubens, eine Erkenntnisquelle, der sich zu
verweigern eine unzulässige Verengung unseres Hörens und Antwortens
wäre. Mir kommt da ein Wort des Sokrates an Phaidon in den Sinn. In den
vorangehenden Gesprächen hatte man viele falsche philosophische
Meinungen berührt, und nun sagt Sokrates: Es wäre wohl zu verstehen,
wenn einer aus Ärger über so viel Falsches sein übriges Leben lang alle
Reden über das Sein haßte und schmähte. Aber auf diese Weise würde er
der Wahrheit des Seienden verlustig gehen und einen sehr großen Schaden
erleiden.[13]
Der Westen ist seit langem von dieser Abneigung gegen die grundlegenden
Fragen seiner Vernunft bedroht und könnte damit einen großen Schaden
erleiden. Mut zur Weite der Vernunft, nicht Absage an ihre Größe – das
ist das Programm, mit dem eine dem biblischen Glauben verpflichtete
Theologie in den Disput der Gegenwart eintritt. „Nicht vernunftgemäß,
nicht mit dem Logos handeln ist dem Wesen Gottes zuwider“, hat Manuel
II. von seinem christlichen Gottesbild her zu seinem persischen
Gesprächspartner gesagt. In diesen großen Logos, in diese Weite der
Vernunft laden wir beim Dialog der Kulturen unsere Gesprächspartner ein.
Sie selber immer wieder zu finden, ist die große Aufgabe der
Universität.
[1]
Von den insgesamt 26 Gesprächsrunden (διάλεξις – Khoury übersetzt
„Controverse“) des Dialogs („Entretien“) hat Th. Khoury die 7.
„Controverse“ mit Anmerkungen und einer umfassenden Einleitung über die
Entstehung des Textes, die handschriftliche Überlieferung und die
Struktur des Dialogs sowie kurze Inhaltsangaben über die nicht edierten
„Controverses“ herausgegeben; dem griechischen Text ist eine
französische Übersetzung beigefügt: Manuel II Paléologue, Entretiens
avec un Musulman. 7e Controverse. Sources chrétiennes Nr.
115, Paris 1966. Inzwischen hat Karl Förstel im Corpus
Islamico-Christianum (Series Graeca. Schriftleitung A.Th. Khoury – R.
Glei) eine kommentierte griechisch-deutsche Textausgabe veröffentlicht:
Manuel II. Palaiologus, Dialoge mit einem Muslim. 3 Bde. Würzburg -
Altenberge 1993 – 1996. Bereits 1966 hatte E. Trapp den griechischen
Text – mit einer Einleitung versehen – als Band II. der Wiener
byzantinischen Studien herausgegeben. Ich zitiere im folgenden nach
Khoury.
[2]
Vgl. über Entstehung und Aufzeichnung des Dialogs Khoury S. 22 – 29;
ausführlich äußern sich dazu auch Förstel und Trapp in ihren Editionen.
[3]
Controverse VII 2c; bei Khoury S. 142/143; Förstel Bd. I, VII. Dialog
1.5 S. 240/241. Dieses Zitat ist in der muslimischen Welt leider als
Ausdruck meiner eigenen Position aufgefaßt worden und hat so
begreiflicherweise Empörung hervorgerufen. Ich hoffe, daß der Leser
meines Textes sofort erkennen kann, daß dieser Satz nicht meine eigene
Haltung dem Koran gegenüber ausdrückt, dem gegenüber ich die Ehrfurcht
empfinde, die dem heiligen Buch einer großen Religion gebührt. Bei der
Zitation des Texts von Kaiser Manuel II. ging es mir einzig darum, auf
den wesentlichen Zusammenhang zwischen Glaube und Vernunft hinzuführen.
In diesem Punkt stimme ich Manuel zu, ohne mir deshalb seine Polemik
zuzueignen.
[4] Controverse VII 3b - c; bei Khoury S. 144/145; Förstel Bd. I, VII. Dialog 1.6 S. 240 – 243.
[5]
Einzig um dieses Gedankens willen habe ich den zwischen Manuel und
seinem persischen Gesprächspartner geführten Dialog zitiert. Er gibt das
Thema der folgenden Überlegungen vor.
[6] Khoury, a.a.O. S. 144 Anm. 1.
[7]R.
Arnaldez, Grammaire et théologie chez Ibn Hazm de Cordoue. Paris 1956
S. 13; cf Khoury S. 144. Daß es in der spätmittelalterlichen Theologie
vergleichbare Positionen gibt, wird im weiteren Verlauf dieses Vortrags
gezeigt.
[8]
Für die viel diskutierte Auslegung der Dornbuschszene darf ich auf
meine „Einführung in das Christentum“ (München 1968) S. 84 – 102
verweisen. Ich denke, daß das dort Gesagte trotz der weitergegangenen
Diskussion nach wie vor sachgemäß ist.
[9]
Vgl. A. Schenker, L’Ecriture sainte subsiste en plusieurs formes
canoniques simultanées, in: L’interpretazione della Bibbia nella Chiesa.
Atti del Simposio promosso dalla Congregazione per la Dottrina della
Fede. Città del Vaticano 2001 S. 178 – 186.
[10] Ausführlicher habe ich mich dazu geäußert in meinem Buch „Der Geist der Liturgie. Eine Einführung.“ Freiburg 2000 S. 38 – 42.
[11]
Aus der umfänglichen Literatur zum Thema Enthellenisierung möchte ich
besonders nennen A. Grillmeier, Hellenisierung – Judaisierung des
Christentums als Deuteprinzipien der Geschichte des kirchlichen Dogmas,
in: ders., Mit ihm und in ihm. Christologische Forschungen und
Perspektiven. Freiburg 1975 S. 423 – 488.
[12]
Neu herausgegeben und kommentiert von Heino Sonnemans (Hrsg.): Joseph
Ratzinger – Benedikt XVI., Der Gott des Glaubens und der Gott der
Philosophen. Ein Beitrag zum Problem der theologia naturalis.
Johannes-Verlag Leutesdorf, 2. ergänzte Auflage 2005.
[13] 90 c – d. Vgl. zu diesem Text R. Guardini, Der Tod des Sokrates. Mainz – Paderborn 19875 S. 218 – 221.
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