Schlechte
Angewohnheiten sind zäh. Etwa die des deutschen Zeigefingers, sich bei
jeder Gelegenheit in die erhobene Position zu recken. Das zeigt die
gegenwärtige Diskussion des „Nationalen Aktionsplans ‚Wirtschaft und
Menschenrechte“. Unter der Federführung des Auswärtigen Amts werden
Regeln definiert, die deutschen Unternehmen beibringen sollen, was
„menschenrechtliche Verantwortung im Zeitalter einer global
verflochtenen Wirtschaft“ ist.
Anders ausgedrückt: Diplomaten (Rundum-Sorglos-Paket, unkündbar,
beste Altersversorgung) wollen Unternehmern (Konkurrenzdruck,
Überlebenskampf, Pleiterisiko) die Grenzen diktieren, die bei
Auslandsgeschäften über die jeweils geltenden lokalen Gesetze hinaus zu
beachten sind.
Das Leitmotiv solcher Initiativen: Deutschland war noch nie so gut
wie heute. Moralisch gesehen; in anderer Hinsicht waren wir schon
besser. Das stört aber keinen großen Geist, solange es moralisch
aufwärtsgeht. Ein Pastor als Präsident, eine Pastorentochter als
Kanzlerin, ein Außenministerium, dessen Diplomaten die Menschenrechte
anbeten – oder was sie dafür halten. Deutschland im 21. Jahrhundert: ein
post-religiöser Gottesstaat.
Das wirkt sich auch im Verhältnis der Länder zueinander aus. Bevor
Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel am Wochenende nach Teheran flog, ließ
er die Öffentlichkeit wissen, im Iran einen moralischen Dialog über
Abrüstung und Menschenrechte führen zu wollen.
Er werde „darauf
hinweisen, wie groß die Empörung gegenüber den mit Assad verbündeten
Kriegsparteien angesichts der schrecklichen Lage in Syrien inzwischen in
Deutschland ist“.
Nun sind die Zeiten, als nicht-europäische Länder sich vom weißen
Mann zurechtweisen ließen, lange vorüber. Bahram Ghasemi, Sprecher des
iranischen Außenministeriums, riet den deutschen Diplomaten, wenn ihnen
an einer engeren Zusammenarbeit gelegen sei, sollten sie vorsichtiger
und besonnener mit ihren Äußerungen sein. In der deutschen Heimat hat
Gabriel mit seiner klaren Kante Moralpunkte gemacht; der Preis war das
geplante Treffen mit dem iranischen Parlamentspräsidenten Ali
Laridschani. Der Gastgeber ließ sich entschuldigen. Der Minister wird
wissen, was ihm – und Deutschland – wichtiger ist.
Ein ungern eingestandenes Erbe der Kolonialzeit ist, dass der Westen
die strengen Regeln des Völkerrechts bis heute nur auf die engere
europäische und angelsächsische Staatenwelt anwendet. Schon der Balkan
(Bombardierung Serbiens 1999, Sezession des Kosovo) bildet einen
Graubereich. Das Vorgehen in Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien und
anderen Ländern der ehemaligen „Dritten Welt“ trägt die selbstherrlichen
Züge der Kolonialzeit. Daran haben auch Völkerbund und Vereinte
Nationen allenfalls in der Form, nicht jedoch im Kern etwas geändert.
Wenn es in der europäischen Geschichte eine Lektion gab, die gelernt
und lange Zeit gelebt wurde, dann die von 1648. Nach Jahrzehnten
grausamer Kriege im Namen der wahren Konfession, in Wirklichkeit jedoch
um politischer und dynastischer Interessen willen, akzeptierte der
Kontinent ein System, das jedenfalls die Religion als Kriegsgrund
eliminierte.
Gut 350 Jahre später gilt die nationalstaatliche „westfälische
Ordnung“ dem Zeitgeist als gestrig und überwunden. In der Tat spielen
konfessionelle oder religiöse Spannungen auf dem europäischen Kontinent
keine Rolle mehr (jenseits des Mittelmeers sieht das schon anders aus).
Doch von Neuem legen die europäischen (westlichen Staaten) ihrer Politik
weltanschauliche Kriterien mit einem quasi-religiösen, „universalen“
Geltungsanspruch zu Grunde. Nur beziehen die sich nicht mehr auf die
Gottesdienst-Ordnung, sondern auf die Ordnung des Staats und der
Gesellschaft im Namen von Demokratie, Freiheit, Menschenrechten und
Moral.
Die entsprechenden Vorstellungen werden durchaus drastisch umgesetzt:
angefangen mit Medienpropaganda und dem Under-cover-Einsatz von
Nichtregierungsorganisationen bis hin zu Sanktionen und militärischen
Maßnahmen. Wenn Russland heute im Syrienkonflikt an der Seite der formal
legitimen Regierung steht und auf die westfälischen Grundsätze pocht,
spielen natürlich auch machtpolitische russische Interessen eine Rolle.
Für die westlichen Staaten, die in Syrien irgendwelche „gemäßigten“
Rebellen unterstützen, gilt das gleiche. Ihr Argument ist, daß die
Rebellen ihre Macht moralischer, humaner oder anderweitig akzeptabler
ausüben würden als die Regierung in Damaskus. Der vernunftbegabte Mensch
darf das mit Fug und Recht bezweifeln. Zumal die Gegenpartei, also die
Regierung, von sich das Gleiche behaupten kann. „Beweise“ liefern beide
Seiten nach Bedarf.
Schon 1648 wußten die Menschen: Ein Glaubenskrieg kann nicht
entschieden werden. Ebenso wenig ein Krieg um das Schöne, Wahre, Gute
und Moralische. Ein solcher Krieg endet erst durch das physische
Verschwinden einer der beiden Seiten. Er ist so sinn- und aussichtslos
wie ein Krieg um den Bart des Propheten. Dann doch besser zurück zur
guten, alten westfälischen Ordnung. Den Ansprüchen der Moral ist auch
Genüge getan, wenn jeder sie für sich befolgt. Thomas Fasbender
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