Stationen

Mittwoch, 4. Januar 2017

Maxim Biller hat zu 99% recht

Biller: Es ist das einzige Volk, das seine Opfer betrauert. Immer wenn ich am Holocaust-Mahnmal in Berlin-Mitte stehe, denke ich aber, das ist gar kein Mahnmal, das ist ein Triumphbogen. Und dann gibt es derzeit diesen staatlich verordneten Antifaschismus. Wenn du den ganzen Tag den Leuten eintrichterst: Wir waren Nazis, und ihr dürft keine sein ... also, wenn ich jetzt 15 und nicht ich wäre, hätte ich die größte Lust, kurz Nazi zu werden.
ZEIT: Sie spielen auf die deutsche Willkommenskultur und die Flüchtlinge an?
Biller: Ich frage mich, was mit dem Mitte-links-Mainstream los ist. Wenn die das F-Wort hören und noch gar nicht wissen, was du sagen willst, dann drehen die schon durch. Die Mitte-links-Leute wollen der Welt zeigen: Wir sind nicht die Nazis, für die ihr uns haltet. Das ist auch in Ordnung, es ist aber ein bisschen fanatisch. Das kann man ja verstehen: Da man nie zum selbstständigen Denken und Handeln angeleitet wurde, wird es immer besonders emotional, wenn es doch mal ausnahmsweise versucht wird. Ich frage mich manchmal, wie die Deutschen reagieren würden, wenn Millionen Juden auf der Flucht wären und nach Deutschland kämen. Ob dann auch die ganzen Teddys und Lufballons an den Bahnhöfen verteilt würden? Es kommen viele Menschen aus Ländern, die sich seit Jahrzehnten im Krieg mit Israel befinden. Ich habe das Gefühl, dass man Partei ergreift, ohne sich dessen bewusst zu sein. Da sind ja Leute dabei, die in der dritten, vierten Generation gehirngewaschen sind. Die denken, dass Juden kleine Kinder essen.
ZEIT: Das war jetzt vielleicht etwas zugespitzt und verallgemeinernd gesagt?
Biller: Man muss Menschen, die vor einem Krieg oder vor einer Diktatur fliehen, helfen. Punkt. Aber man ignoriert das Antisemitismus-Problem. Ich will nicht wissen, in wie vielen Wohnzimmern von Wedding und Neukölln jeden Abend der Hisbollah-Sender Al-Manar läuft. In Berlin werden immer wieder jüdische Fußballmannschaften von arabischen und sogar türkischen antisemitisch beschimpft und verprügelt. Aber das interessiert den vergangenheitsbewegten Deutschen natürlich nicht. Und jetzt kommt doch Freud ins Spiel: Es gibt offenbar eine unbewusste, klammheimliche Solidarität mit den Gegnern Israels. Die Deutschen vergessen: Zuerst trifft es immer die Juden, aber dann kommt ihr auch dran.
ZEIT: Die Deutschen scheinen bei Ihnen ein unerschöpfliches Thema zu sein.
Biller: Ja, und wissen Sie, warum? Weil ich mit meiner Literatur zur deutschen Literatur gehören möchte – es ist wahrscheinlich das alte Heinrich-Heine-Drama – und hoffentlich auch gehöre, ich stehe ja zum Glück nicht außerhalb. Ich will meine Welt teilen. Und ich will, dass die Deutschen ihre Welt mit mir teilen. Na ja, vielleicht nicht immer. Allein wenn ich sehe, wie man hier mit den Kindern umgeht! Preußen ist ja nicht totzukriegen. Wenn in Prenzlauer Berg ein Kind hinfällt, bleibt die genervte Mutter bloß stehen und sagt: "Stell dich nicht so an!" Eine russische Mutter rennt zu ihrem Kind, reißt es hoch und bedeckt es mit Küssen.
ZEIT: Die Friedfertigkeit der Russen ist besonders berüchtigt.
Biller: Okay, vielleicht müssen wir ein anderes Volk als Gegenbeispiel nehmen. Ich wollte eh auf etwas anderes hinaus: Die Deutschen haben ihre Traumata bis heute immer weitervererbt, das vergessen sie, verdrängen sie, was auch immer. Traumata schreiben sich aber ein, seelisch und, wie man inzwischen weiß, sogar genetisch. Deshalb ist es ja so wichtig, über Biografien zu sprechen, wie ich es in meinem Buch versuche. Das hilft, sich selbst zu verstehen, vielleicht sogar den einen oder anderen Defekt loszuwerden. Klingt schon wieder nach Freud, oder? Die Juden haben es mit ihren Biografien übrigens einfacher. Sie erinnern sich an ihre Vorfahren, an ihre Geschichte, das tun sie seit dem babylonischen Exil. Weil es über lange Zeit kein Land gab, das sie bewohnten, war die Erinnerung an die Vorfahren eben ihr Land. Die Deutschen haben ein Land, aber keine Erinnerung an ihre Vorfahren. Woran soll sich der Deutsche auch erinnern? An eine gewonnene Fußball-WM vielleicht.  Maxim Biller








Ja, woran wohl? Billers jüdisches, durchaus angemessenes Loblied auf die Juden, das er an die vorausgegangenen klugen Baobachtungen knüpft, mündet in eine realistische Feststellung über die Deutschen, die dann aber im letzten Augenblick in eine verächtliche, gehässige, bespöttelnde, abwegige, herabsetzende Note umschlägt: so als gäbe es in der deutschen Geschichte nichts Erinnernswerteres als gewonnene Fußball-WMs, so als erinnere man sich nicht an gewonnene Fußball-WMs, so als begrüßte und unterstützte Biller es, wenn sich die Deutschen an ihre Vorfahren erinnerten.
Was ja von jedermann sofort als voll nazi verächtlich gemacht würde, sobald es dazu käme. Biller ist von allen deutschen Juden unserer Zeit der scharfsinnigste und realistischste, aber auch der herzloseste, gemeinste und giftigste. Einer, der sein Gift so akkurat gezielt injiziert, dass kleinste Dosen ausreichen, um zu lähmen. Er selbst sagt spöttisch, er sei schließlich nicht Deutschlands Therapeut, womit er wiederum recht hat: das Problem ist, dass ihm kein nichtjüdischer Deutscher gewachsen ist, dass der einfältige deutsche Michel an Billers Lippen hängt, solange Biller brillant Beobachtungen aneinanderreiht, die nicht nur zutreffen, sondern auch noch zueinander gehören (und die im derzeitigen Klima kein Goj sich trauen würde zu verflechten) und der deutsche Michel ihm nichts entgegenzusetzen wagt bzw. einfällt, sobald Biller bei der herabsetzenden Schlussnote angekommen ist, bei der er letztlich immer ankommt. 
Nach diesem Muster laufen alle Interviews mit Biller ab, die ich bisher gelesen habe. Es ist auf höherem Niveau dieselbe Methode, mit der schon Reich-Ranicki über Jahrzehnte Erfolg hatte. Der Unterschied: Rrreich-Rrranicki war nur ein polternder vielbelesener Kritiker, der zwar gescheit Literatur sezieren konnte, aber selber nichts zustande bekam, Biller dagegen ist viel subtiler und scharfsinniger, hat eine weit bessere Witterung und Intuition (ähnlich wie Gert Postel, der geniale Postbote) und ist anscheinend auch ein großer Könner als Schriftsteller.

Billers interessante Bezugnahme auf die sogenannte Epigenetik (Spektrum der Wissenschaft) ist übrigens auch kulturanthropologisch bemerkenswert, insofern es sich hier im weitesten Sinne um ein Element vererbter Erinnerung handelt (eine winzige Prise Lamarckismus sozusagen). In diesem Zusammenhang sind drei Dinge interessant:
1. dass Sigmund Freud (und besonders sein Schüler Sándor Ferenczi auch pränatale Erinnerungen in Betracht nahm, was erst einmal so unterirdisch unwissenschaftlich klang und klingt, dass es meines Wissens in der psychoanalytischen Literatur so gut wie immer diskret übergangen wurde, zumindest in den Jahren, als die Psychoanalyse ihre zweite Beliebtheitswelle feierte: in den 70-ern und 80-ern.
Auch weil es damals keine Forschung zur Epigenetik gab und bisher offenbar keine Forschung zu irgendeiner irgendwiegearteten mit matrilinearen Erfahrungen korrelierten Stoffübertragung über die Placenta, statt über die Keimbahn.
2. dass man bei den Juden nur dann als Jude gilt, wenn man eine jüdische Mutter hat (also via Placenta eine kontinuierliche materielle Verbindung zum Vorherigen besteht).
3. dass Ranks Geburtstraumatheorie - die ja perinatale Erinnerungen zum Inhalt hat - zwar zu den kühnen, einzelgängerischen Hypothesen gehört, die bei Wissenschaftlern, Psychoanalytikern und einer breiten Öffentlichkeit immer noch populär sind, aber einem ausgesprochen abiologischen Denken entspricht. Ich möchte beinahe sagen, dass nur ein Jude sich eine Theorie ausdenken konnte, die bei einem völlig natürlichen Vorgang wie der Geburt ein Trauma postuliert, aber bei einem völlig kultürlichen Vorgang wie der Beschneidung keinen Anlass sieht, ein Trauma zu postulieren.
4. dass nichts wichtiger für Juden ist als Erinnerung: wenn alle anderen Völker ihre eigenen Wurzeln kappen (besonders das deutsche), haften gerade auch säkularisierte Juden an ihrer fast 4 Jahrtausende alten Geschichte und wir sollten ihrem Vorbild folgen. Es gab bereits Juden, als Römer und Toskaner noch Etrusker waren. Aber die Erinnerung an die Etrusker verschwand fast völlig, obwohl die Italiener fast so geschichtsbewusst sind wie die Juden.

Was führte dazu, dass die Evolution Traumavererbung begünstigte? Sind Traumata nicht nur schwächend, sondern unter gewissen Umständen auch stärkend? Dem Überleben der Sippe förderlich, auch wenn sie fatal für viele Individuen sind? Übersehen wir diese Umstände, weil unsere christlich-demokratisch-pazifistische Brille verhindert, dass dieses Potential erkannt werden kann, geschweigedenn zur Entfaltung kommen kann? Gibt es außer der Epigenetik auch Erinnerungen, die nicht über die Keimbahn, sondern über die Placenta weitergegeben werden?

Isabelle Mansuy - Epigenetik/Hirnforschung

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.