Biller:
Es ist das einzige Volk, das seine Opfer betrauert. Immer wenn ich am Holocaust-Mahnmal in
Berlin-Mitte stehe, denke ich aber, das ist gar kein Mahnmal, das ist ein Triumphbogen. Und
dann gibt es derzeit diesen staatlich verordneten Antifaschismus. Wenn du den ganzen Tag den
Leuten eintrichterst: Wir waren Nazis, und ihr dürft keine sein ... also, wenn ich jetzt 15
und nicht ich wäre, hätte ich die größte Lust, kurz Nazi zu werden.
ZEIT:
Sie spielen auf die deutsche Willkommenskultur und die Flüchtlinge an?
Biller:
Ich frage mich, was mit dem Mitte-links-Mainstream los ist. Wenn die das F-Wort hören und
noch gar nicht wissen, was du sagen willst, dann drehen die schon durch. Die
Mitte-links-Leute wollen der Welt zeigen: Wir sind nicht die Nazis, für die ihr uns haltet.
Das ist auch in Ordnung, es ist aber ein bisschen fanatisch. Das kann man ja verstehen: Da
man nie zum selbstständigen Denken und Handeln angeleitet wurde, wird es immer besonders
emotional, wenn es doch mal ausnahmsweise versucht wird. Ich frage mich manchmal, wie die
Deutschen reagieren würden, wenn Millionen Juden auf der Flucht wären und nach Deutschland
kämen. Ob dann auch die ganzen Teddys und Lufballons an den Bahnhöfen verteilt würden? Es
kommen viele Menschen aus Ländern, die sich seit Jahrzehnten im Krieg mit Israel befinden.
Ich habe das Gefühl, dass man Partei ergreift, ohne sich dessen bewusst zu sein. Da sind ja
Leute dabei, die in der dritten, vierten Generation gehirngewaschen sind. Die denken, dass
Juden kleine Kinder essen.
ZEIT:
Das war jetzt vielleicht etwas zugespitzt und verallgemeinernd gesagt?
Biller:
Man muss Menschen, die vor einem Krieg oder vor einer Diktatur fliehen, helfen. Punkt.
Aber man ignoriert das Antisemitismus-Problem. Ich will nicht wissen, in wie vielen
Wohnzimmern von Wedding und Neukölln jeden Abend der Hisbollah-Sender Al-Manar läuft. In
Berlin werden immer wieder jüdische Fußballmannschaften von arabischen und sogar türkischen
antisemitisch beschimpft und verprügelt. Aber das interessiert den vergangenheitsbewegten
Deutschen natürlich nicht. Und jetzt kommt doch Freud ins Spiel: Es gibt offenbar eine
unbewusste, klammheimliche Solidarität mit den Gegnern Israels. Die Deutschen vergessen:
Zuerst trifft es immer die Juden, aber dann kommt ihr auch dran.
ZEIT:
Die Deutschen scheinen bei Ihnen ein unerschöpfliches Thema zu sein.
Biller:
Ja, und wissen Sie, warum? Weil ich mit meiner Literatur zur deutschen Literatur gehören
möchte – es ist wahrscheinlich das alte Heinrich-Heine-Drama – und hoffentlich auch gehöre,
ich stehe ja zum Glück nicht außerhalb. Ich will meine Welt teilen. Und ich will, dass die
Deutschen ihre Welt mit mir teilen. Na ja, vielleicht nicht immer. Allein wenn ich sehe, wie
man hier mit den Kindern umgeht! Preußen ist ja nicht totzukriegen. Wenn in Prenzlauer Berg
ein Kind hinfällt, bleibt die genervte Mutter bloß stehen und sagt: "Stell dich nicht so
an!" Eine russische Mutter rennt zu ihrem Kind, reißt es hoch und bedeckt es mit Küssen.
ZEIT:
Die Friedfertigkeit der Russen ist besonders berüchtigt.
Biller:
Okay, vielleicht müssen wir ein anderes Volk als Gegenbeispiel nehmen. Ich wollte eh auf
etwas anderes hinaus: Die Deutschen haben ihre Traumata bis heute immer weitervererbt, das
vergessen sie, verdrängen sie, was auch immer. Traumata schreiben sich aber ein, seelisch
und, wie man inzwischen weiß, sogar genetisch. Deshalb ist es ja so wichtig, über Biografien
zu sprechen, wie ich es in meinem Buch versuche. Das hilft, sich selbst zu verstehen,
vielleicht sogar den einen oder anderen Defekt loszuwerden. Klingt schon wieder nach Freud,
oder? Die Juden haben es mit ihren Biografien übrigens einfacher. Sie erinnern sich an ihre
Vorfahren, an ihre Geschichte, das tun sie seit dem babylonischen Exil. Weil es über lange
Zeit kein Land gab, das sie bewohnten, war die Erinnerung an die Vorfahren eben ihr Land.
Die Deutschen haben ein Land, aber keine Erinnerung an ihre Vorfahren. Woran soll sich der
Deutsche auch erinnern? An eine gewonnene Fußball-WM vielleicht. Maxim Biller
Ja, woran wohl? Billers
jüdisches, durchaus angemessenes Loblied auf die Juden, das er an
die vorausgegangenen klugen Baobachtungen knüpft, mündet in eine
realistische Feststellung über die Deutschen, die dann aber im
letzten Augenblick in eine verächtliche, gehässige, bespöttelnde, abwegige, herabsetzende Note
umschlägt: so als gäbe es in der deutschen Geschichte nichts Erinnernswerteres als gewonnene
Fußball-WMs, so als erinnere man sich nicht an gewonnene
Fußball-WMs, so als begrüßte und unterstützte Biller es, wenn
sich die Deutschen an ihre Vorfahren erinnerten.
Was ja von
jedermann sofort als voll nazi verächtlich gemacht würde, sobald
es dazu käme. Biller ist von allen deutschen Juden unserer Zeit
der scharfsinnigste und realistischste, aber auch der herzloseste, gemeinste
und giftigste. Einer, der sein Gift so akkurat gezielt injiziert,
dass kleinste Dosen ausreichen, um zu lähmen. Er selbst sagt
spöttisch, er sei schließlich nicht Deutschlands Therapeut, womit
er wiederum recht hat: das Problem ist, dass ihm kein
nichtjüdischer Deutscher gewachsen ist, dass der einfältige
deutsche Michel an Billers Lippen hängt, solange Biller brillant
Beobachtungen aneinanderreiht, die nicht nur zutreffen, sondern auch noch zueinander gehören (und die im derzeitigen Klima kein Goj
sich trauen würde zu verflechten) und der deutsche Michel ihm nichts entgegenzusetzen wagt bzw.
einfällt, sobald Biller bei der herabsetzenden Schlussnote
angekommen ist, bei der er letztlich immer ankommt.
Nach diesem Muster laufen alle Interviews mit
Biller ab, die ich bisher gelesen habe. Es ist auf höherem Niveau
dieselbe Methode, mit der schon Reich-Ranicki über Jahrzehnte
Erfolg hatte. Der Unterschied: Rrreich-Rrranicki war nur ein
polternder vielbelesener Kritiker, der zwar gescheit Literatur
sezieren konnte, aber selber nichts zustande bekam, Biller dagegen ist
viel subtiler und scharfsinniger, hat eine weit bessere Witterung
und Intuition (ähnlich wie Gert Postel, der geniale Postbote) und
ist anscheinend auch ein großer Könner als Schriftsteller.
Billers interessante Bezugnahme
auf die sogenannte Epigenetik (Spektrum der Wissenschaft)
ist übrigens auch kulturanthropologisch bemerkenswert, insofern es
sich hier im weitesten Sinne um ein Element vererbter Erinnerung
handelt (eine winzige Prise Lamarckismus sozusagen). In diesem Zusammenhang sind drei Dinge interessant:
1. dass Sigmund Freud (und besonders sein Schüler Sándor Ferenczi
auch
pränatale Erinnerungen in Betracht nahm, was erst einmal so unterirdisch
unwissenschaftlich klang und klingt, dass es meines Wissens in
der psychoanalytischen Literatur so gut wie immer diskret
übergangen wurde, zumindest in den Jahren, als die Psychoanalyse
ihre zweite Beliebtheitswelle feierte: in den 70-ern und 80-ern.
Auch weil es damals keine
Forschung zur Epigenetik gab und bisher offenbar keine Forschung zu irgendeiner
irgendwiegearteten mit matrilinearen Erfahrungen korrelierten
Stoffübertragung über die Placenta, statt über die Keimbahn.
2. dass man bei den Juden nur
dann als Jude gilt, wenn man eine jüdische Mutter hat (also via
Placenta eine kontinuierliche materielle Verbindung zum Vorherigen besteht).
3. dass Ranks Geburtstraumatheorie - die ja perinatale Erinnerungen zum Inhalt hat - zwar zu den kühnen, einzelgängerischen Hypothesen gehört, die bei Wissenschaftlern, Psychoanalytikern und einer breiten Öffentlichkeit immer noch populär sind, aber einem ausgesprochen abiologischen Denken entspricht. Ich möchte beinahe sagen, dass nur ein Jude sich eine Theorie ausdenken konnte, die bei einem völlig natürlichen Vorgang wie der Geburt ein Trauma postuliert, aber bei einem völlig kultürlichen Vorgang wie der Beschneidung keinen Anlass sieht, ein Trauma zu postulieren.
3. dass Ranks Geburtstraumatheorie - die ja perinatale Erinnerungen zum Inhalt hat - zwar zu den kühnen, einzelgängerischen Hypothesen gehört, die bei Wissenschaftlern, Psychoanalytikern und einer breiten Öffentlichkeit immer noch populär sind, aber einem ausgesprochen abiologischen Denken entspricht. Ich möchte beinahe sagen, dass nur ein Jude sich eine Theorie ausdenken konnte, die bei einem völlig natürlichen Vorgang wie der Geburt ein Trauma postuliert, aber bei einem völlig kultürlichen Vorgang wie der Beschneidung keinen Anlass sieht, ein Trauma zu postulieren.
4.
dass nichts wichtiger für
Juden ist als Erinnerung: wenn alle anderen Völker ihre eigenen
Wurzeln kappen (besonders das deutsche), haften gerade auch
säkularisierte Juden an ihrer fast 4 Jahrtausende alten
Geschichte und wir sollten ihrem Vorbild folgen. Es gab bereits Juden, als Römer und Toskaner noch Etrusker
waren. Aber die
Erinnerung an die Etrusker verschwand fast völlig, obwohl die
Italiener fast
so geschichtsbewusst sind wie die Juden.
Was führte dazu, dass die
Evolution Traumavererbung begünstigte? Sind Traumata nicht nur
schwächend, sondern unter gewissen Umständen auch stärkend? Dem
Überleben der Sippe förderlich, auch wenn sie fatal für viele
Individuen sind? Übersehen wir diese Umstände, weil unsere
christlich-demokratisch-pazifistische Brille verhindert, dass
dieses Potential erkannt werden kann, geschweigedenn zur
Entfaltung kommen kann? Gibt es außer der Epigenetik auch
Erinnerungen, die nicht über die Keimbahn, sondern über die
Placenta weitergegeben werden?
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